Wir sahen außergewöhnlich schöne junge Priester neben ihren älteren Vorgesetzten durch die Vatikanstadt eilen, in der Via dei Cestari nach eleganter Garderobe Ausschau halten oder in der französischen Nationalkirche San Luigi dei Francesi ihren Verwandten aus der Provinz die Kapelle mit den drei Caravaggio-Gemälden über das Leben des Evangelisten Matthäus zeigen. In ganz Rom wird an den Zeitungsständen ein Kalender für 2012 angeboten, der jeden Monat einen anderen jungen Priester zeigt. Sie alle folgen mehr oder weniger dem Modell, das Tintoretto vor fast einem halben Jahrtausend als Sekretär eines alten Herrn porträtierte (und das ich heute im Palazzo Colonna sah; Danke für den Tipp an ANH): ein junger Mann mit fast noch weichen, kindlichen Zügen, vollen Lippen und ergebenem Blick. Man ahnt, dass die Brust blank wäre, wenn man einem dieser Schönen das Hemd aufknöpfte.
Männliche Schönheit ist offenbar knabenhaft. Überall stoßen wir auf Bilder und Statuen schöner Jünglinge. Gestern sahen wir Johannes den Täufer von Caravaggio in der Galleria Doria Pamphilj, für den wohl des Malers jugendlicher Geliebter Modell stand. Caravaggio habe die Antike als künstlerisches Vorbild abgelehnt und seine Modelle lieber unter den Menschen des niedrigen Volks gesucht, sagt man. „Auf einigen seiner Bilder ... drängt er uns seine päderastischen Neigungen peinlich auf. Es hat große Künstler gegeben, denen solche Neigungen nicht fremd waren, ohne dass uns deswegen ihre Werke peinlich würden.“ (schreibt Eckhart Peterich in einem Reiseführer von 1961, den sich Morel antiquarisch besorgt hat). Betrachtet man die antiken Statuen, die im Vatikan ebenso ausgestellt sind wie in all den privaten oder vordem privaten Palästen der „großen Familien“ , so lässt sich nicht leugnen, dass die Vorliebe für männliche Schönheit in Gestalt gerade erst dem Knabenalter entwachsener Jünglinge eine lange Tradition hat. Sie können gezeigt werden als jugendliche Götter. Dann wird ihr blanker Körper, je nach Mode des Zeitalters mehr oder minder muskulös durchgebildet, vom Betrachter in „stiller Einfalt“ gleichsam angebetet. Was dem Auge gefällt, ist dabei der nackte Körper, auch das primäre Geschlechtsteil ist nicht verhüllt. Wird die dargestellte Männlichkeit älter, so ist sie vor allem als mächtig erkennbar und weniger als schön. Die zerfurchten Gesichter mit wildem Haar- und Bartwuchs beginnen über die Körper zu dominieren, deren Inszenierung jetzt der Durchsetzung von Macht dient. In Darstellungen älterer männlicher Ganzfiguren sind diese fast immer in Kämpfe verstrickt.
Der Blick, mit dem die Bildhauer und Maler die schöne Gestalt des jungen Mannes erfassen, gleicht in vielerlei Hinsicht demjenigen, den andere auf „die Frau“ werfen. Junger Mann und Frau sind beide Objekte des Begehrens eines erwachsenen Mannes, der sein Auge aus einer Position der Überlegenheit auf sie richtet. Sie können (durch ihn) zu Göttern oder Göttinnen erhoben und zur reinen Anbetung freigegeben werden. Solange dies so bleibt, vermag selbst der Blick des kunstkundigen Peterich nichts Anstößiges in ihrer Nacktheit entdecken. Dass die Kurie Michelangelos ursprünglich nacktem Jesus in der Santa Maria sopra Minerva nachträglich ein bronzenes Tuch um die Lenden zwang, mag da nur lächerlich erscheinen. Dennoch bezeugt das bronzene Tuch eine Schamhaftigkeit, die sich – bis in unsere Tage - durchgesetzt hat, und die primären Geschlechtsteile von Männern und Frauen der Schau entzieht (und damit gerade den Blick auf sie mit Begehren auflädt). Die Entblößung dieser Teile wird als beschämend empfunden; das Zugeständnis der Entblößung als Einwilligung in die sexuelle Aktion. „Sich freimachen“ als Metapher beschreibt dies und wendet es zugleich aseptisch auf die medizinische Praxis an, wo es auch Unterwerfung (unter den Blick des Fachmanns/der Fachfrau) ist.
Die Scham ist jedoch nur deshalb von Nöten geworden, weil Künstler wie Caravaggio die Objekte der Begierde vom Thron der Götter gezogen haben. Seine Jünglinge schauen mit „Schlafzimmerblick“ heraus aus dem Bild auf den Betrachter; sie sind sich ihrer Schönheit und des Begehrens, das sie auslösen, bewusst; sie kalkulieren damit und zeigen Bereitschaft, es einzulösen. Erst wo das dargestellt werden kann, wird die Nacktheit zum Skandal. Denn sie ist jetzt erst Potenz und Potenzial – der Verwirklichung des Begehrens, des Eintretens in den Kreislauf von Begehren, Befriedigung, Erschöpfung, Begehren.
Die Frage, die sich stellt, ist: Wurde die Scham erweckt, um dem Begehren einen Schau-Raum zu öffnen? Die Tarnung der Gier hinter „edler Einfalt, stiller Größe“? Denn kaum vorstellbar ist, wie all die nackten Götter auf uns wirkten, wären sie nicht ruhig gestellt in weißem Marmor, sondern bunt und fleischig, wie sie wohl in der Antike aussahen. Es fällt auf, dass viele der Statuen entmannt wurden, nur noch die Hoden zurückblieben und ein Loch sich auftut, wo des Mannes Kraft sein sollte. Da wütete die christliche Moral, möglicherweise, vielleicht war es auch nur der Zahn der Zeit, dem ebenso viele edle Nasen zum Opfer fielen.
Und etwas fehlt, was mir schon lange fehlt. (Vgl. dazu auch hier: und hier:) Ich schrieb es weiter oben: Die Statuen und Bilder, wie sie die männliche Schönheit zeigen, sind Ideale eines männlichen Blicks. Wie sähen sie aus, hätte ein weiblicher Blick sie gebildet und weibliche Hände sie geformt? Das Glied des idealisierten Jünglings ist meist recht klein, fällt auf. Wäre das auch die Idealvorstellung eines von weiblicher Seite entwickelten männlichen Schönheitsmodells gewesen? Stünde nicht der Mann im Mittelpunkt dieser Darstellungen – anstelle des Jünglings? Ich stelle mir mehr Aufmerksamkeit vor für Details männlicher Körper: behaarte Waden und Arme, eine Grube in der Schulter, rauere Haut, Sommersprossen und Muttermale, Falten um den Mund, die nicht nur Stärke und Willen, sondern vor allem auch Humor andeuten, Hände, die greifen können und halten und dennoch etwas Zartfühlendes an sich haben.
Letztlich habe auch ich – das bemerke ich, während ich schreibe, erneut - keine Idee vom Bild männlicher Schönheit in einem weiblichen Blick. Die Schönheitsvorstellungen, die ich mir mache, sind immer schon „bewegte Bilder“: ein Lächeln, eine Art, die Hand zu heben, ein Schwung der Hüften. William Hogarth schrieb ganz ähnlich über sein Weiblichkeitsideal. Keine antike Schönheit, meinte er, könnte einer lebendigen, flirtenden Frau in den Straßen von London das Wasser reichen. Die fehlende Tradition eines weiblichen Blicks auf den Mann und seine Schönheit hindert offenbar eine Frau wie mich, sich und ihren begehrenden Blick in einer klassischen Form wiederzufinden. Anknüpfungspunkte gibt erst von jenem Moment an, wo die Objekte lebendig werden, zurückschauen, (mit-)spielen, die Betrachtende in einen erotischen Tanz verwickeln.
Es war viel Kunst in diesen beiden Tagen: Palazzi, Museen, Kirchen. Es ist spannend und erschöpfend. Noch leide ich nicht am Stendhal-Syndrom, doch morgen werde ich mir ein wenig Ruhe gönnen und zu jenem Ort gehen, an den es mich schon seit Beginn der Reise zieht: den protestantischen Friedhof von Rom. Und weil der Weg dorthin über den Aventin führt, werde ich mich an eine Darstellung von männlicher Schönheit erinnern, wie sie eine amerikanische Fernsehserie in diesem Viertel Roms ansiedelt – und die mich durchaus überzeugt (optisch): Hier.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen