Dienstag, 3. Januar 2012

Winterreise (5): Wiener Mitbringsel-Reigen






„Und – wie war´s in Wien?“

„Schön war´s in Wien: der österreichische Schaffner grantig wie aus dem Hans Moser-Film („Gib!“, sagt der, wenn er die Fahrkarte sehen will), der Herr Ober geschäftig und überheblich wie in jeder guten Kaffeehauserzählung, ein Kaiserwetter am 31. und ane fade Supp´n  am Himmel am 1., ein großes Feuerwerk überm neogotischen Zuckerbäcker-Rathaus in der Sivesternacht, dass ich laut gelacht und in die Hände geklatscht hab´, Touristennepp im Basilisken und ein gutes Gulasch im Café Museum, Mozartkugeln und Sachertorte sowieso, Zweigelt aus Zahnputzbechern im Hotel Tyrol weit nach Mitternacht, kein Walzer, sondern Soul auf den Gassen, ein kleiner Tod (in Wien gibt´s keinen vollständigen Lebenslauf ohne Friedhofsadresse) – und die (nicht privaten) Höhepunkte: „Nader und Simin“ im Top-Kino, „L´Orfeo“ von Monteverdi im Theater an der Wien, das Weltgerichtstriptychon des Hieronymous Bosch in der Akademie der Bildenden Künste, Egon Schiele: „Melancholie und Provokation“ im Museum Leopold, Linienmagie und Geometriestril von Klimt/Hoffmann im Unteren Belvedere, Wintermärchen im Kunsthistorischen Museum..ja, schön war´s.“

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„Nader und Simin“
Der Film „Nader und Simin – eine Trennung“, den ich in Frankfurt verpasst hatte, lief zufällig im Top-Kino um die Ecke. Dieser schlichte und doch so präzise inszenierte Film des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi erzählt vom tragischen Scheitern einer Liebe. Dabei gewinnt er die Tragik nicht aus einer konstruierten Fallhöhe, sondern aus der Tiefe, die die großartigen Schauspieler den Figuren mit winzigen Gesten und Blicken verleihen. Nader und Simin sind in einer schwierigen Situation, in die viele Liebende überall auf der Welt geraten können. Sie haben Naders pflegebedürftigen, an Alzheimer erkrankten Vater bei sich aufgenommen. Aber für Nader und Simin kommt noch hinzu, dass sie in einem Land leben, in dem durch ein absurdes, sich vor allem auf das Geschlechterverhältnis beziehendes, religiöses Moralregiment jede persönliche Entwicklung erstickt wird. Sie waren sich, so wird angedeutet, einmal einig, dass sie dieses Land mit ihrer pubertierenden Tochter verlassen wollen, haben sogar nach langem Kämpfen und Warten Ausreisevisa erhalten. Doch nun will Nader nicht gehen, weil er sich für seinen Vater verantwortlich fühlt. Nader ist stur und wortkarg; er trifft seine Entscheidungen, ohne sie mit den anderen zu besprechen und er erwartet, dass sie respektiert werden. Aber Nader ist auch ein liebevoller Vater und Sohn. Auch Simin liebt ihre Familie, aber sie fühlt sich von Naders Starrsinn und Stummheit erstickt, von der Verantwortung für den Schwiegervater eingeschränkt; sie will ein anderes Leben für ihre Tochter. Simin zieht vorübergehend zu ihren Eltern, um Nader zum Nachdenken zu bringen. Der engagiert aus den Armenvierteln Teherans die strenggläubige Razieh als Pflegerin für den Vater. Aber Razieh, die schwanger ist, kann die Arbeit nicht bewältigen. Einmal bindet sie in ihrer Verzweiflung den alten Mann an sein Bett, um einen Arztbesuch zu machen. Nader findet den bewusstlosen Vater aus dem Bett gestürzt und es kommt zum Streit. Am Ende wirft Nader Razieh aus der Wohnung. Sie verliert ihr Kind. Der folgende Rechtsstreit eskaliert: Raziehs Mann, arbeitslos und mit orthodoxen Ansichten, verlangt Blutgeld. Nader wehrt sich und behauptet, er habe nicht wissen können, dass Razieh schwanger sei. Simin versucht zu vermitteln. Am Ende haben alle Beteiligten viel, fast alles verloren, obwohl jede und jeder nur versucht hat, das Beste zu tun. Aber was ist das Beste in einem Land, indem man einen Kleriker anrufen muss, um zu fragen, ob eine Pflegerin einen alten Mann, der sich eingenässt hat, waschen darf? In dem ein Mann einer Frau die schriftliche Erlaubnis geben muss, einer bezahlten Arbeit nachzugehen? In dem zwei Kinder hilflos (die jugendliche Tochter von Simin und Raziehs kleines Mädchen) zusehen müssen, wie die Sturheit der Väter die Familien zerstört? Ein trauriger, leiser, kluger Film über die Bedrängnisse der Liebe, der Wahrheit und des Glücks unter einem fundamentalistischen, „rechtgläubigen“ Regime.

Hieronymus Bosch: Triptychon vom Weltgericht
Die Akademie der bildenden Künste ist weit weniger überlaufen als andere Museen in Wien, obwohl sie mit mehr als einem Glanzstück aufwarten kann: einer Lucretia von Lucas Cranach dem Älteren, Hans Baldung Griens Heiliger Familie im Grünen, drei (fülligen) Grazien von Rubens und vielem mehr. Das spannendste Werk  (und ganz für sich schon einen Besuch wert) ist Hieronymus Boschs Triptychon vom Weltgericht.  Mit welcher Erfindungslust hier Szenerien, Gestalten und Verrichtungen als Ausdruck von Laster, Schmerz und Gewalt geschaffen werden! Egal, wie tief man sich in das theologische und kunsthistorische Bildprogramm einarbeitet, in dem Verlangen Boschs bizarre Welten zu verstehen: das Faszinierende dieser gruselig-schönen Tafeln besteht doch immer wieder im schaudern machenden Gegensatz zwischen dem dargestellten Grauen und der ungeheuren Lust an der Phantastik. Teuflische Köchinnen mit Kopftuch und Greifvögelkrallen braten in kupfernen Pfannen gedrücktes Menschenfleisch. Daneben liegen die Eier schon bereit, die späterhin darüber aufzuschlagen sind. Behelmte Zwerge schaffen riesige Karpfen heran, um übergewichtige Männer Zwangs zu ernähren, denen von geflügelten Teufeln  Wein eingeflößt wird. Ein schartiges Messer bedroht die Welt, über deren paradiesischem einstigem Zustand bereits die gefallenen Engel schwebten; Vorboten, jener ungeheuren Verhängnisse, über die ungerührt der himmlische Richter auf seinem Thron hinwegsieht. Der Mensch ist phantastisch, grotesk, irrwitzig, geil, wild und schön. Die Menschheit ist nicht zu retten. Hallelujah!

Egon Schiele: Melancholie und Provokation
Wer Egon Schieles Bilder provokant findet, hat Bosch nicht gesehen. So simpel kann man das sagen. Die spießige Schamhaftigkeit gegenüber der Zurschaustellung der Körper, der Gewalt, des Schmerzes und der Lust ist nichts anderes als eine primitive Kulturvergessenheit, die die Bilder-Geschichte des Christentums dümmlich leugnet und sich und andern weiß machen will, der gute Christenmensch verschanze sich traditionell gemütlich im Dekor. In Wahrheit tat das natürlich stets nur der stolz auf seiner Unbildung beharrende Moralfanatiker, der bis heute gern das Stühlchen mit einem iranischen Sittenwächter tauschen würde, um Nachbarn und Kollegen seine beschränkte Weltsicht und versteifte Körperlichkeit aufzuzüchtigen.

Aber zurück zu Schiele (im Museum Leopold): – Die Provokation seiner Bilder besteht nicht in der Freilegung der Mösen, der Draufsicht auf die Schwänze, der Zerstückelung der Glieder. Sie besteht in Geist und Zweck dieser Körper-Offenbarungen, die nicht auf Sinnstiftung zielen, sondern auf (Selbst-) Erforschung. Das hat man alles schon gesehen. En nature. Und so. Aber so hat man das noch nicht gesehen. So mitten rein, so un-verstellt, so bloß- und aufgestellt. Denn alles ist Pose. „Zeigefreudig“, wie die BILD-Bild-Zeitungsredakteurin sagen würde. Nur: Eben nicht freudig. Zeige-traurig. Zeig dich. Ich zeig mich her. Nimm mich hin.

EIN SELBSTBILD

ICH BIN FÜR MICH UND DIE, DENEN
DIE DURSTIGE TRUNKSUCHT NACH
FREISEIN BEI MIR ALLES SCHENKT,
UND AUCH FÜR ALLE, WEIL ALLE
ICH AUCH LIEBE, - LIEBE

ICH BIN VON VORNEHMSTEN
                 DER VORNEHMSTE
        UND VON RÜCKGEBERN
                 DER RÜCKGEBIGSTE

ICH BIN MENSCH,  ICH LIEBE
         DEN TOD UND LIEBE
        DAS LEBEN.


Theater an der Wien: L´Orfeo von Monteverdi
Tod und Liebe. Liebe und Tod. - „(- warum und wozu entsteht um 1600 in Italien das neue Medium Oper? Warum entzündet es sich an der Orpheus und Eurydike-Konstellation?“), fragte vor Zeiten Klaus Theweleit im „Buch der Könige“. Im „Theater an der Wien“ wurde am Silvesterabend diese erste Oper Claudio Monteverdis aufgeführt. Theweleit erzählt im „Buch der Könige" von einer Züricher Inszenierung, die „ein ziemlich glatter Mordfall“ war: „Eine störende Frau wurde beseitigt, damit zwei Typen, ein Künstler und ein Gott, Orpheus und Apoll, besser miteinander klar kommen.“ Claus Guth, der den „Orfeo“ in Wien inszeniert, interessiert das nicht: „Für mich ist es nicht so entscheidend, dass Orfeo ein Musiker ist, sondern dass er Mensch ist.“ Guth stellt die seelische Verfassung des Orfeo in den Mittelpunkt: ein älterer Mann, der lange einsam war, der um eine junge Frau geworben hat, die ihn endlich erhört, und dem die Erfüllung seiner Liebe das Leben ist. Als er sie verliert, stürzt er ins Nichts. Guth erzählt die ersten beiden Akte der Oper als Hochzeitsfest, das Freunde für Orfeo und Eurydice als Mottoparty geben. Das Thema ist Griechenland. Mit Girlanden und Pappsäulen gestalten sie Orfeos bürgerliches Haus um, sie tanzen, singen, lachen, feiern - bis jäh die Nachricht eintrifft, Eurydice sei an einem Schlangenbiss gestorben. Im zweiten Teil wird der Gang Orfeos in die Unterwelt als  verzweifelter Selbstmord nach einer von Wunschträumen und Wahnvorstellungen durchdrungenen Nacht dargestellt.

Ein Nebenthema der Inszenierung, sagt Guth im Programmheft, ist, „dass Projektionen eine Rolle spielen, wie so häufig in der Liebe“. Für mich wurde das an diesem Abend überdeutlich: dass Eurydike eigentlich gar nicht vorkommt; sie hat nur zweimal kurz eine eigene Stimme. Schon ist fort und nur noch sein schöner Traum. Sie liebt auch nicht ihn, wenn sie ihm antwortet, sondern ergibt sich. Sie liebt es, so sehr geliebt zu werden. Am Ende antwortet, unvollkommen, nur noch das Echo dem Orpheus, bis ihm Apollo zu verstehen gibt, wo allein der Widerhall der göttlichen Schöpfungen in Vollkommenheit zu erwarten ist: „In der Sonne und in den Sternen wirst du ihre schöne Gestalt begehren.“ Die vollkommene Kunst entsteht aus dem Liebesverrat, indem sie sich von der einen Frau ablöst.

Ich gebe Guth (- gegen Theweleit? -) recht: Da wir nicht alle Sänger sind und sein können, muss uns nicht interessieren, was Dichter leiden, um dichten zu können. Sie singen von Liebe und Tod. Das geht uns an. Uns? Es ist nicht wahr, was Claus Guth behauptet: Er erzähle in Wien die Geschichte eines Menschen, der liebt und leidet. Er erzählt die Geschichte eines Mannes. Denn das lässt sich nicht so einfach herumdrehen. Schau mal: Eine ältere Dichterin hat lange um einen jungen Schönen geworben. Endlich erhört er sie, weil sie ihn so arg liebt. (Hier schon wären die meisten überzeugt, dass sie mehr zu bieten haben muss: Einfluss, Geld, Macht). Die Erfüllung des Liebesglücks mit dem jungen Mann ist ihr das Leben. Dann stirbt er ihr weg. Sie besingt sein Bild, will ihn zurückhaben, bringt sich schließlich um. Stell Dir eine Oper vor, in der der Geliebte nur zwei dreiminütige Lieder zu singen hätte. Sie, in ihrem Liebeswahn, besänge doch sicher, stelle ich mir vor, seine Sangeskraft, seine "Potenz" nicht wahr? Sie ließe ihn singen; er genügte ihr, der Poetin, keinesfalls als reines Bild. Das weibliche Ideal vom Mann ist eben kein (unbewegtes) schönes Bild, sondern Movie – Bewegung. - 

Die Wiener Inszenierung der Oper „L´Orfeo“ von Claus Guth unter der musikalischen Leitung von Ivor Bolton hat mich bewegt und lässt mich auch nach Tagen nicht los. John Mark Ainsley sang den Orfeo und zeigte seine Stärken gerade in den leiseren Passagen. Auch seine schauspielerische Begabung trug wesentlich zur Überzeugungskraft dieser Vorstellung bei. Ungewöhnlich und bereichernd erwies sich die musikalische Gestaltung durch das Freiburger Barockorchester und das Monteverdi Continuo Ensemble, die die barocken Eigenarten dieser Musik durch die Verwendung der historischen Instrumente unterstrichen. Das Bühnenbild gestaltete Christian Schmidt. Er siedelte das Drama im holzgetäfelten Treppenhaus eines großbürgerlichen Hauses an, in stilvoll designten Siebziger-Jahre-Möbeln: schlicht, geometrisch, klar. Dieses kantige Interieur behauptet sich in der Erzählung gegen die verspielte barocke Inszenierung einer Schäfer-Idylle, als die Orfeos Freunde die Party angelegt hatten.

Unteres Belvedere: Gustav Klimt/Josef Hoffmann: Pioniere der Moderne
Zwischen kurvenlinigem und geometrischem Stil schwankten, so will es die Ausstellung im Unteren Belvedere in Wien zeigen, auch die „Pioniere der Moderne“ Gustav Klimt und Josef Hoffmann. Hier ist eine Kunst zu besichtigen, die mit großem Selbstbewusstsein das Leben selbst gestalten will: Leben als Kunst, Kunst leben. Im Gegensatz zur zeitgleichen Bauhausbewegung geht es der Gruppe um Klimt aber nicht um soziale Fragen, d.h. um das Design von Häusern und Gebrauchsgegenständen für eine Massenfertigung, sondern um die Ausstattung elitärer großbürgerlicher Räumlichkeiten. Man sitzt gut in den Sofanischen unter schwungvollen Lampenschirmen. Bauherrinnen wie Marie Henneberg und Hermine Gallia gaben Klimt und Hoffmann die größten Aufträge zur Innenausstattung ihrer Boudoirs. Ob das ein Zufall ist?

Kunsthistorisches Museum: Wintermärchen
Hence, Orlando and Sasha, as he called her for short, and because it was the name of a white Russian fox he had had as a boy—a creature soft as snow, but with teeth of steel, which bit him so savagely that his father had it killed—hence they had the river to themselves.”, schreibt Virginia Woolf in Orlando. Wie ich jetzt darauf komme? Die Liebe und der Tod – in Wahrheit sind sie unzertrennlich und immer DA. Aber wir fühlen sie stets erst voll, wenn sie vorüber gegangen sind. Dann wenden wir uns um und sehen ihre Mantelaufschläge um die Ecke schwinden.


Ich, Melusine, habe gesehen, wie die Barrier von London bricht und die Flut über die Stadt rollt. Das war vor langer Zeit, - falsch, das wird viel später sein. 


In Wien am Neujahrstag 2012 aber sah ich, wie die Themse zufror in den Jahren der kleinen Eiszeit. Das war, Du erinnerst dich vielleicht mit mir, zu jener Zeit, als Orlando sich in Prinzessin Sasha verliebte. „Hot with skating and with love they would throw themselves down in some solitary reach, where the yellow osiers fringed the bank, and wrapped in a great fur cloak Orlando would take her in his arms, and know, for the first time, he murmured, the delights of love. Then, when the ecstasy was over and they lay lulled in a swoon on the ice, he would tell her of his other loves, and how, compared with her, they had been of wood, of sackcloth, and of cinders.“ Später, weißt du noch?, wird Orlando eine Frau sein. Wintermärchen – eine lange Schlange bildete sich vor dem Kunsthistorischen Museum in Wien und meine Füße brannten. Es lohnte sich dennoch anzustehen. Nicht nur wegen des Bildes von der zugefrorenen Themse, das sicher nicht das bedeutendste der dort gezeigten Bilder ist. Für mich war es an jenem frühen Abend, als der Himmel sich schon zuzog und die Lampen angingen, das Bild, das mich traf. Die Hände im Pelzmuff, die rohen Kufen schlitzen das Eis, verwegen bis ganz nah an den Bruch herangleiten, eine unelegante Kurve, am Rocksaum bildet sich Reif, rote Wangen und Lippen leuchten, den Kopf zurückwerfen und ihm in die Augen blitzen. Eiszeit. Klimaerwärmung. Die Barrier.

***

„Schön war´s. Aber, verzeih mir, ...Wiener Wintermärchen...Ich muss...Wo steckt ´Orlando´?“

„Das war doch In London.“

„Und Istanbul.“

„Verheißungen.“

„Frohes Neues Jahr!“

3 Kommentare:

  1. haha, jetzt weiss ich endlich, wo dieses bild abgeblieben ist...
    http://stiftung-moritzburg.de/sammlungen/gemaelde/

    schoen, dass du diesen klimt und die beiden anderen wunderbaren kuenstler im original sehen konntest.

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  2. @Iris! Bitte, gern geschehen! Es ist ja auch eine Weise, mir das Erlebte "fest"-zuhalten. Und spannend, welche Auswahl der Text (nicht ich) aus den Einträgen ins Notizbuch trifft.

    @Irisnebel Ja, das war schön. Bilder gucken kann mich (fast) immer glücklich machen. Ein billiges Vergnügen (auch das im doppelten Wortsinn).

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