Auf Spon gibt es eine Fotostrecke mit Flüchtlingen. In den Texten darunter formulieren sie, was ihnen in Deutschland, an den Deutschen auffällt. Das ist interessant. Weil es "uns" einen Spiegel vorhält. Aber auch, weil vielleicht an einigen der Texte deutlich wird, wie unterschiedlich Kulturen ausprägen, was als angenehm oder unangenehm, als angemessenes oder unangemessenes Verhalten wahrgenommen wird. Selbstverständlich sind es Momentaufnahmen, versammeln sich hier Klischees und kann im Einzelfall immer noch alles ganz anders sein. Dennoch sind solche Wahrnehmung spannend, weil sie dabei helfen, die Probleme, die durch Zuwanderung entstehen können, jenseits von Rechtsfragen und aufgepeitschten Debatten, jenseits übersteigerter Ängste und schriller Töne zu verstehen. Das Eigene und das Fremde nicht als "gut" oder "böse" zu bewerten, aber durchaus auch zu erkennen, warum es nachvollziehbar sein kann, auf dem "Eigenen" zu beharren und es bewahren zu wollen, warum "Multikulti" nicht immer und für jede/n als Bereicherung erscheint und dass dieses Empfinden durchaus wechselseitig ist (und nicht schlimm.)
Ayham Askar aus Syrien zum Beispiel beklagt, dass die Nachbarn in Deutschland kaum Verbindung zueinander hätten und sich bloß freundlich grüßten. Albert Addai aus Ghana vermisst das Tanzen und Singen auf den Straßen. Shahrbanoo Ganavati aus dem Iran stellt fest, dass man für alles einen Prüfungsnachweis braucht. Faten Dukhen vermisst Geschäfte, die auch um Mitternacht noch offen sind. Auch Sajjad Ebadi aus dem Iran findet es schade, dass die Straßen nachts so leer sind. Farah Farho zeigt sich überrascht darüber, dass ältere Menschen zum Arzt alleine gehen müssen, unbegleitet durch Töchter oder Söhne.
Während ich das lese, bemerke ich, dass ich vieles, was die Zuwanderer als unangenehm beschreiben, besonders schätze: Dass meine Nachbarn freundlich sind, aber auf Distanz halten, dass die Nachtruhe weitgehend gewahrt wird, dass Berufe geschützt sind und ich mich auf bestimmte Qualifikationen verlassen kann, dass meine Eltern alleine zum Arzt/zur Ärztin gehen, solange ihnen das möglich ist. Ich schätze es, keiner sozialen Kontrolle durch Nachbarn und Verwandte zu unterliegen, Ruhe zu haben, nicht - wie ich es empfinde - zwanghaft "mitfeiern" zu müssen, wenn ich lieber allein sein und ein Buch lesen möchte, dass meine Eltern auch gegenüber ihren Kindern ihre Privatsphäre schätzen und umgekehrt die unsere achten (wozu z.B. auch Arztbesuche gehören können). Ich mag Distanz, Ruhe, fühle mich durch - vor allem körperliche - Nähe bedrängt, will mich nicht offenbaren, finde, dass auch familiäre Bindungen nicht dazu verpflichten oder berechtigen, in die Intimsphäre der anderen einzudringen. Was manche Zuwanderer als Kälte erfahren, empfinde ich als Schutzraum, den ich nicht preisgeben will.
Als wir türkische Gäste beherbergten, fotografierten sie, wie Deutsche am Zebrastreifen und an roten Ampeln tatsächlich anhalten. Sie waren erstaunt, dass Termine pünktlich eingehalten wurden und fanden es - glaube ich - nicht gerade amüsant, dass Deutsche immer gleich "zur Sache" kommen, ohne vorher durch freundliches Palaver erst einmal eine gute Stimmung herzustellen. Ich dagegen fühlte mich im mediterranen Raum als Gast oft "überbetreut" und manchmal sogar genötigt: Immer kümmern sich alle um alles, wer mal allein sein will oder etwas für sich erledigen, gilt als Problemfall, wirkt verstört oder unzufrieden, kritisiert durch Abweichlertum die Gastgeber.
Es ist schwierig, im Alltag diese unterschiedlichen Erwartungen unter einen Hut zu bringen. Deutsche aus dem "alternativen" grün-rot-roten Milieu neigen dazu, das "Andere" erst einmal als exotisch, schillernd und erstrebenswert wahrzunehmen und sich den Blick der Anderen auf sich selbst anzueignen. Dann gilt es, Distanziertheit und Kälte zu überwinden, sich "einzulassen", locker zu machen und mitzufeiern.
Mir geht es inzwischen anders. Ich habe verstanden - für mich - , dass ich es wirklich schätze, pünktlich zu sein und Pünktlichkeit zu erwarten, dass ich Distanz zu Nachbarn und Kolleginnen wahren will, dass ich übermäßige soziale Kontrolle durch Familie und Bekannte ablehne. Dass ich unangemeldete Besuche, auch von Freunden und Verwandten, nicht schätze und auch selbst darauf achte, die Privatsphäre der anderen nicht unaufgefordert zu verletzen.
Dabei glaube ich nicht, dass dies die "richtige" Lebensweise ist. Es ist lediglich die, die mir besser gefällt. Und ich komme deshalb besser und leichter mit Menschen aus, die ähnlich empfinden. Dabei ist das wohl keine Wahl, sondern hat viel mit Erziehung und Kultur zu tun. Es ist also "normal", dass wir mit Menschen, die aus einem ähnlichen kulturellen Umfeld kommen, leichter und häufig auch besser auskommen. Das Fremde und die fremden Gewohnheiten sind anstrengend. Alles muss dauernd ausgehandelt werden. Es gibt kein: "Das tut man eben nicht" (auf der Straße rumhängen und laute Musik machen, seine Eltern überall hin begleiten und umgekehrt, rote Ampeln ignorieren...). Ich weiß: Wir leben in einer Gesellschaft, in der viele dieser vorgeblichen Gewissheiten längst im Wanken befindlich sind. Kaum eine muss mehr um 6 Uhr zum Abendbrot daheim sein. Trotzdem finde ich es nachvollziehbar und verständlich, dass Menschen an ihren Gewohnheiten, die sie als angenehm empfinden, festhalten. Und dass sie es unangenehm finden können, mit neuen und fremden Gewohnheiten konfrontiert zu werden (Zuwanderer wie Einheimische).
Alles wandelt sich. Es gibt keine Alternative zum Aushandeln. Dennoch bleibt eine (vielleicht auch unangenehme) Wahrheit: Ich bleibe bis auf Weiteres froh und nehme es als Privileg wahr, in einem Umfeld zu leben, in dem Nachbarn nicht jeden Abend beieinander sitzen, in dem lauter Gesang und Tanz auf der Straße Ausnahme sind, in dem Alleinsein zu wollen nicht als Absonderlichkeit oder Unglück gilt. Das - dieser Wunsch - wirkt jedoch auch ausgrenzend. Darüber sollte man sich Rechenschaft ablegen. Ohne den eigenen Wahrnehmungen Gewalt anzutun. Es ist weder das als exotisch empfundene Fremde so "toll", wie es manchen auf den ersten Blick erscheint, noch ist "unsere" Kälte alternativlos. Wir sind halt auch anders. Als die anderen.
binsenweisheiten :
AntwortenLöschenerstens : das eine muss das andere nicht ausschliessen.
zweitens : das andere muss das eine nicht ausschliessen.
naja : war das weissschwarz oder war es schwarzweiss festgehalten ?
nachbarschaften sind engschaften. nahwohnschaften.
schutzaufpassereigemeinschaften gegen den feind im inneren.
den langhaarigen, den kiffer, den terroristen.
wir bringen ihn, die in kommunikation, wir kommunzieren das neumodisch.
ich liebe tanzende menschen, fast generell nicht die musik, die diese tanzen lassen.
so what ?
ich muss tanzenden menschen ausweichen um rechtzeitig und zuverlässig einen termin wahren zu können ?
ich verzichte womöglich auf einen teil meiner vorschminkzeitleiste.
naja
„Es gibt keine Alternative zum Aushandeln.“ Das würde ich gerne ergänzen: Es gibt keine Alternative zum Respektieren des „Andersseins“ (des eigenen und desjenigen des anderen) und des individuellen Rechts darauf. Und zur Kommunikation spätestens da, wo unterschiedliche Bedürfnisse aufeinanderprallen und das Zusammenleben schwierig machen.
AntwortenLöschenMir geht es wie dir: Meine Privatsphäre ist mir wichtig, fast schon heilig. Ich brauche viel Zeit für mich, bin gerne mit mir allein. Es war für mich ein Reifungsprozess, mir mein So-Sein zu erlauben, mich daran, an mir, an meiner mir eigenen Art zu freuen, nicht das Gefühl zu haben, mich dafür rechtfertigen zu müssen. Denn viele Menschen in meinem Umfeld sind anders, umtriebiger. Ich habe Freunde, Nachbarn, Familienmitglieder, die geselliger sind als ich, ständig die Gemeinschaft suchen, nicht allein sein können/wollen. Es handelt sich dabei also, denke ich, nicht nur um einen kulturellen Unterschied, sondern auch um einen persönlichen, individuellen.
Unter den Flüchtlingen, die bei uns im Ort leben, gibt es auch ein paar, die lieber für sich sind, die nicht so gerne an Feierlichkeiten und Gemeinschaftsaktivitäten teilnehmen, sich aber trotzdem meistens dazu durchringen, weil sie sich verpflichtet fühlen, sich dankbar zeigen und sich integrieren wollen. Aber heißt Integration ständig zusammen sein zu müssen?
Miteinander reden. Daran führt kein Weg vorbei. Das finde ich in Ordnung. Und ich lasse nicht an meinem Recht rütteln, so zu sein wie ich bin und so zu leben, wie es mir entspricht.