Über „natürliche und affectierte Verhaltensweisen“
Diesen Beitrag zu „Körper-Sprache“ wollte ich den Verliebten widmen. Er begann so: Dies geschrieben für all jene, die sich im ersten Stadium des Verliebtseins befinden, in jener Phase, in der voll Hoffnung und Zweifel jede Äußerung und Regung des Geliebten studiert wird, in der man wach liegt und erinnernd prüft: Wie hat er sich zu mir gestellt, war das ein Zufall, dass unsere Knie sich unter dem Tisch für Sekundenbruchteile berührten, lag seine Hand zum Abschied ein wenig länger als üblich auf meinem Arm? Dann sah ich noch einmal auf die beiden Kupferstiche Daniel Chodowieckis, über die ich schreiben wollte, und merkte: „Thema verfehlt“. Denn nur in dem einen wirkten die Beteiligten auf mich verliebt, während sie in dem anderen erotisches Interesse aneinander zeigten; ich mir von denen jedoch nicht vorstellen konnte, dass sie in den Nächten auf ihren Betten liegend voneinander träumten.
Also meinte ich, ich müsse erst einmal den Unterschied klären zwischen „Verliebtheit“ und „erotischem Interesse". Wie sonst sollte ich die auf den Bildern dargestellte Körpersprache an meinem eigenen Körper nachvollziehen? Dafür, dachte ich, müsste ich wissen, ob es um eine Situation gehen solle, in der ich „Verliebtheit“ oder „erotisches Interesse“ ausdrücken und darstellen würde. Ein Unterschied drängte sich sofort auf: Ich bin wesentlich seltener „verliebt“, als dass ich „erotisches Interesse“ habe. Letzteres kann zum Beispiel bei einem Spaziergang durch die Stadt entstehen: ein flüchtiger Blick auf einen wohlgeformten Körper, ein interessantes Profil, eine kraftvoll-beherrschte Bewegung. Die Wirkung des erotischen Interesses auf meinen Körper besteht zunächst in nichts weiter als einer leichten Anspannung der Muskeln; ein Geradeziehen des Halses vielleicht oder das Durchdrücken des Kreuzes. Beim „Verliebtsein“ ist das ganz anders: Beschleunigung der Herzfrequenz, aufsteigende Hitze, Erröten, diese widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Fluchtreflex und Anschmiegimpuls. Das erotische Interesse flammt plötzlich auf und kann ebenso rasch wieder verfliegen. Verliebtheit dagegen baut sich allmählich gleich einer Spannungskurve auf, die nur sehr langsam und schmerzlich wieder verflacht. Aus einem erotischen Interesse könnte Verliebtheit entstehen. (Ich kann mich an keinen konkreten Fall erinnern.) Umgekehrt ist in die Verliebtheit von Anbeginn an ein erotisches Interesse eingeschlossen, das aber zunächst verkapselt bleibt.
Diese Überlegungen sind, wurde mir schnell klar, völlig subjektiv. Ich war aber doch von der These ausgegangen, dass die Sprache meines Körpers eine „Kultursprache“ sei, in sie eingeschrieben die überindividuellen Traditionen der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Ich wollte über „natürliche und affectierte Verhaltensweisen“ schreiben, hatte ich angekündigt. Damit zitierte ich den Titel einer Serie von Stichen, die Daniel Chodowiecki 1779 im Göttinger Taschen Calender veröffentlichte. In ihr stellte er jeweils adelige und bürgerliche Selbstdarsteller einander in Alltagssituationen gegenüber, um einerseits die Körpersprache des Adels als theatralisch zu entlarven und andererseits die Bürger in der Darstellung „natürlicher“ Verhaltensweisen zu schulen. Seht her, wollen diese Stiche sagen: So machen sie´s; das ist ge- und erkünstelt. Wir machen´s anders, so wie´s natürlich – und also richtig und recht – ist.
Chodowiecki gibt diesen beiden Blättern den Titel: Die Unterredung/La conversation. Das Wort „Unterredung“ hat im Laufe der Jahrhunderte, die uns von Chodowiecki trennen, eine Bedeutungsveränderung erfahren. Höre ich es, so denke ich an eine „Verhandlung“, ein Gespräch, das zwischen Interessenlagen vermittelnd auf Abschluss und Vertrag zielt, in der Regel etwas Geschäftliches. Schon im 18. Jahrhundert schwingt dieser Bedeutungsgehalt im Wort mit. Auch hier auf dem Stich links: Ein junger Mann und eine junge Frau, die einander – wie von Chodowiecki beispielgebend im Kulturkampf gegen den Adel gezeigt – auf „natürliche“ Weise begegnen, halten eine Unterredung, die, wenn sie es „ernst miteinander meinen“ (was der Anstand gebietet), notwendig in einem Antrag mündet, dem ein Vertrag folgt: die bürgerliche Ehe.
Für die beiden rechts dagegen scheint der Titel in diesem Sinne von „Unterredung“ schlecht gewählt, denn sie „unterhalten sich“: gut. Der Maler zeigt das adelige Paar in einem französischen Garten mit den symmetrisch gestutzten Bäumen und Hecken. Die Dame trägt Highheels und hat die Beine leicht auseinandergestellt. Den Oberkörper lehnt sie ein wenig zurück, geht ins Hohlkreuz, um über ihr Lorgnon den Gesprächspartner zu taxieren. Den linken Ellbogen hat sie ausgefahren, einen Fächer vorzuhalten. Sie ist herausgeputzt mit Reifrock, Spitzenbesatz und exzentrischster Perückentracht. Der Herr spiegelt ihre schwungvolle Bewegung und verstärkt sie. Auf die Zehenspitzen hochgebogen, beugt er den Oberkörper nach hinten und schiebt ihr sein Becken entgegen. Mit den ausgebreiteten Händen unterstreicht er sein pfauenhaft werbendes Plaudern. Chodowieckis übertreibende Darstellung, die das geckenhaft manierierte von beider Selbstdarstellung herausstellen will, macht überdeutlich: Er will was von ihr und sie prüft, ob sie sich drauf einlassen mag. Was er will, wird auch nicht im Dunkeln gelassen: der Griff seines Degens zielt gleich einem erigierten Glied auf ihren Schoß und jenes aufwendig über die Gestelle gestülpte Kleid, das sie trägt, stellt der Maler so dar, als sei es an der Vorderfront geschlitzt. Die „affectierte“ Körpersprache ist nicht nur als „unnatürlich“ dargestellt, sondern soll die liederliche Sexualmoral der Hofgesellschaft, in der wahllos jeder und jede sich als Sexualobjekt inszeniert, denunzieren.
Gegen diese „Verluderung“ setzt Chodowiecki das links gezeigte Ideal des „natürlichen“ Paares, das sich mit allergrößter Zurückhaltung in der Naturlandschaft begegnet. Der Herr hat nun sorgsam die Hand vor den Knauf des Degens gelegt und der Maler auf diese Weise jede Anspielung auf sexuelles Begehren aus dem Bild eliminiert. Alles Biegsame ist aus dem männlichen Körper verschwunden. Die Knie sind durchgedrückt, der Rücken gerade. Die ausgestreckte Hand, die er dem Mädchen reicht, ist so in einen rechten Winkel gebracht, wie es nur durch eine Verkürzung der rechten Schultermuskulatur zu erreichen ist. Er steht mit beiden Füßen fest auf dem Boden und hat „Haltung angenommen“. Der bürgerliche Männerkörper soll einer sein oder werden, zeigt Chodowiecki, dem die Expressivität mittels einer gewaltigen Anstrengung der Selbstbeherrschung ausgetrieben wird. In dieser Körperhaltung spricht sich das Ideal des sich über Arbeit und Leistung identifizierenden bürgerlichen Mannes aus. Mir fällt, betrachte ich diesen „verhaltenen“ Mann Max Webers Wort vom „stahlharten Gehäuse“ ein, als das sich die Beschränkung auf die Zweckrationalität um den arbeitenden Mann legt, von dem auch gefordert ist durch Triebkontrolle und kalkulierende Voraussicht die Voraussetzungen für das Angebot zu schaffen, auf das die Unterredung hinausläuft. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die vorgeschlagene Körperhaltung auf einer Willensleistung basiert und sich keineswegs von selbst, also „natürlich“ ergibt. Sie muss dem männlichen Körper antrainiert werden, wie zeitgleich die Rücksicht auf Zeitökonomie (der Siegeszug der Uhren) und Arbeitsdisziplin (an der noch Werther scheitert).
Ich habe geschrieben, er reiche die Hand „dem Mädchen“, während weiter oben noch von der „jungen Frau“ die Rede war. Es ist dies, glaube ich, obwohl ich beim ersten Schreiben nicht darüber nachdachte, kein Zufall. Die Frau, die der männliche Maler dem bürgerlichen Mann als Liebesobjekt vorstellt, ist ein Mädchen. Wie er dem Mann Haltung verpasst und dessen Begehren (in Gestalt des Degens) quasi (hin-)unterdrückt, so verwandelt er die sexuell offensive, ihr Gegenüber provozierend von unten nach oben musternde Frau im bürgerlichen Idealbild in eine scheue Kindfrau. Auch sie hält sich gerade, die Füßchen sind enger zusammengerückt, die Hände vorm Schoß schützend gefaltet. So blickt sie ihn von unten herauf an, mit jenem schüchternen betörend-schutzsuchenden Augenaufschlag, den noch die Hollywood-Schauspielerinnen unserer Tage immer wieder nachahmen.
Die Propaganda für das angeblich „Natürliche“, die Chodowiecki hier betreibt, erweist sich mithin bei näherer Betrachtung als eine Eliminierung des Begehrens, als Versuch der Selbstdarstellung den Ausdruck des erotischen Interesses auszutreiben zugunsten einer „ernstgemeinten“ Liebesbezeugung, die ein auf Dauer angelegtes Versprechen enthält. Dabei vollzieht sich die Stilllegung der Erotik am männlichen Körper nicht in der gleichen Weise wie am weiblichen. Der Frauenkörper (der eben deshalb auch zum Mädchenkörper wird) nimmt Haltung nicht aufgrund einer Maßgabe der Vernunft an, sondern verinnerlicht im Gefühl die sittlichen Imperative. Ihr ist - im ideologischen Konzept, das Chodowieki hier vertritt – „Natur“, was ihm Arbeit aufprägt.
Alle Erotik, scheint es, ist aus dieser „natürlichen“ Begegnung verbannt. Aber ich hatte doch irritiert festgestellt, dass ich allenfalls im linken Bild, in jenem „unerotischen“ also, „Verliebtheit“ zu erkennen vermöge. Hieße das dann, dass eine bürgerliche Verliebtheit eine „rein“ seelische Projektion, ihr alle Körperlichkeit und jedes Begehren ausgetrieben sei? Lese ich die Stiche Chodowieckis mit meinem eigenen Körper, dann erkenne ich, wie wirksam das dort gezeigte Körpermodell noch für meine (Selbst-)Wahrnehmung ist. Wie das Mädchen auf dem Stich schlage ich die Augen nieder, wenn ich dem begegne, in den ich verliebt bin, nur um sie dann von unten her zu ihm hoch aufzuschlagen: Eine Schutz suchende und Unterwerfung signalisierende Geste zugleich. Keine beherrschte diesen Augenaufschlag so perfekt wie die meist fotografierte Frau unserer Tage Lady Diana Spencer, die immerhin 1,78 m groß war.
Dass Diana Spencer mit diesem Augenaufschlag zur Ikone unserer Tage werden konnte, belegt nicht nur, dass dieses Frauenbild eines verschüchterten Mädchens noch immer das Idealbild vieler Männer ist, sondern mehr noch, dass es nach wie vor das ideale Selbstbild vieler Frauen darstellt (denn die sind es in der Mehrheit ja, die die Yellow Press-Magazine kaufen). Von dieser Selbstinszenierung als mädchenhafte Schutzsuchende habe auch ich mich längst nicht „befreit“:
I´m a little lamb who´s lost in the wood
I know I could always be good
To the one who´ll watch over me.
(Someone to watch over me by Gerhswin)
Die Erotik, die gebannt scheint, ist tatsächlich aber in diesem Blicken nur verbannt, ins Innere der Körper hinein verkapselt. Ein männlicher Blick, stelle ich mir vor, sieht von „dort oben“ im Körper der Frau „die Natur“, die er an sich selbst weggearbeitet hat. Ihr ruhig gestellter, Schutz suchender Körper wird ihm zum Sehnsuchtsbild: diesen in Bewegung zu versetzen, darin liegt nun der Reiz (der zugleich – allerdings – mit der Vertragsabsicht kollidiert, doch davon ein andermal.) Der Ehrgeiz des getarnten Jägers richtet sich darauf, den mühsam unterdrückten Fluchtreflex des scheuen Rehs, auf das er blickt, ihm – und nur ihm – gegenüber in Anschmiegsamkeit zu verhandeln. Sei mein und ich werde dich bergen. Dein will ich sein und dir allein gehören.
Der Zauber des Verliebtseins, das Herzrasen, auch die Wildheit der ersten trunkenen Küsse, all dies hätte also die Verkapselung des Begehrens gerade zur Voraussetzung. Nur wenn das erotische Interesse sich so verzweifelt im Inneren verbirgt, erweckt es die Sehnsucht, die nach Ausbruch und Erschütterung drängt. Noch beunruhigender ist der Gedanke, dass in dies magische Erleben eines exklusiven Begehrens in unserer Kultur die Asymmetrie der Geschlechter eingewebt ist: Schutzsuchende und Beschützer, Besitzer und Besessene (vernehmen Sie in diesem Wort schon den Ausblick auf die Körper-Sprachformen der Hysterikerinnen?)
Das alles lässt sich auch anders erklären. Zum Beispiel chemisch. Oder soziologisch (Nehmen Sie Niklas Luhmanns „Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität“, der die Paradoxien als notwendige Formen der Liebes-Codes entschlüsselt: die romantische Liebe als eine paradoxe Übersteigerung „der Genußfähigkeit des Gefühls und auch die Möglichkeit, am Gefühl zu leiden“). Doch für mich gilt:
* Manches ändert sich sowieso. Ich schlage die Augen auf. Aber ich verschränke die Hände nicht vor dem Schoß, wenn ich verliebt bin.
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