Donnerstag, 1. März 2012

AUSGESETZT. Warum Emanzipation weh tut.

Das ausgesetzte Kind ist ein Topos abend- und morgenländischer Erzählungen. Ein Säugling im Weidenkörbchen, die Zwillinge an den Zitzen der Wölfin, Mowgli im Dschungel. Ein elternloses Menschenkind in der Wildnis, treibend, bedürftig, schutzlos. Es wird gerettet durch die unbewusst wirkende Macht der Herrschenden oder der Natur. Das Kind ohne nährende Mutter, ausgestoßen aus deren Leib und von dieser verstoßen oder weggerissen, gewinnt aus Schmutz und Krampf und Leid die Freiheit, sich selbst zu schaffen. 

Dies ausgesetzte Kind ist männlich. Es wird aus diesem verlassenen Jungen notwendig ein Führer, einer der „Verantwortung übernimmt“, ein „autonomes Subjekt“: Mose, der jähzornige Anführer der Israeliten auf dem Zug durch die Wüste, ein wahrhaftiges Ebenbild seines eifersüchtigen Gottes, Romulus und Remus, die konkurrierenden und neiderfüllten Brüder, deren Stadt auf dem Brudergrabe wächst, Mowgli, der Schatzfinder, von dem wir allerdings nicht wissen, was für ein Mann er dereinst sein wird. Rudyard Kiplings Roman offenbart noch am ehesten, was die anderen sorgsam im Heldenmythos verbergen: Wie auf Kosten des großen ICHs das ich vernichtet und ausgeschlossen werden muss, seine Abhängigkeiten geleugnet, seine Bindungen durchtrennt werden müssen. Das ICH, vollständig, willkürlich, unabhängig, kann sich nur bilden, indem das ich, unvollständig, unwillkürlich, abhängig, verworfen wird. 

Das Patriarchat, das aus dieser Befreiungsbewegung hervorgeht, hat das alte Wissen um die Zeugung Schritt für Schritt vernichtet. Dem leiblichen Vater hat es den geistigen Vater übergeordnet. Der ICH-Mann ist ein in Wahrheit asexuelles Wesen, dessen Macht der Logos ist, das (geschriebene) Wort, das den Körper verleugnet und dessen Gewalt sich auch unterdrückend gegen das eigene Begehren richtet.  Statt Kinder zeugt die Krone der Schöpfung Ideale und diesen Idealen sollen vor allem die leiblichen Söhne entsprechen.  So treten wir ein in den ewigen Kreislauf der Vernichtung: denn der ideale Sohn muss, um selbst Ideale zeugen zu können, den Vater vom Thron stoßen. Von nun an wird nur noch aus Heldenwunden geblutet.  Je gewalttätiger die Erziehung in einer Gesellschaft, je höher das Ansehen der Waffenträger, desto größer ist das Menstruationstabu. Vom Blut der Fruchtbarkeit soll nicht geredet werden, wo die Herrschaft über Leben und Tod bei denen liegt, die das Gewaltmonopol innehaben.

Ich lese weiter Confurius´ Buch über den Ich-Zwang und der Verdacht erhärtet sich, dass  hier vom männlichen ICH-Zwang die Rede ist, von dessen Ausprägung in fatalen Situationen, wo die Herrschaft über das Selbst, die Selbstbestimmung zusammenbricht. Confurius denkt die geschlechtlichen Implikationen seiner Beispiele nicht mit. Doch ich empfinde sie als schlagend. Der nötigenfalls auch gegen sich selbst gerichtete Selbstbehauptungswille des ICH, dessen stets latente Aggressivität, die eben auch in Auto-Aggressivität umschlagen kann, sind Wiedergänger einer mindestens unterschwellig immer männlich codierten Subjekttheorie und entfalten die Widersprüche einer Männlichkeit, die sich selbst als Ganzes nur denken kann, wenn sie sich ihrer Bedürftigkeit und ihres Begehrens entkleidet.

Ausgesetzte weibliche Kinder sind meist keine Säuglinge mehr. Von ihrer Familie entfremdet, lernen sie zu vergeben und gehen mit den Geläuterten freiwillige Bindungen ein: Iphigenie rettet Orest, Fleurette aus der Blaubart-Sage ist der Trost der späten Jahre ihres Vaters. Die freigesetzten Mädchen suchen nach Bindungen, um zu dienen. Sie gründen keine Reiche, sondern unterwerfen sich als Priesterinnen den natürlich-göttlichen Zyklen und Riten, um schließlich die alten Bindungen zu erneuern. Auch sie aber zahlen einen hohen Preis. Statt sich selbst in eine fiktive Autonomie zu gebären, müssen sie zwischen einander ausschließenden Bindungen wählen: Herkunftsfamilie und –gesellschaft gegen Liebe und neue Freundschaften.

Die Erzählungen, wohlgemerkt, bergen Muster. Sie halten nicht fest, was Männer tatsächlich ausmacht oder Frauen faktisch sind. Sie schreiben allerdings vor, an welchen Bewegungsformen sich Männlichkeit und Weiblichkeit orientieren. Im Mythos konstituiert sich das männliche autonome Subjekt, das ICH aus dem Vater-Mord. Sein Streben richtet sich fortan auf die Statik des Reichs, die Ausgrenzung des Fremden, die Dominanz über die Beherrschten, auch das beherrschte kleine ´ich´, die Verdrängung der eigenen Bedürfnisse. Das weibliche ich entdeckt sich aus der Bindung geworfen, indem es sich sogleich in ein anderes Verhältnis einsetzt: den Dienst an der Göttin, der Anderen. Es bewährt sich in der Entscheidung für die Bindung, die alte oder die neue, und indem es die Bindung eingeht, gibt es immer wieder das ICH auf, die Selbstbeherrschung und Selbstbestimmung.

Emanzipationsbestrebungen beschreiben sich selbst häufig als Streben nach Selbst-Bestimmung. Sie fassen Freiheit als die Befreiung aus Abhängigkeiten und Bindungen. Wo feministische Bewegungen dieses Denken übernehmen, schreiben sie notwendig ihrem Freiheitskampf den Selbsthass gegen das ich, gegen das "Weibliche" ein. Wo das ICH sich frei fühlt, übernimmt es Verantwortung für „den anderen“, indem es sich diesen vom Leib und unter sich hält. Das "autonome Subjekt" kann Beziehungen nur als Herrschaftsverhältnisse denken und erfahren. Es sehnt sich danach zu unterwerfen. Dagegen weiß das ich um seine Bedürftigkeit und Beschränkung. Es setzt sich in Bindungen ein und erfährt sich nur in diesen. Ausgesetzt sucht es beinahe verzweifelt nach der Möglichkeit, sich zu unterwerfen. Dieses paradoxe und angespannte Wechselspiel zwischen ICH und ich hat einen nicht geringen Anteil am romantischen Reiz von (heterosexuellen) Liebesverhältnissen.

Der Irrtum einer (als männlich codierten) Autonomie liegt darin, dass sie absichtsvoll ausblendet, wie das Subjekt selbst Teil der Welt ist, die es zu erkennen und zu beherrschen vorgibt. Der blinde Fleck einer (als weiblich codierten) Adaption besteht in dem Willen zur Selbstfesselung, um geliebt zu werden. 



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