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Am
Anfang bewegt sich die Kamera tonlos durch die verwaiste Wohnung
der Abisag Tüllmann. Wenige Tage zuvor war sie gestorben. Die Kamerabilder
fangen ein, dass diese Fotografin aus Passion bis fast ganz zuletzt weiter
gearbeitet hat. Die Wohnung in der Oberlindau, Frankfurt am Main, in der Tüllmann
so viele Jahre gewohnt hat, ist Arbeits- und Lebensraum zugleich: überall die
flachen, orangenen Agfa-Schachteln, Dia- und Bücherstapel, vertrocknete Blumen, Teekanne
und Tassen, Aschenbecher, Dunkelkammer und Küche.
Claudia
von Alemann, die über Jahrzehnte mit Abisag Tüllmann eng befreundet war, hat
einen sehr persönlichen Film über die verstorbene Freundin gemacht, die eine
der bedeutendsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts war. Über 500 von Tüllmanns Fotografien (die meisten schwarz-weiß) sind in diesem Film zu sehen: eindrucksvolle Dokumente einer außerordentlichen
Begabung zur genauen und einfühlsamen Beobachtung, zur Fähigkeit den
entscheidenden Moment zu erhaschen, den Augen-Blick der nicht nur offenbart,
wie im Interview in Alemanns Film eine andere Freundin Tüllmanns sagt, „was
ist, sondern auch das was wird“. Tüllmanns Fotografien, körnig oft und zwischen
Schärfe und Unschärfe changierend, erzählen Geschichte und Geschichten von
Menschen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, im Umbruch, im Alltag, auf der
Suche, unter Druck, umhüllt von Nebel und Dampf, umstellt von der schnell
hingestellten Nachkriegsarchitektur, jubelnd, lachend, nachdenklich, weinend, tobend, demonstrierend, sich verkriechend.
Sie findet einen Blick, der das Offensichtliche kombiniert mit dem Eigentümlichen,
Momentanen, Unerwarteten, mit den Brüchen und Unwägbarkeiten.
Dabei bleibt
Abisag Tüllmann als Fotografin, wie Barbara Klemm, die berühmte Kollegin und
Freundin, im Film beschreibt, immer im Hintergrund, ob sie Theaterprojekte,
Studentenversammlungen, Obdachlose oder algerische Bauern fotografiert. Sie
inszeniert kein Geschehen, baut nichts auf oder um, stellt nicht ihre eigenen
Ideen (weder die ästhetischen noch die politischen) ins Zentrum, sondern die
Aufmerksamkeit für den Moment, der das noch nicht Gewesene, noch nicht Gesagte,
noch nicht Gedachte enthält. Das ist durchaus auch ein ethisches Programm, so
wird mir beim Zusehen deutlich, eine Vor-Sicht gegenüber den Wahransprüchen der
Reden und Texte, die die Wirklichkeit nur zu oft auf eine, auf die richtige Sichtweise festschreiben
wollen. Gegen das analytische Vorgehen der Wortproduzenten setzt diese Form der
Dokumentarfotografie auf das subtile Zum-Vorschein-bringen des Unwägbaren und
Unaussprechlichen aus dem Schwarz der Dunkelkammer. In der Ecke des Raumes, am
Rande der Demonstration, im Frühnebel eines Arbeitstages entwickeln sich
interessantere Szenen jenseits der großen Gesten und symbolischen Inszenierungen.
Claudia
von Alemanns Film erhielt keine Zuschüsse von Fernsehanstalten, war vielmehr
angewiesen auf Filmfördermittel des Landes NRW und Hessens sowie der Abisag Tüllmann-Stiftung.
Die bpk Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte der Stiftung Preußischer
Kulturbesitz, die im Besitz des fotografischen Nachlasses von Abisag Tüllmann
ist, gestattete die Verwendung der Fotos ohne Honorar. Der – vielleicht
unfreiwillige ? – Verzicht auf Fernsehgelder erweist sich für diesen Film als ein Glück. So
konnte von Alemann die Fotos zeigen, ohne
Zoom oder Schwenks zu verwenden (wie sie von einer Fernsehredaktion zweifellos eingefordert worden wären), ohne also zwanghaft die Stille und den
Stillstand, den die Fotografien erzeugen, durch filmische Mittel in Bewegung zu
versetzen. Der Zuschauerin werden schlicht diese großartigen Fotos gezeigt,
statt durch den Blick der Regisseurin Motive hervorzuheben oder zum
Verschwinden zu bringen. Alemann hat den Mut, an dieser Stelle auf die Mittel
des Films zu verzichten, die sie an anderer Stelle desto gelungener einzusetzen
weiß: bei der Montage der Fotos mit Filmszenen aus zeitgenössischen Filmen
befreundeter Regisseure wie Carola Benninghausen, Alexander Kluge oder Ulrich Schamoni, bei den Interviews mit Freundinnen und Freunden Abisag Tüllmanns,
den langsamen und geduldigen Kamerafahrten durch Räume, Orte und Landschaften
auf den Spuren der verstorbenen Freundin.
Die
Geschichte Abisag Tüllmanns beginnt 1935 in Nazi-Deutschland. Ihre Mutter kann
den geforderten Arier-Nachweis nicht erbringen, gilt als Halbjüdin. Der Vater verliert sein
Unternehmen, muss als Zwangsarbeiter arbeiten. Die Familie verliert sich; der
schwer kranke Vater kann Mutter und Tochter nach Kriegsende nicht mehr finden
und stirbt, ohne sie wiederzusehen. Alemann spürt dieser Kindheitsgeschichte
nach, ohne sie aufdecken zu können. Thüringsche Fachwerkidyllen der Gegenwart
zeigen nicht, was sich 1945 hier abgespielt haben könnte. Abisag Tüllmann
studierte einige Semester Innenarchitektur, entdeckte dann ihre Leidenschaft für
die Fotografie, zog nach Frankfurt am Main, machte ein Volontariat bei einem
Fotografen und begann dann für die FAZ, die Frankfurter Rundschau, später auch
den SPIEGEL oder den STERN zu arbeiten. Sie lernte Claus Peymann kennen, wurde
zu einer der bedeutendsten Theaterfotografinnen ihrer Zeit. Sie interessierte
sich über viele Jahre für Algerien und Israel, wo sie auch bei zahlreichen
Besuchen Fotografien anfertigte. Einen wichtigen Bildband erstellte sie über
eine Reise nach Namibia, das ehemalige Rhodesien. Seit 1961 selbstständig tätig
war Tüllmann Begleiterin der 68er Studentenbewegung.
Alemanns
Film zeigt die Karriere Tüllmanns, spiegelt den tiefen Eindruck wieder, den
diese ganz offenbar auch zur Freundschaft außerordentlich begabte Frau bei denen hinterließ, mit denen sie in Kontakt kam. In jenen 60er und 7oer Jahren
arbeiteten und lebten eine Reihe bedeutender Fotografinnen, Filmemacherinnen,
Schauspielerinnen, Autorinnen und Philosophinnen gleichzeitig in Frankfurt am
Main, diskutierten miteinander, unterstützten einander und gründeten in diesem
Umfeld beispielsweise den Frankfurter Weiberrat. Es wird auch hier wieder einmal
deutlich, dass eine Frau, um ihr Begehren verwirklichen zu können, auf die
Unterstützung und Autorität anderer Frauen angewiesen ist. Müllmanns älteste Freundin
liest aus einem Brief vor, den die junge Abisag ihr schrieb, in dem sie darüber
reflektiert, dass ein Leben als Ehefrau und Mutter ihrer Entwickung als
Fotografin entgegenstehen würde.
Claudia
von Alemanns Hommage an ihre Freundin Abisag Tüllmann ist ein wunderbarer Film über
eine großartige Fotografin, aber auch ein großer Film über die Freundschaft,
gerade auch die Freundschaft zwischen Frauen.
Am
8. November wird der Film noch einmal von der Kinothek Asta Nielsen im Kino mal
sehn in Frankfurt gezeigt.
Er
kann dort auch als DVD erworben werden.
Links:
Kino mal sehn, Frankfurt a.M:
Bildband:
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