Sonntag, 16. Januar 2011

BRIEF AN EINE LITERATURWISSENSCHAFTLERIN: ÜBER MEINEN BLOG-ROMAN


Vor fast einer Woche schrieb mir eine Literaturwissenschaftlerin, die an ihrer Magisterarbeit über „Literatur im Netz“ arbeitet, an die im Impressum angegebene Mail-Adresse und stellte einige Fragen zu meinem Romanprojekt "Melusine featuring Armgard".


Liebe Frau S.,

Ihre Anfrage hat mich gefreut. Jede, die schreibt, denke ich, freut sich über Interesse an ihren Texten. Entschuldigen Sie daher, dass ich erst jetzt antworte. Ich brauchte ein wenig Zeit, um über Ihre Fragen nachzudenken und meine Überlegungen zu formulieren.

Sie fragen mich, warum ich mich bei dem Roman-Projekt "Melusine featuring Armgard" für die Form des Blogs entschieden habe. Die Gründe hierfür, soweit ich sie selbst analysieren kann, sind persönliche und formale. Die Doppelfigur Melusine – Armgard/Anne, das Schwesternpaar, das doch eine Frau ist, wurde mir bei einem Besuch am Stechlinsee vor anderthalb Jahren plötzlich gegenwärtig. Sie waren einfach da, mit ihren Gefühlen, ihren Lügen und Versprechungen, ihren Hoffnungen und Sehnsüchten. Wie das zuging, kann ich nicht erklären. Die Geschichte allerdings, die sie zu erzählen hatten, merkte ich schnell, war auch und vor allem die Geschichte einer Ehe und rückte mir auf schmerzliche Weise nahe. Ich wollte das schreiben, aber ich wollte mich nicht damit identifizieren. Die Texte nur auf dem Server zu speichern, über einen Blog, den die Melusine in ihrem Namen  betrieb, und nicht auf der eigenen Festplatte oder einem Stick, schien mich als Person völlig von diesem Schreiben zu distanzieren. Das stellte sich als ein Irrtum heraus, der mich jedoch weiter brachte (hierzu auch: Wer spricht? Melusine, Armgard und Ich).

Das bringt mich zu jener anderen Frage, die Sie stellen, „weshalb Sie die verschiedenen Perspektiven gewählt haben“. Schon das Erscheinen der Melusine/Armgard-Figur, also der mythischen Frauengestalt (Vgl.: Limnologie oder Über Undinen und Melusinen), die unmenschlich bleibt und der Frau, die Menschenkinder gebiert, legte mindestens zwei Perspektiven nahe. Denn diese beiden, wie wohl in einem Körper vereint, sprechen nicht mit einer Stimme. Sie erleben auch, was ihnen widerfährt, nicht identisch. Der einen wird es Teil der chronologischen Erzählung: „Wie ich wurde, die ich bin“ (in diesem Fall in einer Paar-Beziehung im „Nach-Wende“-Deutschland), der anderen ist es Wiederkehr der ewigen Variationen des Werdens und Vergehens (aus dieser Empfindung entstand auch das Sequel: "ICH KÜSSE MEIN LEBEN IN DICH. Die Martenehen" ). Während des Schreibens wurde mir klar, dass eine Beschränkung auf weibliche Stimmen die Gefahr barg, zu sehr in ein Lamento abzugleiten. Das wollte ich vermeiden, indem ich Fontanes Stechlinsee erzählen ließ, was derweil den Männern geschah. Die Form des Blogs bietet sich geradezu an, mit unterschiedlichen Erzählstimmen zu arbeiten. Die Erzähler:innen erhalten je ihre eigene mail-Adresse und ihr Passwort. Das Blog-Format ermöglicht die Aufspaltung des Autor-Ich, ja, es legt sie sogar nahe. Für mich, unabhängig von diesem konkreten Roman-Projekt, verwirklicht sich auf diese Weise ein modern-postmoderner Traum oder – wenn Sie so wollen – ein Alptraum: Die Autorschaft gibt ihre Autorität ab an die Erzähler:innen, die sich verselbständigen. Sie wird sozusagen zur bloßen Herausgeberin (vgl. dazu: hier). Was in der Erzählung angestrebt wird: dass die Figuren realer werden als die Autorin, wird auf diese Weise schon erzählend wahr. Wenn ich schreibe, schreibe ich nicht als Armgard/Anne, Melusine oder Stechlinsee, sondern sie sprechen durch mich. Mir ist bewusst, dass dies wie eine Selbst-Mystifizierung klingt, zudem abgeschrieben bei einer Reihe anderer Autor:innen, die solches behaupteten (denken Sie an Uwe Johnson, der mit seiner Gesine sprach) auch schon lange, bevor es das Internet gab. Doch glaube ich tatsächlich, dass das Netz die schon vorher brüchig gewordenen Konstruktionen von Identität, Authentizität und Subjektivität endgültig auflösen wird. Es entbindet die Selbstentäußerung in der Schrift vollständig von einem Körper (nämlich dem im Fetisch des Buches gespeicherten), legt Vervielfältigung und Diversifikation nahe. Die Folgen davon werden von vielen heftig beklagt: Entmaterialisierung, Verantwortungslosigkeit, betrügerische Manipulation. Literarisches Bloggen, meine ich, könnte zeigen, wie mit diesen neuen Formen auch umzugehen ist: durch Thematisierung der Körper-Sprache,  Inszenierung von Verletzlichkeit und die Wahrhaftigkeit der Nicht-Identität.

Und so komme ich zu Ihrer letzten Frage: Warum ich so besonderen Wert auf die umgekehrte Chronologie lege, also das rückwärts gewandte Erzählen. Noch bevor mir Melusine/Armgard und der See begegneten, hatte mich die Form des Blogs beschäftigt, die dafür sorgt, dass jeweils der jüngst eingestellte Text oben steht, was – liest man die Texte nacheinander – eine Umkehrung der Chronologie darstellt. Als ich mich zum ersten Mal bewarb, begann man seinen Werdegang im tabellarischen Lebenslauf noch mit der Einschulung. Inzwischen ist das unüblich. Man anerkennt, dass ein künftiger Arbeitgeber wenig Interesse an der Frage: „Wie ich wurde, die ich bin“ hat, sondern unmittelbar wissen will, mit wem er es jetzt zu tun hat. Ich glaube, diese Umstellung, so banal sie auf den ersten Blick aussehen mag, bildet eine grundsätzliche Verschiebung in der Selbstwahrnehmung der Individuen ab. Das bürgerliche Subjekt , das sich über die Erzählung seiner eigenen Geschichte erkannte, ist obsolet geworden. Auch dies könnte man schlicht beklagen. Jedoch steckt darin auch eine Chance: Nicht mehr was geschah, sondern was und wie erinnert wird (über Erinnern auch hier:), wird zum Gegenstand der Erzählung. Das ist nicht neu, sondern prägt bereits die Moderne. Neu an der Form des Blogs wäre, dass dieses Erinnern als Vergegenwärtigung nicht nur sprachlich, sondern in der Struktur des Mediums erscheint. Die Figuren Armgard/Anne, Melusine und der Stechlinsee erzählen nicht lang Vergangenes, sondern unmittelbar im Anschluss an das  Erleben. Jedoch bewegen sich die fiktiven Einträge aus der Gegenwart (in diesem Fall dem November des Jahres 2009) in eine mögliche Vergangenheit zurück (hier der November 1989). Wenn der letzte Eintrag geschrieben ist (sollte das jemals der Fall sein), wäre auf diese Weise eine Vergangenheit, die es nie gab, real geworden: die vollkommen lineare chronologische Erzählung. Eine Leserin könnte die Roman-Erzählung dann vom Anfang her lesen. Damit ist die Form des Blogs aufgegriffen und umgekehrt.

Es ist, wie Sie bemerken werden, ein durchaus konservatives (d.h. bewahrendes) Anliegen, das dahinter steckt: Nicht zufällig bezieht sich das Projekt auf den sogenannten „realistischen“ Roman des 19. Jahrhunderts. Wie der alte Stechlin  bei Fontane das Vergehende verkörpert, das – aus gutem Grund  - untergeht, so sucht dies Festhalten an strenger Chronologie (allerdings rückwärts) eine Form der Selbstwahrnehmung, also die des bürgerlichen Menschen, noch einmal darzustellen, bevor sie verschwindet.  

Ich danke Ihnen für Ihr Interesse und hoffe, Sie können mit dieser Selbst-Erklärung etwas anfangen. Bedenken Sie aber, dass jeder Selbstinterpretation einer Autorin/eines Autors mit äußerstem Misstrauen zu begegnen ist. „Denn sie wissen nicht, was sie tun...“

Herzliche Grüße

Melusine Barby (aka J.S. Piveckova)

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