https://gleisbauarbeiten.blogspot.com/2021/07/die-schande-von-afghanistan-wir-lassen.html
Am 1. Juli, als ich den Post oben schrieb ("Die Schande von Afghanistan. Wir lassen die Helferinnen und Helfer der Bundeswehr ungeschützt zurück) , hat kaum eine/r sich aufgeregt. Auf Twitter z.B. - kein Thema! Jetzt sind aber alle ganz empört. Gefordert wird z.B. Aufnahme ALLER afghanischen Flüchtlinge in der EU SOFORT! (so und ähnlich).
Mich widert das an, wenn ich es lese. Denn nichts ist leichter, als solche Maximalforderungen zu erheben, ohne auch nur im geringsten aufzeigen zu müssen, wie sie umgesetzt werden könnten. Wer solches schreibt oder verbreitet (ganz ähnlich wie vor einigen Jahren Sprüche wie "JEDE/R soll WILLKOMMEN sein" - siehe weiter unten: auch die Gefolgschaft der dort Genannten* also? Ernsthaft?) offenbart damit nur seine oder ihre Verantwortungslosigkeit. In doppeltem Sinne nämlich: als Gesinnung und faktisch. Wer tatsächlich Verantwortung trägt oder zu übernehmen bereit ist, wird sich niemals so undifferenziert äußern können und auch niemals so wohl und bequem in seiner moralischen Haut fühlen.
Verantwortung kann nämlich niemand unbegrenzt übernehmen. Es sind nicht zufällig oftmals dieselben Leute, die schon seit Jahren den sofortigen Abzug aus Afghanistan gefordert haben, die jetzt am allerempörtesten auftreten.
Wahr ist aber: Es sind bewaffnete Fallschirmjäger und die Luftwaffe, die Menschen aus Afghanistan evakuieren. Anders geht es auch gar nicht. Mit Mörderbanden kann man nicht unbewaffnet "ins Gespräch kommen". Die Lage in Afghanistan hat sich auch so entwickelt, weil wir (fast) alle und ich schließe mich da ausdrücklich ein, nicht bereit waren und sind, den Preis zu zahlen, den es gekostet hätte, nicht nur die Taliban außer Landes zu drängen, sondern die Mörder-, Vergewaltiger- und Folterer-Banden von Warlords wie Gulbuddin Hekmatyar*, Abdul Rashid Dostum* oder des allzeit wendebereiten Abdullah Abdullah* zu entwaffnen. Die stehen, wie man hört, auch jetzt wieder in den Startlöchern, für "Verhandlungen" mit den neuen Herrschaften. Schon vor 20 Jahren sagte mir eine Afghanin: "Wenn diese Leute weiter mitmischen und in den Provinzen das Sagen haben, kann es keinen grundlegenden Wandel geben."
Denn die Macht, liebe Friedensfreundinnen und - freunde, in Afghanistan und anderswo, ja, sie kommt eben doch aus den Gewehrläufen.
Insofern ist das Versagen des sogenannten "Westens" in Afghanistan unser aller Versagen. Es ist die Botschaft an die Welt, dass wir nicht bereit sind, für Menschenrechte zu kämpfen (und das heißt eben auch: zu töten und zu sterben). Den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben wir trotzdem einen politisch und militärisch halbherzigen Einsatz (den wir niemals Krieg nennen wollten) über mehr als 20 Jahre zugemutet, der unter ihnen Opfer gefordert hat, die unsere Gesellschaft sich öffentlich wahrzunehmen verweigert hat. Auch dessen haben wir uns schuldig gemacht.
"Wir" (der "Westen", die USA oder die Bundesregierung) tragen nicht die Verantwortung für alle Entwicklungen in Afghanistan. Das anzunehmen, wäre Hybris. Wir hätten das früher erkennen müssen, ja. Der Streit darüber ist verschüttete Milch. Wir könnten höchstens Lehren ziehen für andere Einsätze, deren Ziele wir klarer definieren müssen. (Die Verteidigung gegen die Ausbreitung des islamistischen Terrors halte ich grundsätzlich für ein legitimes und notwendiges Ziel.)
Gegenwärtig aber haben wir (als Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland) die unmissverständliche Verantwortung, alle, die im Auftrag unserer Regierung, im Auftrag regierungsnaher Organisationen oder deutsche NGOs oder für deutsche Medien tätig waren und ihre Familien zu evakuieren. Weil "wir" sie gefährdet haben. Darüber hinaus sollten wir versuchen, jenen, die sich für Menschenrechte und Demokratie exponiert haben (Medienschaffende, Künstlerinnen und Künstler, Frauenrechtlerinnen) eine Ausreise zu ermöglichen und ihnen Asyl anbieten. Das ist das, was wir im Moment vielleicht erreichen können. Alle unsere Anstrengungen sollten sich darauf konzentrieren.
Wir müssen unsere Regierung drängen, bürokratische Hürden abzubauen und wir dürfen die Amtsträger nicht schonen, die ihre Verantwortung bisher nicht oder nur unzureichend wahrgenommen haben.
Und das heißt auch: "Wir" werden uns nicht ganz so angenehm und moralisch integer fühlen können, wie es die Maximalforderer sich wünschen. Es werden nicht ALLE ausgeflogen werden können, die das wünschen, sondern diejenigen, die "wir" gewissermaßen "auswählen". Denn das Zeitfenster und die Kapazitäten sind knapp. Die Alternative dazu wäre nämlich, jene an Bord der wenigen Kabul verlassenden Flugzeuge zu lassen, die sich am ehesten gegen andere körperlich durchsetzen können.
An der Stelle jener Beamtinnen und Beamten, Soldatinnen und Soldaten, die diese Aufgabe jetzt in Kabul übernehmen, möchten wohl nicht viele sein. (Ich denke, am wenigsten die, die jetzt das Maul am weitesten aufreißen.)
Mein Dank gilt den Soldatinnen und Soldaten der Luftwaffe, die die Flüge organisieren und durchführen, den Einsatztruppen der Fallschirmjäger, die den Zugang zum Flughafen ermöglichen und den wenigen verbliebenen Mitarbeiter_innen des Außenministeriums in Kabul. Sie übernehmen Verantwortung. Beschränkt. Begrenzt. Wo und wie es möglich ist.
Über ihre politischen Vorgesetzten kann man das nicht sagen. Über die empörungsgeile und selbstgerechte Gesellschaft, in deren Dienst sie stehen, leider eben so wenig.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen