Mittwoch, 4. Januar 2012

ENGLISCHE NOTIZEN. Erste Lieferung

Ein Beitrag von MOREL



Mit dem Ende 2010 vielleicht voreilig befürchteten Austritt Großbritanniens aus der EU ginge mehr verloren als eine nervende Oberschicht und ein die Weltwirtschaft gefährdender Finanzplatz. Eine kleine Serie mit Verlustmeldungen.

“I am just going outside and may be some time.” Das sind die letzten Worte von Captain Oates, einem Mitglied der gescheiterten Antarktis-Expedition von Robert Scott, bevor er in einen Schneesturm hineinlief, gesprochen, vermutlich, in einem sehr südlichen Dezember vor 100 Jahren. Mit schweren Erfrierungen an den Füßen, kaum mehr in der Lage zu laufen, empfand er sich als unerträgliche Belastung seiner Kameraden und beging eine sehr englische Form des Selbstmords, einem Land angemessen, in dem die Distanz zum Mitmenschen als Form der Höflichkeit und nicht der Kälte begriffen wird. Unerträglich: fremde Menschen mit den eigenen Gefühlen zu behellen.  Schwierig: herauszufinden, wer nicht fremd ist.

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Die Verachtung von Charles Dickens, einem der beliebtesten englischen Autoren, galt niemals nur den Ausbeutern und Verbrechern, sondern immer auch der beginnenden Wohltätigkeitsindustrie. Vom Kontinent betrachtet könnte man einwenden, gemilderte Armut sei immer noch besser als die krassen Gegensätze eines wild gewordenen Kapitalismus. Die Kritik von Dickens an der Wohltätigkeit entzündete sich dagegen an der Missachtung des Individuums. Für Dickens ist Individualität nicht nur Luxus der Reichen, sondern auch ein Anrecht der Armen. Anders als hartgesottene Marxisten und Frankfurter-Schule-Ästheten hat er Mitleid mit ihrem Elend, selbst wenn es nach Dummheit und Barbarei ausschaut. Sein Ideal einer nicht entwürdigenden Wohltätigkeit: ein unsichtbar bleibender Mäzen, der im Sinne einer Verschwörung zum Guten, unmerklich in das Leben der Unglücklichen eingreift. Eine Manipulation mit guten Absichten, eine Korrektur der unsichtbaren Hand des Liberalismus. Der Sozialstaat dagegen schafft sich eine Bürokratie, in der die von ihr Abhängigen zwar Rechte haben, aber keine Würde mehr. In einem Dschungel sich widersprechender Paragraphen müssen sie sich als Antrag- und Bittsteller auf Demut und Heuchelei verlegen.

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Das alte England des Understatements und der scharfen Klassengrenzen ging spätestens in der Beatlemania der 60er Jahre unter (wenn es wohl auch kaum ein Jahrzehnt seitdem gab, in dem sich die Sehnsucht nach Understatement, baufälligen Denkmälern und nebligen Hügeln nicht in dem einen oder anderen kulturellen Artefakt niederschlug: vom „Haus am Eaton Place“ bis „Downtown Abbey“, von den Merchant-Ivory-Produktionen der 80er bis zur Jane-Austen-Welle der 90er). 1965, als bewusstseinserweiternde Drogen und außerehelicher Sex ihren subversiven Charme noch behalten hatten, blickte der mit seinen Beatles-Filmen weltberühmt gewordene Richard Lester in „The Knack … and how to get it“ schon mit deutlichem Sarkasmus auf den Beginn der Popära zurück. In dem nicht allzu gut gealterten Film spielt das It-Girl der englischen New Wave, Rita Tushingham, Nancy, eine naive Schönheit vom Lande, die es zu drei auf unterschiedliche Weise von der sexuellen Revolution tangierten Typen verschlägt. Mit einem Krankenhausbett auf Rollen ziehen die englischen Widergänger von Godards Außenseiterbande, verständnislos kommentiert von einem Chor älterer Passanten, durch die unvorstellbar leeren und grauen Straßen Londons, bis es in einem Park zu erotischen Übergriffen kommt. Nach einer kurzen Ohnmacht, direkt aus den Empfindsamkeitsromanen des 18. Jahrhunderts importiert, und das Schlimmste befürchtend, rennt Nancy „Vergewaltigung“ schreiend davon. Sie klingelt an einem Haus, eine Frau öffnet und antwortet auf ihr empörtes „Rape!“ gelassen: „No, thank you, not today.“  Ein Witz aus einer anderen, prä-feministischen Ära, der aber einen wahren Kern verbirgt:  die neuesten Sensationen verlieren mit genügend Erfahrung schnell ihre Brisanz. Das Establishment hatte weder etwas gegen Sex noch gegen Drogen, solange sie geheime Privilegien einer Elite blieben. Nur die Begleitmusik aus Werbung und Pop war viel zu laut.

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Die Werbung wird generell unterschätzt in ihrer verändernden Kraft. Geeicht auf die aus dem puritanischen Amerika importierte Gratis-Erkenntnis, dass ihr eine verführerische Kraft innewohne, der nur die Gebildeten zu widerstehen mögen, übersieht man: die Notwendigkeit von Werbung ist die Kehrseite der höheren Freiräume innerhalb einer Gesellschaft. Wer die Wahl hat, muss überzeugt werden. Es ist kein Zufall, dass London nicht nur die Hauptstadt der globalen Bankwelt ist, sondern auch Mode, Popmusik und Werbung hier zu Hause sind. Branchen, die für den deutschen Mittelstandspatriarchen vermutlich nur knapp vor Prostitution und Glücksspiel liegen. Derselbe Patriarch, der seine „Da-kann-man-etwas-anfassen“-Maschinen am liebsten an autoritäre Regime und monopolistische Staatskonzerne verkauft. In England dagegen wird das unanfassbare Nichts vermarktet und verkauft. Luft in Dosen, Popmusik als Exportfaktor.

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