Morgen muss ich nach 2 Wochen Urlaub wieder zur Arbeit antreten. Unvermeidlich dabei zugleich: Die Begegnung mit nicht wenigen jener Türkischstämmigen, die "Evet" gewählt und damit die Demokratie in der Türkei zugunsten eines Autokraten abgewählt haben. Das frustriert mich. Mehr noch: Das dümmlich-dreiste Argument, das mir - wie schon seit Wochen - entgegenschlagen wird: das Demokratische des Verfahrens sei ja gerade dadurch bewiesen, dass die Mehrheit sich schonungs- und rücksichtslos durchsetzen könne. Erdogans Anhänger verstehen Demokratie als Diktatur der Mehrheit bzw. "des Volkes", mit dem sie sich ähnlich blöde wie die Anhänger der hiesigen AfD- und Pediga-Apologeten oder der "Front National" mirnichtsdirnichts gleichsetzen. Wer anderes will, ist ein "Verräter" (Frauen denken sie gelegentlich gar nicht oder - behauptet - irgendwie immer mit).
Jetzt wird wieder mal von interessierter Seite behauptet, das Wahlverhalten der in der BRD zum Teil schon in der 3. oder 4. Generation Ansäßigen (über 60% für Erdogan) sei darauf zurückzuführen, dass ihnen die Integration verweigert worden sei. Hätten "wir" nur..., wären "wir" nur....Die Hybris dieser - meist sich als "links" verortenden - Denkschablone ist unüberbietbar: Was immer "unsere Opfer" tun, es liegt an dem, was "wir" getan oder unterlassen haben. Das ist auf seine Weise eine nicht weniger herablassende (oder im Duktus dieser Leute: "rassistische") Sichtweise als jene rechtsnationale, deutschtümelnde, die sie so vehement und in der tiefen Überzeugung ihrer moralischen Überlegenheit bekämpfen.
Die aus der Türkei stammenden Menschen haben ganz überwiegend so gestimmt wie die Verwandten und Bekannten aus ihren "Heimatregionen". Stammen sie aus ländlichen Regionen, so verehrt eine Mehrheit von ihnen den religiös motivierten Despoten, stammen sie aus säkularen Familien und urbanen Verhältnissen, so verabscheuen sie dessen Stil und Politik zumeist. So einfach ist das. Und so unangenehm. Denn es heißt tatsächlich, dass die Bindungen und Prägungen aus dem "Herkunftsland" (das für die meisten ja gar keines mehr sind), tiefer reichen als jene neu geknüpften im Alltagslebensland Deutschland.
Vielleicht muss man bei der Analyse dieses Phänomens (des Wiedererstarkens dumpf-nationaler, religiös-ausgrenzender, illiberaler Politikangebote), das sich ja nicht auf die Türkei beschränkt, tiefer schürfen: Ganz offensichtlich handelt es sich fast überall um einen Konflikt, der sich zwischen urbanen liberalen Lebensstilen und ländlich geprägten, kollektivistisch-"volkstümlichen" abspielt (siehe Österreich, Frankreich, USA...etc.pp.) Es sind zwei verschiedene kulturelle "Prägungen", die offenbar auch tief in familiären Bindungen verwurzelt sind: ein Verständnis von "Kultur" als Angebot zur Selbstbildung trifft auf ein Verständnis, das "Kultur" als identitätsstiftenden, stabilisierenden und abgrenzenden Panzer gegen eine unverständlicher werdende komplexe, vielfältige Welt einsetzt.
Es kann politisch gegenüber jenen Bewegungen, die auf Ausgrenzung, Hass, Diskriminierung des Anderen setzen, kein "Entgegenkommen" geben, auch keinen "sozialpädagogischen" Ansatz der Belehrung durch mehr "Angebote" zur Teilhabe an deren jeweilige "Identitätsgruppen" (seien sie durch Religion, Nation, Heteronormativität oder was immer bestimmt). Solche Zugeständnisse sind schlicht deswegen ausgeschlossen, weil sie menschenfeindliche und diskriminierende Rückschritte darstellen würden.
Was tun? "Kultur" als Angebot zur Selbstbildung, Selbstreflexion und Selbstkritik zu verstehen, ist eine Chance, die jeweils immer nur eine Einzelne, ein Einzelner für sich, geleitet von ihrem je eigenen Begehren ergreifen kann. Die Wege sind unterschiedlich, trotzdem lohnt es sich vielleicht, hinzuschauen, wo, wie und warum das Einzelnen gelingt. Es geht um "Prägungen", wie ich oben schrieb, tief sitzende, die dennoch überwunden, mindestens modifiziert werden können.
Der Vater einer Schülerin, dessen Deutsch sehr schlecht ist, trotz vieler Jahre, die er in Deutschland gelebt und gearbeitet hat, ist für mich ein solches Beispiel. Der Mann kommt sicher aus dem, was man "einfache Verhältnisse" nennt oder "bildungsferne" Schichten. Im - sprachlich holprigen - Gespräch erlebte ich ihn als einen Vater, der sich für seine drei Töchter einsetzt, der sich für sie und ihre Gedanken, Hoffnung und Träume interessiert und um sie sorgt. Das ist der Unterschied ums Ganze: In jedem Satz wurde deutlich, dass ihm wichtig ist, seine Töchter als jeweils Einzelne und Unterschiedliche zu verstehen und ihnen dabei zu helfen, das zu werden, was sie sein wollen. Ich habe das in den vielen Jahren immer wieder erlebt: Den Ausschlag, ob ein Kind sich frei entwickeln kann, seine Potentiale verwirklichen, gibt nicht allein der Bildungsstand oder die Einkommensgruppe der Eltern (obwohl es hier Korrelationen gibt), sondern vor allem dieser Wille, diese Bereitschaft von Eltern, das eigene Kind nicht als Besitz, als Fortführung des "Eigenen" zu begreifen, sondern "über ihren Schatten zu springen", um ihr Kind auf seinem eigenen Weg zu begleiten. Und natürlich gibt es eben auch die anderen: die ihr Kind nicht sehen (wollen oder können), denen es fremd bleibt und die diese Fremde, die alle Menschen voneinander unterscheidet und trennt, zukleistern mit "Identität", klebrigem "Wir-gegen-die-anderen-Gefühl", mit dem Ersticken von Neugier auf die "Ungläubigen", die "Fremden", die "Schwarzen", die "Schwulen" undsoweiterundsofort.
Was lässt sich politisch daraus folgern? Wenig vielleicht. Und doch, was mir wichtig ist: Ich kann politische Bewegungen, die Identitätspolitiken unterstützen, in denen die Zugehörigkeit zu diskriminierten Minderheiten markiert wird, die sich am Konzept der "Intersektionalität" oder der "Privilegienkritik" orientieren, nicht länger unterstützen. Denn aus meiner Sicht stärken sie mit diesen Ansätzen in letzter Konsequenz genau jene grundsätzlich aus- und abgrenzende Perspektive auf "Kultur", die sie nur noch da bekämpfen, wo sie nach ihrer Ansicht hegemonial ist (also hier: der viel zitierte "alte, weiße Mann"). (Diese Dramatisierung von Minderheitenzugehörigkeiten führte in der Praxis u.a. zu problematischsten Allianzen von linken und feministischen Gruppen mit Anti-Israel-Aktivistinnen, bei denen ich schaudere.) Stattdessen geht es mir um eine Politik, die ihre Hoffnung aus der je Einzelnen und dem Einzelnen hernimmt, deren/dessen Vermögen sich zu ändern, neue Bindungen einzugehen (gelegentlich, indem sich von alten gelöst werden muss - was eben kein "Verrat" ist - , gelegentlich in jener Ambivalenz zwischen Altem und Neuem, die schwer auszuhalten, aber auch sehr bereichernd und verbindend sein kann). Solidarität gilt also nicht "Schwulen" oder "Muslimen" als Gruppe, bewertet wird nicht (auch nicht positiv) eine sexuelle Orientierung, die Zugehörigkeit zu einer Minderheitenreligion oder welche Gruppenidentität auch immer. Wer Menschen beleidigt, kränkt, verfolgt und entrechtet, weil sie lesbisch sind, weil sie Muslime oder Christen oder Ungläubige sind, weil sie schwarz, weiß oder gelb sind, wer bewertet, was Menschen sind und nicht, was sie tun, kann auf Solidarität eben gerade nicht setzen.
"Liebe für Alle" ist keine Lösung. (Auch, obwohl und weil es so "nett" klingt.) Die Wahrheit ist nämlich: Es gibt keine Lösung. Wir müssen mit Menschen leben, deren Lebensentwürfe uns fremd, auch abstoßend erscheinen. Es gibt nur Hoffnung. Auf die Bewegung der Einzelnen, auf die Vielfalt der Begegnungen, der Ablösungen und Konflikte. Darauf, dass immer mehr Menschen begreifen, wie gefährlich und falsch die Sehnsucht nach "Harmonie" (völkischer, religiöser, nationaler etc.ppp.) ist. Ich werde Menschen, die die AfD wählen oder mit "Evet" gestimmt haben, morgen noch genauso wenig mögen wie heute. Ich betrachte sie als politische Gegner, aber ich nehme sie ernst. Sie sind kein Fall für die Pädagogik oder die Psychologie. Sie folgen ihrem Begehren. Dahinter stecken Sehnsüchte nach Gemeinschaft, Verantwortungslosigkeit und Herrschaftswillen. Zum Beispiel. Sehnsüchte, die ich nicht teile und durch die ich mich und meine Lebensweise zurecht bedroht sehe. Denen stelle ich meine eigenen entgegen: Sehnsucht nach Höflichkeit und Distanz, nach Individualität und Schönheit. Zum Beispiel.
Aber: Ich kann damit werben, auch bei denen: Dass meine Sehnsüchte ihre Lebensweise nicht bedrohen. Weil es mir egal ist, wie sie ihren Gott verehren, sich kleiden, welche Musik sie hören oder wie sie feiern. Die Kränkung, dass es mir egal ist, die kann ich ihnen allerdings nicht ersparen, sofern sie dies als Kränkung wahrnehmen. Denn ich verlange von ihnen auch nichts weiter, als was ich zu geben bereit bin: Nicht "Liebe statt Hass", sondern "Leben und leben lassen" und das friedliche Austragen von Konflikten, selbstverständlich.
Deshalb: Ich werde die Beleidigungen und Verunglimpfungen nicht vergeben und nicht vergessen, mit denen Erdogan Menschen wie mich überzogen hat. Ich merke mir das. Es ist wichtig, den Gegner zu kennen und ihm auch mit der gebotenen Härte zu begegnen, wo es nötig ist. Man muss gelegentlich unfreundlich werden und dennoch höflich bleiben. Jene, die Erdogan bestätigt haben, werde ich auch nicht als seine Opfer betrachten, sondern als seine Komplizen. Und daher an der Seite all der anderen stehen: Jener fast 50% in der Türkei, die mutig HAYIR gesagt haben.
Zum Beispiel.
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