Wir können im Falle Karoline Pfeifers kaum durch Rückgriffe auf Briefe, Tagebücher, Notizen den Eindruck erwecken, was wir erzählen wollen, könne beglaubigt werden durch Dokumente, geschrieben von der eigenen Hand der Protagonistin. Denn Line hatte, mindestens in den letzten 30 Jahren ihres Lebens, nichts aufgeschrieben, nicht einmal hatte sie noch von eigener Hand die Beileidsbekundungen, die sie von Jahr zu Jahr häufiger zu verschicken hatte, verfasst. Die diktierte sie vielmehr erst der Tochter, später der Enkelin. Der Verdacht, dass Line in Wahrheit gar nicht schreiben konnte, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Denn das Schreiben spielte in Lines Leben, nachdem sie die Volksschule verlassen hatte, keine Rolle. Sie schob es auf ihre rauhen Hände, dass sie sich weigerte, einen Stift in die Hand zu nehmen, um die schwarz geränderten Karten zu beschriften. Vielleicht aber wusste sie auch längst nicht mehr, wie die Buchstaben zu malen waren. Lesen allerdings konnte Line: die Koch- und Haushaltskladden ihrer Mutter und Tanten, eng liniert und sorgfältig geführt in Sütterlinschrift, Lore-Hefte, die sie unter dem Spülstein verbarg und, von vorne bis hinten an jedem Sonntag, das Gemeindeblatt. Als Lines Todesanzeige im August 2001, wenige Wochen vor den Anschlägen auf das World Trade Center, in eben jenem Sonntagsblatt erschien, betrauerten zwei Töchter, ein Sohn, eine Schwiegertochter, ein Schwiegersohn, drei Enkelinnen und zwei Enkel die „nach langer schwerer Krankheit im Kreise der Familie Verstorbene“. Das stand so da und war doch nur ein Schein, denn in Wahrheit hatte Line niemals ein Kind geboren, war ihr Leib unfruchtbar geblieben und die da zeichneten als ihre Kinder und Kindeskinder waren ihr nicht anverwandt. Den einen war sie Stiefmutter geworden in der zweiten Hälfte ihres Lebens und die anderen hatten sie als „Oma“ immer gekannt. Wer Line gewesen war, was sie verbarg und jenen immer verborgen bleiben sollte, die da an ihrem Grab standen, war die Tatsache, dass Line eine der großen Liebenden ihres Jahrhunderts gewesen war.
Woher glauben wir das zu wissen? Wir sahen die Blicke und Gesten, vor allem die vermiedenen, mehr als ein halbes Jahrhundert. Einige von uns wurden Zeuginnen jener beiden unvergesslichen, verräterischen Ausbrüche, auf die jedoch keine von uns jemals die beiden ansprach, weder auf den Vorfall im Jahre 1970, als Peter Leuchte seine Frau Antonia, genannt Toni, beinahe geschlagen hätte, noch auf Lines Weinkrampf an seinem Grab siebzehn Jahre später. Wir besitzen zwei Briefe, die ganz hinten in Lines Bibel abgelegt waren und einige verschwommene Fotos, die Peter Leuchte sorgsam vor seiner Frau in der untersten Schublade seines Schreibtisches im Laden versteckte, eines mit einer Widmung Lines darauf. Wir sind dennoch, trotz dieser dürftigen „Beweislage“ vom Wahrheitsgehalt unserer Erzählung überzeugt, davon auch, dass diese Liebesgeschichte, der wir den Namen „Line Leuchte“ geben werden, in Nichts den großen Liebesdramen der Literatur nachsteht, weder in ihrer Tragik noch, ja auch dies, in ihrer Komik.
Alles andere in Lines und Peters Leben ist gesichert. Beide verließen einen Radius von 80 km rund um Haselberg nie. Ihre Geburts- und Sterbeurkunden, die Überschreibungen des Geschäfts und der Äcker an Lines Stiefkinder und Peters Neffen, die Aktordner mit Steuerbescheiden und Stromrechnungen wurden über die Jahre sorgfältig aufbewahrt. Es scheint keine Lücke zu geben. Zwei offenbar unspektakuläre Leben, die wie alle ihrer Generation zwar von Weltkrieg Nr. 2 geprägt wurden, jedoch dem Anschein nach weniger dramatisch, als es bei vielen anderen der Fall gewesen war. Wegen seiner Behinderung hatte Peter nicht zur Wehrmacht gemusst und Haselberg war auch noch in den letzten Kriegsjahren von Bombenangriffen verschont geblieben.
___________________________
* Ich weiß es noch nicht. Das kollektive Erzähler-"Wir". Vielleicht.
Fantastischer Claus?
Fantastischer Claus?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen