Gediegen im Sauerland
Für dieses Wochenende bin ich in einem Landhotel im Sauerland abgestiegen. („Abgestiegen“: Ich vermute, das Wort wird über kurz oder lang aus diesem Bedeutungszusammenhang getilgt werden. Die Zeiten, in denen man vom Bock der Postkutsche kletterte, liegen zu weit zurück. Schade.) Das ist ein gehobenes Hotel der Mitteklasse, sehr komfortabel, riesige Zimmer mit Sitzecke, gute Matratzen, geräumige Bäder, Balkon mit Blick auf die idyllische Landschaft (inklusive Kühe). Mir gefällt es nicht. Alles hier ist: gediegen. Bequem. Und hässlich. Der Teppichboden ist kotzefarben. Die Schränke (gleichfalls sehr geräumig) haben Eichefurnier-Fassaden. Das ist ein Ambiente für Leute, die Freitagabends Hansi Hinterseer gucken. Ich unterstelle denen sofort das Schlimmste. Die besuchen Verkaufsveranstaltungen für heimelige Keramik (wird heute ab 14.00 Uhr angeboten), sie haben „nichts gegen Ausländer, aber...“, sie fühlen sich immer als Mehrheit, die „ja noch mal wird sagen dürfen.“ In Wahrheit sind das meine Vorurteile. Ich fühle mich trotzdem nicht wohl. Diese „Hauptsache: Sauber“-Ausstrahlung. Spätestens um 9.15 Uhr klopft zum ersten Mal das Putzkommando: „Oh, Entschuldigung, dauert es noch einen Moment?“ „Ja“, sage ich und denke: „Das dauert noch deutlich mehr als einen Moment.“ Ich bin kein Frühaufsteher. Und ich hasse es, gehetzt zu werden.
Hotels spielten in meiner Kindheit gar keine Rolle. Hotels, dachten wir, seien etwas für „die Reichen“. Als ich sieben Jahre alt war, konnten sich meine Eltern zum ersten Mal ein Auto, einen VW-Käfer leisten. Wir fuhren an den Bodensee und übernachteten in winzigen Pensionen, fließend warm und kalt Wasser. Ich erinnere mich an eine besonders. Das war in Immenstaad. Die Wirtin deckte uns den Tisch im Garten. Wir saßen fast direkt am See und ich empfand das als ungeheuren und unerwarteten Luxus. Später folgten dann die Sommerurlaube an der Ostsee. Mein Bruder und ich saßen erhöht auf dem Rücksitz, unter uns, verborgen unter einer Decke, fast der gesamte Hausrat, denn ein Hotel war nicht drin. Wir hatten eine Ferienwohnung und mussten Bettwäsche und Kochutensilien mitbringen.
Später, als ich begann mit Freunden unterwegs zu sein, übernachteten wir in Jugendherbergen oder Zelten. Zum ersten Mal in einem Hotel landete ich ganz zufällig. Meine Freundin und ich hatten in den ersten Semesterferien zwei Monate in einer Fabrik im Schichtdienst gearbeitet und dabei richtig viel Geld verdient. Nach dem letzten Arbeitstag setzten wir uns – ohne festen Plan – in den Nachtzug nach Paris. Im Morgengrauen am Gare de l´Est waren wir unschlüssig. Paris lockte. Andererseits fühlten wir nach den Monaten in den düsteren, staubigen Fabrikhallen Lust auf Brise und Meer. Wir entschieden, direkt weiter zu fahren in die Bretagne. St. Malo. Vom Bahnhof schleppten wir unsere Rücksäcke in die mauerbegrenzte Altstadt. Ein schmales Haus, geduckt in eine Seitengasse. An der Rezeption fragten wir nach dem Preis des billigsten Zimmers. Er war in Ordnung. Und wurde sogar noch einmal gesenkt, als wir beschlossen 4 Wochen zu bleiben. In dem Hotel gab es kein Frühstück, erinnere ich. Wir ernährten uns von Baguette, Käse und Obst.
Als junge Frau dann unterwegs mit dem Geliebten: wenig Geld, aber die Sehnsucht, Europa kennenzulernen. Schäbige Hotels, manchmal richtige Absteigen. Paris, London, München, Wien, Siena, Prag, Madrid, Brighton. In Madrid stand mitten im Zimmer eine golden gestrichene Badewanne, Gipsstuck an der Decke, gleichfalls vergoldet. Kitsch as Kitsch can. Wunderbar. In den Nächten das Leuchten der Neon-Reklamen von den gegenüberliegenden Spelunken.
Berufserfahrungen: Im Auftrag meiner Arbeitgeber unterwegs, untergebracht in Hotel-Ketten-Filialen. Da weiß man, was man hat. Zuverlässig. Unspektakulär. Das Design ist oft schlecht, aber meistens nicht besonders störend. Hauptsache der Fön funktioniert. Nie ganz gewöhnen werde ich mich an die Chip-Karten statt der Schlüssel. Worauf die Macher achten sollten (mein Tipp als Kunde): eine vernünftige Lampe am Bett. So dass man beim Lesen nicht die Augen oder die Halsmuskulatur beschädigt. (Ich lese immer vor dem Einschlafen.)
Das schönste Hotel, in dem ich jemals war, ist das Mirror Lake Inn in Lake Placid, NY. Komfortabler, bequemer, großzügiger noch als dieses sauerländische Landhotel hier. Aber in jedem Detail geschmackvoll. Ein unaufdringlicher, aufmerksamer Service. Niemals würde dort jemand um 9.15 Uhr an der Tür klopfen. Wäre ich reich, so würde ich im Mirror Lake Inn eine Suite buchen. Die mir ganzjährig zur Verfügung steht. Wandern in den Adirondacks. Das zweitschönste, das ich kenne, dagegen ist schon wieder eine kleine Pension. In Rockford am Atlantik. Bestickte Kissen. Sogar auf der Fensterbank. Im Fenster liegen und aufs Meer schauen. Der plüschig-blumige Frühstücksraum. Und die beiden rosagerüschten Schwestern mit den Teekannen, die immer wieder fragen: „Can I help you, dear?“
Menschen in Hotels. Abends an der Bar. Gespräche über Gott und die Welt. Oder ermüdender Small talk. Selbstdarsteller, die sich am verstimmten Klavier produzieren. Der Luxus der flauschigen Bademäntel. Rührei zum Frühstück. Und: sich im Wellness-Bereich verwöhnen lassen. Diese Auszeit habe ich mir für heute ausbedungen. Bevor es nachmittags im Programm weitergeht, suche ich das Kosmetikstudio auf. Diese Aussicht versöhnt mich mit dem gediegenen Landhotel. Ich bevorzuge die kleinen Pensionen. Ein leichter Hang zum Schäbigen. Oder aber: Luxus pur. Ohne Abstriche.
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