Waren die anderen alle Idioten? Wohl kaum, doch - in seinen Augen - sittlich verkommen. Sie hatten sich und ihr Denken korrumpieren lassen, fühlte er, durch Macht und Vorrecht, die ihnen unverdient zugefallen waren und ihnen die Möglichkeit gaben über andere nach Belieben zu herrschen. Um die Annehmlichkeiten dieser verrohten Willkürherrschaft nicht einzubüßen, legten sie sich eine Theorie zurecht, die ihren Untertanen die Menschlichkeit absprach, die Fähigkeit zu Triebkontrolle und vernünftigem Denken. Es wäre, so propagierten sie, fahrlässig gewesen, diesen niederen Wesen die vollen Mitbestimmungsrechte zu gewähren; gerade auch in deren eigenem Interesse sei daran festzuhalten, dass sie am rechten Platze blieben und früh schon unterwiesen würden im Gehorsam gegenüber ihren Herren. Insbesondere, so lehrten sie und legten im bürgerlichen Recht fest (nicht ohne Eigennutz, wie er ihnen nachwies) sei darauf zu achten, dass diese von der Natur benachteiligten Wesen keine Verfügungsgewalt erhielten über Einkommen und Besitz.
Als 1869 endlich die Sklaverei in den Vereinigten Staaten von Amerika abgeschafft wurde, schrieb er: „There remain no legal slaves except the mistress of every house.“ Das nahm man ihm ziemlich übel. Denn gerade seine Parteigänger, die bürgerlichen Liberalen, stifteten einen engen Zusammenhang zwischen einer demokratisch zu verfassenden Öffentlichkeit und einer herrschaftlich konzipierten Ehe daheim. Da sahen sie keinen Widerspruch: Denn das Wesen, mit dem sie Tisch und Bett teilten, war ja, sobald sie es aus der Obhut des Vaters übernahmen, kein eigenständiges Subjekt sondern ein Teil des Eigentums oder ein Teil des „Ganzen“, als das der Mann sich selbst sah.
John Stuart Mill bekämpfte die hausväterlichen Sklavenhalter nicht nur theoretisch. Die Frau, die er liebte, lernte er früh kennen. Sie, Harriet Taylor, obwohl erst 22 Jahre alt, war schon verheiratet. 19 Jahre lang blieb sie seine „Seelenfreundin“; eine platonische Liebe, so wird berichtet. Beinahe jeden Abend verbrachte er bei ihr. Der Ehemann trug es mit großer Gelassenheit. Erst nach dessen Tod lebten sie zusammen und heirateten 1851. Ob es dann zu körperlicher Liebe kam, ist unklar. Schon 1859 starb sie an Tuberkulose in Avignon.
Gemeinsam schrieben sie: „The subjection of women“ (dtsch: Die Hörigkeit der Frauen). Auch bei anderen "seiner" Werke gilt sie als Co-Autorin. Dass sie unter seinem Namen erschienen, war ihm wohl unangenehm, dennoch versteckte selbst er sich hierbei hinter der Aussage, dass es beim Gleichklang der Gedanken zweier Menschen nicht darauf ankäme, wer die Feder führe. Dafür zu sorgen, dass auf den Titeln der Bücher nicht wie selbstverständlich nur ein Name, nämlich der seine, prangte, darauf wäre es aber halt schon angekommen!
Beide erkannten klar, wie im 19. Jahrhundert geschickt „die Natur“ gegen die Gleichberechtigung der Frauen ins Feld geführt wurde, deren Ablehnung die Verfechter der Aufklärung in einen Selbstwiderspruch gebracht hatte. Sie beschrieben auch einfühlsam, wie die enge Gemeinschaft der Unterdrückten mit dem Unterdrücker im gemeinsamen Heim hervortrieb, was wir heutzutage als Stockholm-Syndrom beschreiben würden: die Identifikation der Geisel mit dem Geiselnehmer. Sie zeigen die psychologischen Verwundungen auf, die eine Jahrhunderte lange Abhängigkeit der Frauen vom männlichen Urteil schlug: wie Frauen auch sich selbst mit den Augen eines Mannes sehen gelernt haben, wie Frauen ihr Selbstwertgefühl erst über die Anerkennung eines Mannes als begehrenswerte Frau gewinnen, wie Frauen aus der Unterwerfung Lust ziehen.
Das besondere Verdienst von John Stuart Mill und Harriet Taylor liegt jedoch darin, dass sie auch auf die Verwundungen hinweisen, die diese Ordnung der Geschlechter den Männern zufügt. Sie zeigen, wie die Herrschaft, die er über die Frau hat, die „ihm gehört“, notwendig zur Verachtung derselben führt, eben weil sie sich ihm unterwirft und von ihm abhängig ist.
„Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist genau dasselbe wie zwischen dem Feudalherrn und dem Vasallen, nur dass der Vasall nicht zu so unbegrenztem Gehorsam verpflichtet war. Mag die Hörigkeit auf den Charakter des Vasallen gut oder böse gewirkt haben: Niemand kann sich der Wahrnehmung verschließen, dass der dadurch auf den Lehnsherrn geübte Einfluss überwiegend nachteilig gewesen ist, mochte er zu der Einsicht gelangen, dass seine Vasallen in Wirklichkeit im überlegen waren, oder fühlen, dass er über Leuten, die ebenso gut waren wie er selbst, nicht infolge seines Verdienstes oder eigener Arbeit als Gebieter stand, sonder lediglich weil er, wie Figaro sagt, die Mühe gehabt hatte, geboren zu werden. Die Selbstvergötterung des Monarchen oder Feudalherren findet ihresgleichen in der des Mannes.“
Frau schlendert durch die Straßen der Stadt, heutzutage, - und sieht immer noch allenthalben arme Irre, die um sich selbst und ihre Männlichkeit wie um ein goldenes Kalb kreisen, sich spreizen, aufblähen, dreist tun, stolz auf nix als ihren Penis sind, von dem sie annehmen, er statte sie immerhin mit einer Überlegenheit aus, die ihnen keine nehmen könne. Stuart/Taylor wissen auch schon, dass es in der Regel gerade solche Männer sind, die besonders „männlich“ auftrumpfen, die vor andern Männern kuschen müssen. Sie enttarnen hellsichtig das – bis heute ja immer wieder gern gehörte - „Lob der starken Frau, die hinter jedem starken Mann steht“ als das, was es ist: Eine widerliche Schmeichelei, die nur dem Erhalt der bestehenden Herrschaftsstruktur dient. „Man erklärt die Frauen für besser als die Männer – ein leeres Kompliment, das jeder Frau von Geist ein bitteres Lächeln entlocken muss, da es kein anderes Verhältnis im Leben gibt, wo es hergebrachte, für recht und naturgemäß gehaltene Ordnung ist, dass diejenigen, welche man für die Besseren erklärt, den Schlechteren gehorchen müssen.“
Wer liest, was die beiden über das Geschlechterverhältnis wussten, der versteht, warum die Erfüllung der Forderung nach rechtlicher Gleichstellung der Frau, die sie gemeinsam formulierten, die über Jahrhunderte geprägte psychologische Deformation nicht so schnell heilen kann. Es gibt noch viel zu tun.
Trotz allem verbreitet Taylor/Stuarts „Die Hörigkeit der Frau“ Hoffnung, dass eine liebende Beziehung zwischen Mann und Frau, in der sie einander nicht hindern sich zu entfalten, sondern sich wechselseitig beflügeln, möglich ist. Dass beider Freiheit dafür Voraussetzung ist, war das gemeinsame Credo dieser beiden großen Liberalen. Es trübt die Dankbarkeit und Hoffnung bei der Lektüre von „Die Hörigkeit der Frau“ jedoch, dass jene Beziehung zwischen Mann und Frau, die Taylor/Mills utopisch vorstellen, eine rein geistige zu sein scheint. Die Sexualität zwischen Mann und Frau wird nur negativ als mögliches Gewaltverhältnis in der patriarchalischen Ehe angedeutet. Dass und warum diese beiden den Sex ausklammerten, vielleicht um diese Utopie erschreiben und erleben zu können, bleibt tragisch – und stellt vor eine Aufgabe, die mir immer noch ungelöst erscheint.
Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/dc/J_S_Mill_and_H_Taylor.jpg |
Versuchsanordnungen mit meinen Mitteln:
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