Sonntag, 26. Dezember 2010

DIE ANDERE MARIA (1): HEIMSUCHUNG

WILLIAM HOGARTH: A HARLOT´S PROGRESS (1.Blatt)

1731 hätte ich in London für eine halbe Guinee als Vorauszahlung das Recht auf eine Folge von sechs Drucken erwerben können, die mir den Lebenslauf einer Dirne vor Augen führen sollten. Auf dem Subskriptionsticket, das sich seit gestern in meinem Besitz befindet, verspricht Mr. W. Hogarth, diese zu liefern, „when finish´d on Receiving one half Guinee more.“

Der erste Stich, den ich erhalten hätte, zeigte mir, wie die junge Mary in London ankommt. Sie trägt einen Strohhut und schlägt vor jener älteren Frau, die ihr ungeniert unters Kinn greift, die Augen nieder. Sie ist abgeladen worden von einem Wagen aus der Provinz, voll gepackt mit jungen Mädchen, von denen vielleicht auch damals euphemistisch gesagt wurde, dass sie „ihr Glück in der Stadt suchen“. Begleitet wird dieser Wagen von einem Geistlichen, der scheinbar die Adresse auf dem Empfehlungsschreiben, das er dabei hat, nicht entziffern kann. Es ist, wie´s immer ist: die Hüter der Sittlichkeit schauen weg, wenn Opfer gemacht werden, damit sie später desto treffsicherer mit moralischer Keule auf diese einschlagen können.



Unterwerfung drückt bei dieser jungen Dame jedoch nur die Kopfhaltung aus. Der Körper selbst ist aufgerichtet und stramm, die Arme kräftig ineinander verschränkt. Wohlgenährt, drall und lebenstüchtig wirkt diese Maria vom Lande, eine patente junge Frau, die aber wohl schon ahnt, wie sie´s vom Pfarrer und Vater gelernt haben wird, dass sie sich zu fügen hat, in das, was die Alten Schicksal nennen und in Wahrheit Geschäft ist. Vielleicht ist jene alte Vettel, die sie so dreist anlangt, die erste weibliche Person, auf die dies Mädchen trifft, die ihre Geschäfte selbst führt und n i c h t dient. Als Londonerin des Jahres 1731 hätte ich die Alte zweifellos erkannt: Es ist Mother Needham, eine stadtbekannte Kupplerin, die mehrere Bordelle betrieb. In der Tür des Hauses hinter ihr wartet schon einer ihrer Kunden, der berüchtigte Geldverleiher und Vergewaltiger Francis Charteris. 

Mit diesem ersten Stich führt Hogarth die Heldin seiner Erzählung ein. Er bedient die bürgerlichen Moralvorstellungen und unterläuft sie auf subtile Weise zugleich. Seine Maria ist eine „dumme Gans“ (wie jene schon tote, die falsch adressiert am rechten Bildrand liegt), die sich der Bauch Londons rücksichtslos einverleiben wird. Jedoch ist nicht sie es, die kein moralisches Rückgrat hat, um dieser Vernichtung zu widerstehen, sondern der sich auf dem Esel windende Vertreter frommer Sittlichkeit, der sie gleichsam Mother Needham vor die Füße wirft.  Die Herrschaften im Hintergrund: der heuchlerische Geistliche und der geile Verbrecher, der sich einen runterholt, sind es, denen Hogarths Spott und Verachtung ungebrochen gelten. Die Frauen im Vordergrund jedoch sind in zwei bedeutende ikonographische Schemata eingesetzt: ein mythisches und ein christliches.

http://www.reproarte.com/files/images/C/carracci_annibale/0298-0093_herkules_am_scheideweg.jpg

Hogarth stellt Mary an die Stelle des Herkules am Scheideweg. In der mythischen Erzählung muss Herkules zwischen „Virtue“ und „Pleasure“ wählen, zwei schönen Frauen, die ihn jede für sich zu gewinnen suchen. Bei Hogarth ist der Kampf zwischen den beiden längst entschieden. Der vermeintlich ehrbare Pfarrer zu Linken Marys wendet der Verführten den Rücken zu. Um keines der Mädchen wird der kämpfen. Die Lust aber wird verkörpert durch eine von Alter und Laster gezeichnete Frau. Immerhin jedoch hat sie es offensichtlich zu Wohlstand und Unabhängigkeit gebracht. Mary – zeigt Hogarth - hat keine Wahl zwischen Tugend und Laster, sondern zwischen Heuchelei und Kuppelei. Aus der Perspektive einer jungen Frau ist es eine Scheinwahl, die den Gewaltakt nur tarnt, dem sie ausgesetzt ist. Die ideologische Trennung von Ehrbarkeit und Vergnügen, Arbeit und Lust, erfüllt sich an ihr als Ware, die ihren eigenen Wert nicht bestimmt, sondern stets in dem einen System verliert, was sie in dem anderen gewinnt.

Quelle: http://www.meisterwerke-online.de/piero-di-cosimo/original3759/heimsuchung-mit-zwei-heiligen.jpg
Schockierender ist, wie Hogarth das ikonographische Schema von „Mariä Heimsuchung“ für die Initiation einer Hure verwendet. Im christlichen Erzählgut besucht die schwangere Maria auf Geheiß des Engels Elisabeth. Elisabeth, eine alte Frau, von der keiner mehr angenommen hatte, das sie empfangen könne, ist schwanger. Der Anblick Elisabeths bestätigt Maria, dass der Herr, der Allmächtige, a l l e s tun kann. Der allmächtige Herr aber, für den Elisabeth Needham tätig wird, ist der Vergewaltiger Charteris, die Hand im Hosenschlitz.

Maria, diese andere Maria, ist im HERRschaftsspiel nur eine Ware, die verschachert wird. Sie hat keine Wahl und was sich ihr offenbart beim Anblick Mother Needhams ist nicht die göttliche Allmacht, sondern die traurige Wahrheit, wozu eine Frau bereit sein muss, um wenigstens den Hauch einer Chance auf Unabhängigkeit zu haben. Kein Gott wird diesen jungfräulichen Körper befruchten, kein Engel über ihre Seele wachen. Doch wir werden sehen, wie dieser stramme Körper zum Leben erwacht. Denn auf dem nächsten Blatt lässt Hogarth sie einen kleinen Aufstand proben: Wenn sie nicht tugendhaft sein kann, will sie doch Spaß haben. Nachdem über sie entschieden wurde, entscheidet sie: mitzuspielen, koste es, was es wolle. Gegen das Geld, das Gesetz, gegen Gewalt und Tod kann sie nicht an, doch er gönnt ihr diesen Augenblick des Spiels und der Lust und entreißt sie auf diese Weise dem sentimentalen und verlogenen Mitleid, das fortan Frauengestalten wie sie in Literatur und Film auf sich ziehen werden.

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