Donnerstag, 5. Januar 2017

PROSIT NEUJAHR! Es leben die gottlosen Schurken! Hoch!

Was sind die ehrbaren Leute doch für Schurken.

Emile Zola

Tour Eiffel Januar 2017

Paris, Marais - in einen kalten Nebel getaucht. Und dennoch: Die Place des Vosges bleibt der schönste Platz der Welt. 25 Jahre später. Wiederholten Morel und ich die Hochzeitsreise nicht, die uns über Silvester 1991/92 nach Paris führte, in ein kleines Hotel nahe der Place des Vosges. Wir waren schon vorher öfter gemeinsam in Paris gewesen. Und immer glücklich. Ein billiges Nachtzug-Ticket von Frankfurt/Main aus, Ankunft im Morgengrauen am Gare d´Est, unvergessliche Ausstellungen, halbe/ganze Tage im Kino unter den Hallen, Retrospektiven von Alan Rudolph u.a. Damals.

Wiederholungen funktionieren selbstverständlich nie. Paris indes bleibt Reisen wert. Diesmal mieteten wir uns in eine kuschelige kleine Wohnung in einer Passage nahe dem Centre Pompidou ein. Ein selbst gekochtes Silvester-Gourmet-Menü, das wir nicht einmal zu Ende schafften, so üppig, traditionell und französisch war es:  verschiedene Ziegenkäse auf winterlichem Feldsalat, Entrecote mit Sauce Béarnaise und Pommes frites, zum Abschluss geplant: Tarte Tatin mit Vanilleeis. Dazu Champagner, Sauvignon blanc, ein Likör. Wie gesagt, wir schafften das nicht, ganz.  

Places des  Vosges  Dezember 1991
Und immer wieder: das Marais, touristisch, verschachtelt, jiddisch, prächtig, mondän, verkommen, gentrifiziert. Passt alles. Wunderbar. Es duftete verführerisch in der Rue des Rosier. Wie vor einen Vierteljahrhundert. Und selbstverständlich anders. Eine Stadt der Schauwerte, an jeder Ecke, auch verwundet überall, viele Male schon: die Zerschlagung der alten Viertel durch die gigantischen Boulevards der Spekulanten des 2. Kaiserreichs, Kriege, Besatzung, Deportationen, Anschläge. Auch unsere Passage d´Ancre. Deportiert die Bewohner 1943.  Man erinnert sich der Wunden. Aber man pflegt sie nicht. In Paris. Man lebt. Gut. (So gut es geht.) Und ohne das protestantische schlechte Gewissen. Vielleicht einer der Gründe, warum ich immer glücklich gewesen bin in Paris.

Places des Vosges, Dezember 2016

Die Grande Nation feiert ihre Siege. (Trotz vieler Besuche in Paris zuvor: Ich war zuvor noch niemals in Versailles. Aus Gründen. Die sich in diesem neuen Jahr als richtige erwiesen. Die Galerie der Schlachten und den Spiegelsaal - ich kann sie nicht anders betrachten als  mit dem schaurig-bösen Triumphgefühl der eingefleischten Republikanerin, die Köpfe rollen lassen wollte, wenn Köpfe noch zu haben wären. ... Winterkorn. Ach nein, wir fordern keine Laternen. Mehr.) Auch das Frankreich von heute gibt sich wehrhaft, gewaltig, gewalttätig, prächtig und schön. Der Laizismus immerhin - anders als die deutsche Linke in ihrer relativistischen Pseudo-Toleranz - erkennt seine Feinde und stellt sich ihnen entgegen, stolz, herrisch auch. Die Geschichte des Kolonialismus, zum Beispiel, unaufgearbeitet. 


Elegante Frauen unter originellen Mützen durchforsten die Designerläden. Superschlanke junge Herren frieren in halblangen dünnen Mänteln in den Schlangen vor den Museen. Das Gewühl in den Galeries Lafayette wirkt beängstigend, aber die gigantische Dekoration beruhigt: alles wie immer. Hier, im Konsumtempel, fehlen sie allerdings nicht, die Kopftuchträgerinnen in ihrer ostentativen Religiosität mitsamt ihren männlichen Begleitern, anders als vor und in den historischen Museen und kunstgeschichtlichen  Ausstellungen, die stattdessen geduldige Asiatinnen und Asiaten zuhauf anziehen. Auch solche An- und Abwesenheiten an symbolischen Orten setzen Zeichen, werden (vorläufig, vorsichtig) gedeutet von der Besucherin. Es zeigen sich in solchen Beobachtungen gruppenbezogene Interessen und Desinteressen. Selbstverständlich kann man das nicht verallgemeinern. (Denn: Auch Fakten wirken stets diskriminierend. Was jede/r Soziolog_in im ersten Semester lernt. Oh dear. "Facts are such horrid things", wie Lady Susan, Jane Austens geniale post-faktische Überlebenskünstlerin, schon weiß. ...Ich habe Whit Stilmanns "Love and Friendship" noch nicht sehen können, werde das aber nachholen...

Der Besuch im Musée d´Orsay war am Sonntag, dem ersten Tag des neuen Jahres, kostenfrei. (Just in case: Falls eine die soziale Karte zu spielen gedenkt, um kulturelles Kapital zu verleugnen - und zu vergeuden. Diesem Judas wird der Kuss verweigert: Denn es geht ja gerade auch um den Wert (oder die Un/mwertung) kultureller Kapitalvermögen. Und ich gedenke das meinige zu verteidigen: Ein Hoch auf die Verherrlichung des Konsums, den Warenfetischmus samt der ihm gewidmeten marxistischen und postmarxistischen Kritik, auf die Individualisierung des Geschmacks, die guten Weine und regionalen Schweinswürste, sogar auf den auvergnischen Kartoffelbrei mit Käse, der im Magen ungut rumpelt, auf den überteuerten Champagner, die Nackten Manets und die Seerosen Monets, auf die Porträts der Berthe Morisot und die Selbstporträts Claude Cahuns im Spiegel, auf die bösen Witze Oscar Wildes und die wilden und unanständigen Feste des 2. Kaiserreichs (dem eine sehenswerte Ausstellung im Musée d´Orsay gewidmet ist), auf "Soulévements" allerorten und allerzeiten (eine fantastische Ausstellung im Jeu de Paume über kollektive Aufstände, Ausstände, Bewegungen und Emotionen, interdisziplinär, wobei mich vor allem die Fotografien beeindruckten), ein Hoch auf die Neugier,  auf die Lust, auf Tradition, die sich nicht für Gott gewollt hält, und vor allem auf den Zweifel. Vive!


***


Jede Reise begleiten Lektüren. Ich bin noch immer bei den "Rougon-Macquarts" des Emile Zola, die ich schon im Sommer begonnen hatte. Ich quälte mich durch die religiösen Erweckungen und Verstrickungen des Abbé Mourets. Das dauerte. Ich lernte, wie auch aus der Lektüre der Luther-Biographie im Herbst,: den religiösen Fanatismus noch mehr zu fürchten und zu verachten (Das muss sich nicht ausschließen.) Der Spekulant Rougon und der Präsident Rougon, Finanzier und Politiker, dagegen faszinieren mich: ein Panorama, ein Panoptikum von  Figuren und Konstellationen, wie sie aktueller mir nicht erscheinen könnten: die Machinationen des Politischen und der Finanzjongleure, die selbstverschuldete (?) Abhängigkeit der "Massen" von deren Machenschaften, Renditen und Risiken, die Schau der Schausteller und die Verachtung des Realen, der Umschlag: wie die Schau real wird und die Realität zur Darstellung drängt - all das kann Zola zur Anschauung bringen, nicht perfekt, denn er folgt einem "Programm", einer "Theorie", die ihn daran hindert, was er beschreibt, nicht nur zu analysieren, sondern auch zu erfahren. Es hilft (wie meistens): Humor. Der allerdings geht ihm - wie mir - ab, wenn es um den religiösen Fanatismus geht. 


In ehrendem Andenken an  

Stéphane Charbonnier,
Jean Cabut,
Bernard  Verlhac,
Philippe Honoré, 
Georges Wolinksi,
Bernard Maris, 
Mustapha Ourrad, 
Michel Renaud,
Elsa Cayat,
Franck Brinsolaro und
Ahmed Mehrabet,

die am 7. Januar 2015 von islamistischen Terroristen in Paris ermordet wurden;



Clarissa Jean-Philippe,

die einen Tag später von einem Komplizen der Attentäter getötet wurde



und 

Yohan Cohan
Yoav Hattab
Philippe Graham und
Francois-Michel Saada,

die derselbe Mann am 9. Januar in einem jüdischen Supermarkt ermordete.




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