Mittwoch, 2. November 2011

PUNK PYGMALION (18): Vertigo

Fortsetzung des Blog- und Briefromans "Punk Pygmalion
(jetzt als Word-Datei, da der Umfang zu groß für eine Blogger-Seite ist)


Es gibt keine neue Nachricht von Emmi. Dass es von Ansgar keine gibt, wundert mich nicht mehr. Jener Leser, der diese Geschichte schon länger so aufmerksam verfolgt, deckte auf, was ich längst selbst hätte bemerken müssen. „Ich weiß“, schrieb er mir per Mail, „dass Sie zum Schutz der Betroffenen Daten und Fakten in der Erzählung verändern. Doch sind Ihnen diesmal Fehler unterlaufen, wie sie mir bisher nicht aufgefallen sind. Entweder, so muss ich schließen, entfernen Sie sich immer mehr von dem realen Geschehen oder – und das vermute ich – Sie wurden selbst getäuscht. Zunächst einmal habe ich einfach recherchiert, ob es jene `Moderne Meerjungfrau´ in Arhus tatsächlich gibt. Das ist nicht der Fall. Sie hätten aber Ansgar, wäre er der Schöpfer einer solchen Skulptur, auch enttarnt, wäre dies in Wirklichkeit der Name und Standort seines Werkes. Vielleicht, hier kann ich nur raten, ist jener Mann, den Sie Ansgar nennen, gar kein Bildhauer, sondern...was immer. Ganz gleich welche Profession er ausübt, es erscheint mir unglaubwürdig, dass es nur diese zwei Einträge über ihn geben soll: Seine Homepage und einen Zeitungsartikel. Denken Sie nach. Entweder ist dieser Ansgar im Netz überhaupt nicht präsent und zu finden, z.B. weil er ein bloß regional tätiger Gärtner mit Allerweltsnamen ist oder er ist ein – worin auch immer - bekannter Künstler, Wissenschaftler, Politiker, einer also, der eine Homepage mit Referenzen aus aller Welt hat und über den eine Zeitung namentlich berichtet. In jedem Fall stimmt Ihre Geschichte hier nicht. Entweder haben Sie das schlecht erfunden oder Sie wurden selbst Opfer einer Manipulation.“ Er entschuldigt sich anschließend wortreich dafür, mir so zuzusetzen.

Dabei muss ich ihm dankbar sein. Wie dumm ich gewesen bin und wie leichtgläubig! Ich weiß doch ganz genau, wie leicht es ist, einen Avatar im Netz zu schaffen: ein Wikipedia-Eintrag, ein paar Verlinkungen, eine Homepage. Wie schnell das gemacht ist. Wie leicht das auch für Emmi war. Ich habe ihr das nur nicht zugetraut. Sie hat mir gegenüber immer so getan, als verschicke sie allenfalls Mails und halte sich sonst völlig aus dem Netz raus. „Du bist die Expertin“, hat sie gesagt, „Du mit deinem Blog.“ Sie hat mich die Briefe veröffentlichen lassen und so getan, als brauche sie mich als „Herausgeberin“, dabei hätte sie das natürlich auch selbst machen können, jederzeit. Was also wollte sie von mir? Dass ich ein Happy End schreibe – statt...?

Ich muss versuchen die Fakten von den Fakes zu trennen: Im Oktober 2010 treffe ich Emmi in Berlin, kurz nach ihrer Scheidung und vor ihrem Umzug. Sie erzählt nichts über den Trennungsschmerz von ihrem Mann, aber viel von dieser verflossenen Liebe zum „rough guy“ Ansgar, an den ich mich kaum noch erinnern kann. Sie fordert mich auf, seine Briefe an sie vom Sommer 1983 bis Sommer 1984 zu veröffentlichen, aus dem Jahr vor unserem Abitur. Im Dezember, behauptet sie, trifft sie ihn wieder. Sie wirkt aufgedreht und verliebt am Telefon in den folgenden Monaten. Aber leibhaftig sehe ich sie nur einmal in Kassel. Im Mai plötzlich ändert sich ihre Stimmung. Sie wird kalt und hart. Sie lügt allen vor, dass sie den Sommer in der Provence verbringt, aber sie taucht dort nur kurz auf mit einem Ansgar-Lookalike, der mehr als 20 Jahre jünger als sie ist. Seither ist sie verschwunden. Im Netz gibt es eine Homepage des Bildhauers Ansgar P. und eine Zeitungsnotiz in dänischer Sprache, die von seinem Verschwinden im Mai 2011 berichtet.

Es gibt keinen Bildhauer Ansgar P. Natürlich habe ich den Namen für diese Erzählung geändert. Aber es gibt auch keine Einträge zu jenem Mann, der mir angeblich Mails schrieb und von dem Emmi mir vorschwärmte, dass sie seit Dezember 2010 wieder mit ihm zusammen ist. Nur diese Homepage. Die Einträge auf der Seite sind frei erfunden. Von wem sind diese Skulpturen? Die Zeitung, auf die verlinkt wird, gibt es ebenfalls nicht. Ein Fake. Mit einer Vorlage in kurzer Zeit gebastelt. Dänisch. Immerhin, so viel Mühe hat sie sich gemacht.

Was ist mit dem Lebenslauf? Es hat diesen Mann gegeben. Ich selbst habe ihn im Sommer 1984 getroffen. Er war verrückt nach Emmi. Seit mehr als einem halben Jahr lese ich mich durch seine Briefe und Postkarten. Was wurde aus ihm? War er Vater eines Sohnes?

Im Sommer 1983 hat dieser 22jährige deutsche Punk, der zu seinem Vater nach Kopenhagen gezogen war, Emmi in Berlin getroffen. Etwas Sonderbares geschah dort mir ihr, aber vielleicht auch mit ihm. Er schrieb ihr Briefe voller Verlangen und sie gehorchte ihm auch über die große Distanz, schnitt sich die Haare ab, färbte die Stummel schwarz und hörte nur noch seine Musik. Doch sie fuhr nicht zu ihm nach Kopenhagen, als er sie dazu aufforderte. Stattdessen reiste sie mit mir nach Paris und in die Bretagne. Wenigen Wochen später kam er in unsere Kleinstadt. Vor mir liegen die Briefe und Karten, die er in den viereinhalb Wochen danach schrieb, erst aus Ungarn, dann Norditalien und Südfrankreich, die letzten drei Wochen aus einem Dorf nördlich von Barcelona, wo er auf Emmi wartete. Kam sie? Ich weiß das nicht. Im August und September 1984 reiste ich mit einer Freundin durch die USA. Als ich zurückkam, um meinen Umzug nach Göttingen, wo ich mein Studium begann, zu organisieren, war Emmi mit ihrer Familie noch in Südfrankreich, in dem Haus in St. Ambroise. Jedenfalls nahm ich das damals an. Ich sah sie erst Weihnachten wieder. Sie studierte in Heidelberg. Manchmal, selten führten wir nichtssagenden Telefonate. Wir kamen uns erst wieder näher, als ich in Frankfurt promovierte, wo Emmi inzwischen als Anwältin arbeitete. Damals war sie mit einem angehenden Mediziner zusammen, den sie schon aus Heidelberg kannte. Er verstand sich gut mit meinem Mann und wir gingen oft zu viert aus. Es war nie mehr von Ansgar die Rede. Emmis Haare waren damals kastanienbraun gefärbt und kinnlang.

Wo steckt sie jetzt? Warum spielt sie seit mehr als fast einem Jahr dieses falsche Spiel mit mir? Wer ist der junge Mann, den sie bei sich hat? Mir ist schwindelig.

Emmi, ich stelle diesen Post vor allem für dich ein! Ich bin sicher, dass du das liest. Du hast mich getäuscht. Aber du wolltest auch, dass die Täuschung auffliegt. Ich muss meinen Gefühlen trauen. Sie waren immer richtig, auch wenn ich ihre Ursachen nicht verstand. Du hast mich benutzt und betrogen. Und du willst etwas von mir. Ein Happy End, sagtest du. Wie soll ich das schreiben, wenn ich nicht weiß, was schief ging? Es geht ein Sog von diesen Briefen aus. Aber die Gefahr liegt woanders, als ich dachte. Und die Gewalt auch. Melde dich! 

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