Montag, 21. Juni 2010

ENTDECKEN SIE JANET FRAME


STRANGE

´People are strange?´ ´Yes, after the indifference of bees and lions to small print, fossils, promises and disaster fund.“  

Ich lernte die Autorin  Janet Frame  1990 durch den überraschenden Erfolg der Verfilmung ihrer dreibändigen Autobiographie „An Angel At My Table“ kennen. Jane Campions Film gewann zu Recht als erster neuseeländischer Film einen Preis bei den Filmfestspielen in Venedig. Noch heute erinnere ich einzelne Bilder des Films: das ungelenke Kind mit dem unwahrscheinlichen roten Haarwust auf einem einsamen Pfad durch die grünleuchtenden Hügel Neuseelands. Die Farben sind vollkommen klar und hart. In Campions Film ist Janet Frame immer ganz da und fügt sich doch nirgends ein. Mit ihrem unverwandtem Blick vermag dieses Kind, das zu einer jungen Frau wird, jedoch das Schöne im Fremden zu sehen und es schreibend zu erschaffen. Kein Felsen am Meer, keine Eisenbahnarbeiterfamilie, keine Bibliothek im Häuserdschungel, kein Boardinghouse kann dieser stets Anderen Zuflucht bieten. Ihre Heimat wird die Spiegel-Stadt, die sie sich erschreibt. So endet folgerichtig der letzte Band der Autobiographie, der den Titel „An Envoy from Mirror City“  trägt: I stare more closely at the city in my mind. And why, it is Mirror City, it´s not Dunedin or London or Ibiza or Auckland or any other cities I have known. It is Mirror City before my own eyes. And the Envoy waits.“ In Campions Film kommt am Ende der ungetreue Geliebte sich zu verabschieden, doch sie, Frame, öffnet nicht, sondern schreibt weiter auf ihrer alten Schreibmaschine an ihrer Geschichte. Das ist, so wie es hier gezeigt wird, ein Happy End.

Das Interesse für Janet Frame konzentrierte sich nach dem Erfolg von Campions Film auf ihre Autobiographie. Dies hat bis heute – mindestens in Deutschland – den Blick darauf verstellt, welche Autorin von Weltrang hier zu entdecken ist. Die scheinbare Tragik von Frames Leben, ihre Jahre in der psychiatrischen Anstalt, die Elektroschocks, der Tod zweier Schwestern durch Ertrinken, die nur knapp vermiedene Lobotomie, das   zurückgezogene Leben der späteren Jahre – all dies trug dazu bei, Frames Texte vor allem als authentische Wiedergabe eines traumatischen Frauenschicksals zu lesen, die zudem allerlei Klischees bedient: die Verbindung von genialer Kreativität und Irrsinn, die Benachteiligung eines Arbeiterkindes, den Schmerz einer nach herkömmlichen Maßstäben wenig attraktiven Frau. Man liest ihre Texte aus dieser Perspektive – unterstelle ich -  mit einer Mischung aus Voyeurismus und wohlfeilem Mitleid, indem man sich einerseits mit dem Leid identifiziert und sich andererseits stets bewusst ist, es sei einem selbst doch deutlich besser ergangen. Diese unangenehme Mischung, die vor allem herablassend wirkt, ist leider gegenüber der Literatur von Frauen – gerade auch durch weibliche Leserinnen – verbreitet. Die Autorin wird gewürdigt dafür, dass sie die weibliche Opferrolle ein weiteres Mal festschreibt und damit alle rechtfertigt, die sich in dieser Opferrolle eingerichtet haben.

Janet Frames Texte bieten dieser Lesart allenfalls durch ihre Inhalte Futter. Die Erfahrungen, aus denen heraus sie schreibt, sind nun einmal diejenigen eines Kindes und einer jungen Frau aus Verhältnissen, die vor ihr noch nie literarisiert wurden: neuseeländische Eisenbahnarbeiter und Schafzüchter, Junglehrerinnen in Dunedin, Insassen einer psychiatrischen Anstalt am Ende der Welt. All denen, die sie be-schreibt, ist  nie zuvor ein „Gesandter aus der Spiegelstadt“ begegnet. Frames Blick in diese, in ihre Welt aber ist von Beginn an der Blick einer Schriftstellerin; sie ahmt nicht nach; sie bildet. Daher ist auch die Autobiografie Frames keineswegs zuvörderst die Niederschrift eines Frauenschicksals, sondern schildert die Geburt einer Autorin. In „To-The-Island“ übt sie die Hand-Schrift, die Traditionen der „bildungsfernen“ Familie fruchtbar machend : I, too practice signature. It was a habit my father had, too, for signing his time sheets in an impressive way.(...) Janet Peterson Frame, I wrote, looping carefully. In early February, as a member of a Railway Family with a privilege or priv. Ticket, I traveled south on the Sunday slow train to Dunedin and my Future.“ Ich glaube, alle, die schreiben, kennen diesen Beginn: die Faszination an der Signatur, die einmal das Selbstgeschriebene zeichnen wird. Nicht jede, die so beginnt, wird Autorin. Aber keine, die Autorin wird, beginnt ohne diese Zeichnung: die Verwandlung des eigenen Namens in Selbst-Schrift. Im zweiten Teil der Autobiographie „An Angel at My Tabel“, nach der Entlassung aus den verschiedenen  psychiatrischen Anstalten, nach den Versuchen als Lehrerin in Dunedin, bricht sie auf nach Europa. Jedoch erwartet die Erzählerin kein geographisch fixiertes Europa auf der anderen Seite der Erdhalbkugel, sondern das Mittelmeer, wie es in Shelleys Versen besungen wird: But – oh, I was daunted by the length and unfamiliarity of the path forward, the sea journey across the immense Pacific, across the Englisch Channel, the night in Paris, travelling through France, Spain and across the Mediterreanean! Why? I was sustained then, as ever, by the prospect of seeing through Shelley eyes the landscape and The blue Mediterranean, where he lay//Lulled by the coil of his criststalline streams.“

Frames dreibändige Autobiographie, die zum Gesandten aus der Spiegelstadt führt, ist immer wieder lesenswert. Und lesend begreift man, dass er, der Gesandte, auf sie gewartet hatte.  Wer mit den „Stories & poems“ beginnt, die zugleich bezaubernd und leidenschaftlich eine – erwiderte - Liebe zur Welt der (englischen) Sprache besingen, läuft gar nicht erst Gefahr, Autorin und literarisches Ich zu identifizieren. Für deutsche Leser liegt derzeit leider keine Übersetzung vor. Doch wer Englisch lesen kann, sollte sich Frames Prosa und Lyrik keinesfalls entgehen lassen. Sie schöpft ihre „Stoffe“ aus dem schlichten, unaufgeregten Alltag sogenannter „einfacher“ Menschen und verleiht ihren Figuren und Szenen mit ihrer Sprachmacht die Dignität, Tragik und Komik „großer“ literarischer „Helden“ und „Heldinnen“.  Dabei scheinen ihre Mittel so einfach und erst beim Wiederlesen wird klar, mit welcher Virtuosität man es zu tun hat. In The Lagoon“ enttäuscht sie jede Strandromantik, die der Titel evozieren könnte, im ersten Satz: „At low tide the water is sucked back into the harbour and there is no lagoon, only a stretch of dirty grey sand shaded with dark pools of sea-water where you may find a baby octopus if you are lucky, or the spotted orange old house of  a crab or the drowned wreckage of child´s toy boat.“  In diesem einen Satz gibt Frame eine Totale, zoomt dann den Sand heran, en detail auf den Babytintenfisch und den vor dem schlammigen Grau orange schimmernden Krabbenpanzer; auch Müll, weist sie den weniger glücklichen Leser ein, wird zu finden sein. Wir sind im Bilde: mit ihr am Strand, an der Lagune, die keine Lagune ist, wenn Ebbe herrscht. Schon im nächsten Absatz aber wird, was uns als Abbild der Wirklichkeit erschien, als Erzählung entlarvt: „All this my grandmother told me....“ Die Großmutter spricht von der Lagune und der Urgroßmutter, der geheimnisvollen Maori-Prinzessin, und das Kind spürt, dass hinter der Beschreibung, die die Alte liefert, sich eine Geschichte verbirgt, die nicht erzählt wird. Erst Jahre später, nach dem Tod der Großmutter, enthüllt bei der Betrachtung eines Fotos, das die erzählende Großmutter auf der Veranda zeigt, die Tante: „Your great grandmother war a murderess. She drowned her husband, pushed him in the lagoon.“ Es sei eine Geschichte, sagt die Tante, wie sie im Skandalmagazin „Truth“ gerne gedruckt werde, jedoch: „It´s an interesting story, she said. I prefer Dostojevsky to Truth.“  Frame beendet die Geschichte, fast wie sie begonnen hat: „At low tide there is no lagoon. ...I remember we used to skim thin, white stones over the water and catch tiddlers in the little creek near by and make sand castles, this is my castle we said you be Father I´ll be Mother and we´ll live here and catch crabs and tiddlers for ever.“ Doch nun erzählt sie nicht von einer Erzählung, sondern von einer immerwährend gegenwärtigen Erinnerung. Nur vier kleine Seiten füllt diese Geschichte über Erinnerung und Erzählen, über Wahrheit und Lüge, Kindheit und Erwachsenwerden. In ihr zeigt sich beispielhaft die ganze Meisterschaft Janet Frames.

Noch mehr liebe ich Frames Gedichte: Neben meinem Bett liegt der Band in der Nacht, damit ich ihn vor dem Einschlafen noch einmal aufschlagen kann; neben meinem Lesesessel am Tag, damit ich jederzeit eine Brise dieser rauen und zärtlichen Seeluft einatmen kann.

Nur eines der Gedichte gebe ich hier wieder, weitere finden Sie hier:
http://gleisbauarbeiten.blogspot.com/p/lekturen-wort-des-tages.html


WET MORNING

Though earthworms are so cunningly contrived
without an opposing north and south wind
To blow the bones of Yes apart from the flesh of No,
yet in speech they are dumbly overturning,
in morning flood they are always drowned.

This morning they trapped under the apple tree
by rain as wet as washing-days is wet and dry.
An abject way of the resilient anchorage of trees,
the official précis of woman and man,
the mobile pillarbox of history, to die!


Ein Engel an meiner Tafel (Die vollständige Autobiographie in einem Band) (deutsch):
http://www.amazon.de/meiner-Gesandte-Spiegelstadt-vollständige-Autobiographie/dp/3492222811/ref=sr_1_1?ie=UTF8&s=books&qid=1276953148&sr=1-1


The Lagoon & other stories (englisch):
http://www.amazon.de/Lagoon-Collection-Stories-Janet-Frame/dp/0747531897/ref=sr_1_6?ie=UTF8&s=books-intl-de&qid=1276952938&sr=1-6


Selected poems:
http://www.amazon.de/Storms-Will-Tell-Selected-Poems/dp/1852247894/ref=sr_1_14?ie=UTF8&s=books-intl-de&qid=1276953062&sr=1-14

5 Kommentare:

  1. Danke für den Tipp; ich hatte das Buch schon einmal ins Auge bzw. Brillenglas gefasst (und nicht nur, weil die Protagonistin rothaarig ist), und dann aber wieder "vergessen"... Jetzt habe ich es mir in der Bibliothek bestellt und bin gespannt, ob ich neugierig bin...

    AntwortenLöschen
  2. wow, dein blog ist wie englisch hausarbeiten in lecker. schreibt dir eine anglistin und hat wirklich schon hunger auf einige der vorgestellte women's literature bekommen. tatsächlich wurde diese im studium ja eher pflichtbewusst dem kanon untergemischt, wenn's bei größen wie den brontes oder woolf nicht mehr anders ging und ansonsten in kleinen sonderseminaren wie "women and fiction" oder "the mad woman in the attic" versammelt. nicht unbedingt der "room of one's own", der wünschenswert ist ;)
    deine überschrift ist "entdecken sie janet frame" - and i did. thx a billion :)

    beste grüße, das a&o

    AntwortenLöschen
  3. gerade fällt mir auf, dass ich - trotz der formellen anrede ind er zitierten überschrift- einfach geduzt habe. sorry for that. das internet frisst ständig sämtliche conduct books ;)

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Das freut mich sehr, dass du (ich leg´keinen Wert auf das Sie. Manche Siezen, manche Duzen, mir ist´s gleich!) diesen Post entdeckt hast. Janet Frame war und ist eine der tollsten literarischen Entdeckungen für mich. Herzliche Grüße M.B.

      Löschen