von Morel
Alle Wünsche wurden erhört. Eine weiße Schneedecke bedeckte das Land zu Weihnachten, so dass sich manche Gäste im neuen Jahr Hotelzimmer buchten, um es am Abend nicht zu weit zu haben. Die Rede ist nicht von Deutschland im Jahre 2011, sondern von Irland etwa 100 Jahre früher. In der Abschlussgeschichte des Erzählungsbands Dubliners, The Dead, schneit es immer noch, so dass der junge Autor James Joyce die Gelegenheit hat, einen der schönsten Schlusssätze der modernen Literatur zu schreiben: „His soul swooned slowly as he heard the snow falling faintly through the universe and faintly falling, like the descent of their last end, upon all the living and the dead.“ Georg Goyert übersetzte diese eher poetischen als pathetischen Worte in ein mühsam zu lesendes Deutsch: „Langsam schwand seine Seele, als er den Schnee leise durch das Universum fallen hörte, leise herabfallen hörte wie das Herabsinken ihrer letzten Stunde, auf alle Lebendigen und Toten.“ Bis zur ersten Erwähnung des fallenden Schnees ist das noch hinnehmbar, dann verzichtet Goyert aber auf die Umkehrung der Wortfolge von „falling faintly“ in „faintly falling“ und nicht nur der Wortklang geht flöten, sondern auch der Inhalt, denn das zurückgestellte „falling“ leitet über zum inhaltlich verwandten „descent“ und damit wieder über eine Alliteration zum letzten Wort, dem des Titels, „the dead“. Aber kann man Schnee überhaupt fallen hören?
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Diese Geschichte beginnt prosaisch genug mit den zuletzt eintreffenden Gästen der alljährlichen Abendgesellschaft zweier älterer, unverheirateter Schwestern, Kate und Julia, und ihrer Nichte, der Musiklehrerin Mary Jane. Wie bei Proust, aber in einem anderen, bürgerlichen Umfeld, gilt es sich in diesem Salon zu bewähren wie zu anderen Zeiten auf dem Schlachtfeld. Das empfindet vor allem Gabriel so, der sich als Literat und Professor, in dem eher handfesten Umfeld von Händlern, Opernsängern und Trinkern nicht ganz wohl in seiner Haut fühlt. Der Erzähler hüpft zwar von Konversation zu Konversation, aber nur Gabriel, der als Erzengel auch die Festrede zu halten hat, wird mit einem Innenleben beschenkt, das sich vor allem im Gefühl der Peinlichkeit manifestiert. Er tritt uns als Meister des Faux-Pas entgegen. Nicht nur das Dienstmädchen scheint er zu beleidigen, indem er sie auf die wohl bald bevorstehende Ehe anspricht, auch eine im nationalistisch-revolutionären Elan für Irland entbrannte Kollegin von der Universität, weist er unhöflich und sich hinter Allgemeinplätzen verbergend ab. Seine Rede ist dann auch ein Meisterstück der Konventionalität und Langeweile: die alten Schwestern und ihre Nichte seien die drei Grazien Dublins, ihre Gastfreundschaft symbolisiere eine der besten Traditionen Irlands und leider wüchse eine Generation heran, die von neuen, anderen Ideen beseelt sei. Danach werden die Taschentücher gezückt: Die Verkündigung Gabriels richtet sich nicht auf etwas Bevorstehendes, sondern feiert die Vergangenheit. Es ist aber genau diese konventionelle, dem Ungeschick verhaftete Figur, die Joyce nun in den letzten Seiten seiner Erzählung an den Rand der Welt führen wird. Und Erlösung kommt aus der Vergangenheit, nicht aus der Zukunft.
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Nach Gabriels Rede setzt Joyce einen kurzen Schnitt und es dringt schon die kalte Morgenluft in die Vorhalle, in der sich die Gäste verabschieden. Hier kommt es nun zu einer Reihe von seltsamen, in anderen Umständen komischen Missverständnissen. Erst erkennt Gabriel seine eigene Frau nicht, als er das dunkle Treppenhaus hoch schauend auf eine Frau blickt, die dem Opernsänger zuhört, der ein irisches Volkslied zum Besten gibt. Ganz der lebensferne Ästhet genießt Gabriel diesen Anblick als Bild, dem er sogar, nun da er Gretta wiedererkannt hat, den Titel „Distant Music“ gibt. Nachdem er seine Frau in ein Bild wie von Vermeer verwandelt hat, beginnt er sie in ihrer, von ihm geschaffenen Schönheit zu begehren und kann die Ankunft im Hotelzimmer kaum noch erwarten. Seine Frau aber wurde durch das Lied tatsächlich verwandelt, das sie an eine alte Liebe aus ihrer westirischen Heimat erinnert. Im Hotelzimmer bemerkt Gabriel, dass sein Begehren durch seine Frau nicht erwidert wird (und Joyce, anders als viele seiner Kollegen, lässt dies seinen Helden erkennen, keine nicht erwiderten Küsse, keine Versuche, die Kleider zu lösen, Gabriel verzichtet einfach, eine andere Art Mann, die ein paar Jahre später in der Lage sein wird, einen Monolog einer Frau namens Molly zu schreiben). In diesem Moment kommt eine tatsächlich erlebte Vergangenheit zur Sprache, die Gabriel noch vor wenigen Stunden konventionell gefeiert hat. Gretta erzählt, wie ihre erste Liebe, ein junger Mann, in einer irischen Regennacht an ihr Haus kam, um sich von ihr zu verabschieden, sich dabei verkühlte und wenige Tage später verstarb. Dieser junge Tote liegt nun im Bett zwischen Gretta und Gabriel und damit hätte es in den Desillusions-Geschichten des 19. Jahrhunderts (bei Maupassant zum Beispiel) sein Bewenden gehabt. Joyce aber hat mit Gabriel noch mehr vor. Genau eine Seite dauert es, Gabriel vom konventionellen Langweiler in den zukünftigen Schriftsteller zu verwandeln. Zunächst fließen ein wenig sentimentale, „generous“ genannte Tränen über die Selbsterkenntnis, niemals so tief für eine Frau gefühlt zu haben, wie der unbekannte Jüngling aus Grettas Vergangenheit. Dann aber verwandelt sich Gabriel in den Toten, er weiß, er muss nun nach Westen aufbrechen (das hat er vor wenigen Stunden gegenüber der irischen Nationalistin abgelehnt, die ihn auf eine Studienfahrt eingeladen hat), und nun ist er auch bereit für den letzten Satz, der dem konventionellen Literaturprofessor nur satirisch hätte zugeschrieben werden können: denn den Schnee hören die Lebendigen nicht fallen, das ist den Toten vorbehalten. Hier verlässt Joyce seinen Helden und wir dürfen uns fragen, in welcher Welt er erwachen wird. Es hat die ganze Nacht geschneit.
James Joyce: Dubliners, deutsch, € 8,50
James Joyce: Dubliners, englisch, € 3,70
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