Samstag, 11. Juni 2011

Biographie eines Meister:innen-Werkes: Der Teppich von Bayeux

Wir lesen spätestens seit der Moderne Kunstwerke als Produkte eines individuellen künstlerischen Ausdruckswillens. Im Mittelalter und noch in der frühen Neuzeit dagegen entstanden die Werke im Auftrag und durch kollektive Fertigung in Werkstätten. Mindestens zwei „Autoren“ wirkten stets bestimmend daran mit: Auftraggeber/in und Meister/in. Die Werke richteten sich auch nicht an eine kontemplativen Betrachterin/Leserin, sondern sollten gemeinschaftlich genutzt werden.

Der so genannte Teppich von Bayeux, eine einzigartige Stickarbeit auf fast 70m Länge, ist ein herausragendes Beispiel für eine Kunst, die noch kollektives Bewusstsein bewahren und herstellen wollte. Der Wandteppich zeigt die normannische Unterwerfung Englands durch Wilhelm den Eroberer. Die meisten Kunsthistorikerinnen gehen davon aus, dass der Teppich nur kurze Zeit nach den historischen Ereignissen, die er darstellt, in Südengland gefertigt wurde. Erstmals erwähnt wird er 1476 in einer Inventarliste der Kathedrale von Bayeux. Der Teppich zeigt – überwiegend in chronologischer Reihenfolge – die Vorgänge in England und in der Normandie, die zur Schlacht von Hastings 1066 führten.

Die Kunsthistorikerin Carola Hicks hat Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrtausends eine faszinierende Biographie des Teppichs von Bayeux vorgelegt, die nicht moderne Welt- und Selbstsicht in das mittelalterliche Werk einliest, sondern die Geschichte des Werkes und seiner Rezeption  erzählt.

Hicks favorisiert offenbar eine Lesart, nach der Edith Godwin den Teppich in Auftrag gegeben hat. Edith Godwin stand durch familiäre und politische Bindungen im Zentrum der Konflikte, die zum Krieg zwischen König Harold und dem normannischen William führten. Verheiratet war Edith mit König Edward von England. Die Nachfolgefrage wurde durch die Kinderlosigkeit des Paares kompliziert. Der rechtmäßige Anwärter, Edgar Aetheling, ein Großneffe Edwards, war noch ein Knabe. Nach zeitgenössischer Auffassung konnte der König selbst einen Mann zu seinem Nachfolger bestimmen. Historiker glauben, dass er auf dem Totenbett Harold Godwin, den Bruder Ediths, zu seinem Nachfolger ernannte. Die Ehe zwischen Edith und Edward scheint schwierig gewesen zu sein, zwischenzeitlich war die Königin verstoßen, nachdem ihr Vater und ihre Brüder ein Komplott gegen den König geschmiedet hatten. In den letzten Jahren seines Lebens aber soll sie zum engsten Beraterkreis des Königs gehört haben. Verwitwet huldigte sie dem Verstorbenen jedenfalls als Auftraggeberin seiner Biographie „Vita Edwardis Regis“. Nach der Schlacht von Hastings, in der neben Harold auch drei weitere ihrer Brüder getötet wurden, war Edith die einzige erwachsene Überlebende des Godwin-Clans. Sie suchte eine Übereinkunft mit den normannischen Siegern und lebte bis zu ihrem Tod unbehelligt in einem Kloster bei Winchester. William ließ sie ehrenvoll neben ihrem Gatten Edward in Westminister Abbey bestatten. Edith verstand es offenbar einerseits die positiven Mythen der Zeit über das Weib zu besetzen (jungfräuliche Reinheit trotz Ehe in einem „freiwilligen Zölibat“, Ergebenheit gegenüber Vater, Gatten, Brüdern) und andererseits ihre eigenen Interessen geschickt zu wahren und aus dem Hintergrund Einfluss auf Politik und Geschichtsschreibung zu nehmen.

Es ist sicher übertrieben, wenn der Historiker Fossier von einer „Phase des Matriarchats“ im 11. und 12. Jahrhundert spricht, doch zweifellos sorgte der Eintritt der rebellischen skandinavischen und slavischen Völker in die christlich-abendländische Welt für eine Veränderung des Bildes von der Frau und für eine gewisse Erweiterung weiblicher Spielräume, insbesondere der höher gestellten Frauen am Hofe.

Über Jahrhunderte war es eine andere Frau, der die „Autorschaft“ für den Teppich von Bayeux zugeschrieben wurde: Williams Ehefrau Matilda.  Auch diese Ehe, soweit man weiß, war schwierig. Zumindest erzählt die Legende, dass Matilda von Flandern das Werben des „Bastards“ William empört zurückwies, woraufhin dieser sich gewalttätig an ihr verging. Später gebar sie ihm elf Kinder, lebte jedoch die meiste Zeit nach der Eroberung Englands getrennt von ihrem Mann in der Normandie. Andere Historiker schreiben die Patronage für den Teppich Williams Halbbruder Odo, dem späteren Bischof von Bayeux zu, dessen Taten  auf dem Teppich verewigt sind. Odos Urheberschaft könnte erklären, wie die gigantische Stickarbei nach Bayeux fand.

An der Darstellung der historischen Ereignisse in der Teppich-Strip-Erzählung überrascht vor allem, dass sie nicht eindeutig Partei für eine Seite zu ergreifen scheint. Normannische und angelsächsische „Leserinnen“, englische Patrioten des 18. und 19. Jahrhunderts, der französische Eroberer Europas Napoleon Bonaparte und später die sich auf germanische Wikinger-Traditionen berufenden Nazis konnten im Teppich von Bayeux jeweils ihre Lesart der Geschichte wiederfinden. Weder Harold noch William werden eindeutig als Schurke oder Held gezeigt. Der Teppich stellt in dramatischer Form die Entwicklung einer tragischen Konstellation dar, die in einer grausamen Schlacht mündet. Dabei zeigen die Darstellungen besonderes Interesse für Technik, Kampfstil, Schlachtgetümmel, aber auch für Mode, Schmuck, Gestik und Benimm bei Hofe. Der Teppich, führt Carola Hicks aus, hat über die Jahrhunderte verschiedenen Interessen und Ideologien „gedient“. Während man im 18. und 19. Jahrhundert seine künstlerischen „Mängel“ (fehlende Perspektive, primitive Zeichnung, keine naturalistische Farbgebung) beklagte, er jedoch als kulturelles und historiographisches Erbe wieder-entdeckt wurde, konnten Künstler:innen und Kunstliebhaber:innen im 20. Jahrhundert gerade an den kritisierten Mängeln mitteltalterlicher Darstellungsweise Anleihen für moderne künstlerische Verfahren machen: Kubismus, Expressionismus, Surrealismus. Die mythischen Figuren, die kommentierend oder auch nur schmückend die Bordüren des Teppichs zieren, wirkten ebenso anregend auf moderne Künstler, wie die (symbolische?) Farbsetzung, die Betonung der Kontur, die expressive Gestik.

Carola Hicks Studie interessiert sich für die handwerklichen Verfahren, mit denen die erstaunlich langlebigen Farben erzeugt wurden, wie für Sticktechniken, arbeitsteilige Herstellungsprozesse und Fragen des übergreifenden „Designs“. An der Geschichte des Teppichs fasziniert sie vor allem seine Überlebensfähigkeit in historisch gefährlichen Zeiten, wie während der französischen Revolution, in den napoleonischen Kriegen und zuletzt durch die deutsche Besatzung, die ihn als germanisches Erbe reklamierte.

Mysterien und Geschichten ranken seit je um den Teppich, den Himmler für sein germanisches Museum zu haben wünschte, und der in zahllosen literarischen Werken, in Comic Strips und Filmen zitiert, benutzt, persifliert wird.

Als eigentümlichste und rätselhafteste Szene gilt vielen die 17. Darstellung, in der unter einem Torbogen eine Frau zu sehen ist, die zaghaft die Hände ausstreckt. Von Außen langt ein Mann ihr an die Wange oder an die Augen. Oberhalb der Darstellung sind die Worte eingestickt: Ubi:Unus:Clericus:et:Aelgyva (Ein gewisser Mönch und Aelgyva). Kunsthistoriker glauben, dass das zeitgenössische Publikum wusste, auf welche Geschichte, welchen Skandal (?) hier angespielt wurde. Schlüssig rekonstruieren ließ sich das nicht. Zu zahllosen Spekulationen über den sexuellen Charakter der Beziehung zwischen Aelgyva und dem Mönch hat vor allem die nackte Männerfigur am unteren Rand Anlass gegeben.

Die Vielfalt des Dargestellten, die dramatische Inszenierung, die nachweislich unterschiedlichen „Handschriften“ der Stickarbeit, die Kombination aus Dekoration, Dokumentation und Fiktion machen die Faszination aus, die der  Teppich von Bayeux bis heute ausübt. Dabei wird einen „Autor“ nur vermissen, wem aller Kunstsinn am (genialischen) Ausdruckswillen eines Einzelnen hängt. Die lange Reihe unserer Ahninnen, die stickend, nähend, spielend, schreibend, dichtend, singend, erzählend Welterfahrung aneigneten, weitergaben und mehrten, ist uns nur zu sehr geringem Teil namentlich bekannt. Doch was sie waren, dachten, fühlten vermag uns aus ihren Werken so rätselhaft  berühren wie das unbekannte Schicksal der verschleierten Aelgyva.


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