Sonntag, 17. Juli 2011

Reisejournal Rom (9): CINECITTÁ oder BARBARISCHE BILDUNG

Gott macht Mittagspause. San Pietro in Vincoli, wo Michelangelos zorniger Moses sitzt, öffnet erst wieder um 15.00 Uhr. Also nutze ich die Zeit und schreibe, nicht direkt ins Netz diesmal oder als Word-Datei, sondern mit der Hand in mein kleines Notizbuch, das ich immer bei mir habe. Gewöhnlich formuliere ich hierein jedoch keine vollständigen Sätze, sondern bloß Stichworte, Fragmente, Erinnerungsfetzen, Zitate, Skizzen. Jetzt jedoch gilt es die ¾ Stunde zu nutzen, bevor ein Küster (nennt man den Kirchen-Hausmeister auch bei den Katholischen so?) die Pforten wieder öffnet. Ich werde das Geschriebene später einfach abtippen, direkt ins Netz, ohne es noch einmal zu ändern. (Bloß Links will ich noch setzen, an den entsprechenden Stellen mache ich mir ein Zeichen.) Daher wird der Eindruck, den Michelangelos Moses vielleicht gleich noch auf mich macht, in diesem Post keine Rolle spielen.


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Wir waren, vielleicht ahnen Sie dies bereits nach diesem Anfang, heute nicht auf dem Cimiterio acattolico, wie ich gestern noch ankündigte. Dennoch scheint der Link, den ich gestern ans Ende des Post setzte, ganz kalkuliert, als hätte ich da schon geahnt, dass wir statt auf den Aventin nach Cinecittà fahren würden – und, mehr noch, als hätte ich sogar gewusst, dass die US-/britische Serie, deren einer Hauptdarsteller mir als ein (bewegtes) Bild männlicher Schönheit gilt (Ray Stevenson als Titus Pullo), dort gedreht wurde.

Ich wusste das nicht. Doch gestern Abend fand ich heraus, dass die Santa Sabina, die wir uns auf dem Aventin anschauen wollen, an Sonntagen nur für eine Stunde offen ist. Also entschieden wir, stattdessen heute Cinecittà zu besuchen. Die berühmte Filmstadt Roms, die vor Jahren vor dem finanziellen Aus stand, ist erst seit kurzem für Besucher offen. Es gibt kein aufwändiges Showprogramm wie in den Bavaria-Filmstudios in München, wo wir mit den Jungs (noch als Kinder) waren. Stattdessen ist eine liebevolle kleine Ausstellung zu den Filmen, die hier gedreht wurden, zu sehen. Daneben können einige Kulissen und Sets besucht werden, sehr authentisch, denn in ihnen wird tatsächlich noch gedreht.

Helmut Schulze schrieb (mit Bezug auf Lampedusas „Gattopardo“), er halte sich an das Prinzip, keine Verfilmung zu sehen, bevor er das Buch gelesen habe. Ein solches Prinzip käme für mich, die (selbst-)gebildete Barbarin in allzu vielen Fällen einfach zu spät. Wie so viele andere meiner Generation wurde ich durch das öffentlich-rechtliche Fernsehen der 70er Jahre kulturell sozialisiert (also zu einer Zeit, als dort noch einige arbeiteten, die Fernsehen als Volksbildungsprogramm verstanden). Ich sah ohne jede bewusste Auswahl große Filmkunstwerke und Schund, unter anderem was Filmkritiker und –liebhaber für das im Entstehen begriffene Medienimperium des kürzlich verstorbenen Leo Kirch auswählten in Rom, Paris, London, Los Angeles. Ich sah B-Hollywood-Komödien mit Fred MacMurray (den liebte ich), Tarzan, Film noir, alte Stummfilme mit Buster Keaton (den ich, anders als mein Bruder, sehr viel mehr mochte als Charlie Chaplin). Ich war hungrig, neugierig, vorurteilsfrei und anspruchslos. Ich zog mir unterschiedslos a l l e s rein, was nicht ausdrücklich verboten wurde. Zum Beispiel erinnere ich mich sehr stark an ein Verfilmung von Peer Gynt in schwarzweiß, die ich Sonntagmorgens sah, als die Eltern sich ausschliefen (es gab wohl so ein Kulturprogramm namens Sonntagsmatinee). Dieser Film, diese Geschichte berührte mich heftig; doch ich hatte weder von Ibsen noch von diesem Stück je gehört und erst viele Jahre später „erkannte“ ich, was ich gesehen hatte.

Diese Erlebnisse spielen eine wichtige Rolle, wenn ich heute so heftig gegen die Idee der Filter im sogenannten „Jugendmedienschutz“ kämpfe. Ich glaube nicht, dass Jugendliche nur sehen (lesen/hören) sollten, was jemand als „geeignet“ für sie ausgewählt hat. Es entspricht nicht meiner Erfahrung, dass man durch das „Ungeeignete“, (noch) nicht Verstandene „geschädigt“ wird. Vielmehr löst es Fragen aus. Auch halte ich es für mehr als unwahrscheinlich, dass in großer Zahl Jugendliche, ohne diese willentlich anzusteuern, „zufällig“ und „ungewollt“ auf Hardcore-Porno oder Seiten mit Gewaltexzessen im Netz geraten, wovor man sie mit viel technischem Aufwand schützen müsse. Allenfalls könnte ich mich mit der Idee einer Negativliste noch anfreunden, die den Zugang zu einigen Seiten sperrt. In der Regel werden das aber Seiten mit kriminellem Inhalt sein, die auch zu löschen wären. Eine „Positivliste“ aber, wie sie erst kürzlich wieder von wohlmeinenden Pädagogen auf einem Kongress, den ich besuchte, vehement gefordert wurde, lehne ich ab. Kein Erzieher soll zusammenstellen, was das Kind/den Jugendlichen angemessen bildet. Bildung ist ein organischer, auch ein wilder Prozess. Sie führt nicht zu einem Ziel, das ein anderer festlegen kann oder sollte.

Das war nun ein längerer Exkurs, verzeihen Sie, zu einem Thema, das mich schon länger beschäftigt.

Ich sah also – zurück nach Cinecittà – viele Literaturverfilmungen als Kind und Jugendliche lange bevor ich überhaupt ahnte, dass es solche waren. So zum Beispiel auch „Krieg und Frieden“, das – wie ich heute erfuhr – in Rom gedreht wurde. Natürlich war ich verliebt in Audrey Hepburn und blieb das auch für viele Jahre. Ein wenig werde ich es immer sein. 

Eine charmante junge Italienerin führte uns durch die Dekorationen zu Gangs of New York von Martin Scorcese, ein „Männerfilm“, dessen Qualität ich anerkenne, ohne ihn (den Film) zu mögen. Amazing wies mich heute allerdings wiederholt und nachdrücklich darauf hin, dass Gangs of New York seiner Meinung nach einer der besten Filme aller Zeiten sei. Außerdem – wie bereits erwähnt – zeigte man uns die Kulissen der Serie „Rome“, die wir zu Hause auf DVD haben. Und hier wurde auch die Frage, die ich gestern stellte, beantwortet: Was wäre, wenn die marmornen nackten Gestalten Farbe bekämen? Der Set zeigt ein antikes Rom so farbig, wie es wohl tatsächlich in der republikanischen Ära war. An die Wände sind Graffiti geschmiert. Es ist bunt, wild, geil und gemein. (Wie ich es mir dachte.)


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