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Mittwoch, 30. Dezember 2015

A DANCE TO THE MUSIC OF TIMES lesen (8): "Action is, after all, exciting rather than interesting."

Nicolas Poussin, ca. 1634-36

Ein Beitrag von Morel




Action is, after all, exciting rather than interesting.

Anthony Powell liebt die eingefrorenen Bilder, die stillgestellte Bewegung. Daher ist der Tod bei ihm kein Abschluss, sondern nur die Unterbrechung eines Tanzes. Blood on the dancefloor. Danach geht es immer weiter, allerdings in veränderter Konstellation.

Da sich der dritte Abschnitt seines Romanzyklus mit den Romanen The Valley of Bones, The Soldiers Art und The Military Philosophers dem Krieg widmet, sind die Gelegenheiten das Schlaglicht des Todes auf die Lebenden zu richten zahlreich. Einige meiner Lieblingsfiguren verlassen in diesen drei Bänden die Bühne so plötzlich wie unerwartet. Zyklisch ist bei Powell nicht das Leben, sondern nur seine Formen. An einer Stelle heißt es, recht frei übersetzt: "Wie in der Reise nach Jerusalem, verstummt das Piano plötzlich, und jemand ist ohne Stuhl, für alle Zeit eingefroren in seiner Haltung in jenem einzigartigen Moment."

Mit den Verlusten nimmt die mitunter von Gleichgültigkeit nur schwer zu unterscheidende Melancholie des Erzählers zu. Gleichzeitig wird er aufmerksamer für die Absurditäten des Leben, einige Szenen seiner Kriegs-Trilogie zählen zu den komischen Höhepunkten der britischen Literatur über den Zweiten Weltkrieg. Der Erzähler, nach eigenem Empfinden als Künstler ohne ernstzunehmenden Beruf, beobachtet das Ungenügen an den Rollen, die das Leben anbietet, auch an seinen Leidensgenossen. Die Tagträume von effizienter Kontrolle der Organisation stoßen sich an den Unzulänglichkeiten der Bürokratie. Das Heldentum der Vorfahren, das in den ersten Seiten von The Valley of Bones noch in der historischen Erinnerung anklingt, wird in der kleinen Münze von Budgetrestriktionen und Kriegssimulationen in der nordirischen Provinz ausgezahlt.

Während die Unterschichten die Phantasien des Generalstabs unter Lebensgefahr ausagieren, bleiben den Oberschichten nur absurde Aktionen, um gegen die eigene Überflüssigkeit zu protestieren. Stringham, vom Alkoholismus kuriert, aber  gesundheitlich angeschlagen, versucht sich als Kellner im Offizierskasino, wird aber in seiner dandyhaften Überheblichkeit als der Rolle unangemessen durchschaut und in die Wäscherei versetzt. Nach einem Vorfall mit einem betrunkenen Offizier ist es Widmerpool, der seine Versetzung nach Singapur durchsetzt, wo er vermutlich ums Leben kommt. Widmerpool, der ewige Karrierist, verkörpert sicher das Böse - sein Kennzeichen in der Welt Powells ist die übermäßige Anpassungsfähigkeit. Was Widmerpool auszeichnet ist die fehlende Substanz (auf interessante Weise verbindet ihn das mit dem Erzähler selbst, der  kaum mehr  ist als ein Schwamm, der seine Zeit, das 20. Jahrhundert aufsaugt). Er  kann jede Rolle ausfüllen mit dem einzigen Ziel voranzukommen - wie der leicht übergewichtige Jogger zu Beginn des Zyklus. Die anderen Figuren dagegen versagen an immer genau daran, im entscheidenden Moment aus der Rolle zu fallen. Stringham ist einfach zu geistreich und arrogant für einen Kellner. Wie Widmerpool die Fäden der Intrige beim Verschwinden Stringhams zieht, so auch beim Tod des zweiten der drei Freunde aus dem ersten Band, Peter Templer, der wie der Erzähler in The Military Philosophers zu den Bürokraten der britischen Kriegsdiplomatie zählt. Bei ihm, der als Frauenheld eingeführt wurde, ist es die Rolle des männlichen Verführers, die er nicht mehr ausfüllen kann. Während er seine Frau in einer psychiatrischen Klinik allein lässt, wird er zum Opfer von Pamela Flitton, einer Nichte Stringhams, die Powell wenig subtil als "femme fatale" im Stil von 40er Jahre-Filmen angelegt hat. Von der Geheimaktion im Balkan, bei der Templer ums Leben kommt, erfahren wir nur aus Büroklatsch und Widmerpools Rechtfertigung, der das abenteuerliche Vorhaben durch ein kritisches Memorandum beendete, das den Tod von Templer auslöste (so zumindest Pamela Widmerpool, wie sie nach der Heirat mit dem Karrieristen, heißt, in einer ihrer stürmischen Szenen). Das ist der Realismus Powell, an die Stelle der Action tritt das Memorandum, eine nur scheinbar interesselose Abschätzung des Lebens. Wie in desillusionierten Spionagethrillern siegt die Bürokratie am Ende immer über das Individuum. Zu Beginn sorgen einige aus der Sowjetunion ausgewiesene polnische Armeeeinheiten für Diskussionen. Eine Differenz von einigen Tausend Offizieren sorgt für kurze Verwunderung, bevor es dann wieder um Budgetfragen geht. Widmerpool kommt später auf das Massaker in Katyn zu sprechen und warum es besser sei, es nicht zum Thema zu machen. Powell übergeht den Hobel, er schweigt aber nicht über die Späne.


Der Erzähler ersetzt schließlich Action durch Reflexion und Erinnerung: Als er auf einen kurzen Abstecher ins gerade befreite Europa ein für die Besatzungstruppen konfisziertes Hotel verlässt, fällt ihm erst im Nachhinein auf, das dies das Hotel in Prousts Balbec sein muss, wie der französische Romancier es in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit schildert. Auch in Powells Romanzyklus treten mit dem Alter an die Stelle lebender Weggefährten Literatur und Erinnerung.


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Freitag, 26. Juli 2013

A DANCE TO THE MUSIC OF TIMES lesen (7)


Ein Beitrag von Morel


I'm closer to the Golden Dawn
Immersed in Crowley's Uniform

David Bowie, Quicksand


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Die Dämmerung ist allein schon deshalb zwielichtig, weil nie ganz klar ist, ob sie Anfang oder Ende ist. Der von den Rolling Stones und David Bowie besungene Aleister Crowley bereitete eine neue Ära vor - ohne organisierte Religion, aber mit Magie, Drogen und Sex zur Weiterentwicklung des Selbst. In Anthony Powells sechstem Teil seines Romanzyklus A Dance to the Music of Times ist Crowley, den Boulevardpresse und Sektenbeauftragte schon zu Lebzeiten erfolgreich dämonisieren konnten, nur eine komische Nebenfigur (er heißt Dr. Trelawney und wandert mit diesem Namen in harmloserer und weiblicher Form in die Harry-Potter-Romane aus). Er verweist aber allegorisch auf den Untergang einer Zeit -der Umschlag von der Reformierung des Lebens in seine Deformierung. Dass Powells Roman den gleichen Titel trägt wie Jonathan Littells Nazi-Sex-Schocker The Kindly Ones (Die Wohlgesinnten) und auch auf die Eumeniden anspielt (ein anderer Name für die rächenden Furien), ist vielleicht mehr als Zufall. Denn der in England viel  gelesene Romancier handelt in seinem letzten Sommer-Band gleich doppelt von den letzten Tagen vor dem Krieg, einmal im Jahr 1914 und dann von 1938/39. Die bevorstehenden Grauen werden aber beide Male nicht direkt wiedergegeben - nur ihre ersten Anzeichen zeichnet der Romancier in den hypochondrischen und überempfindlichen Bewusstseinszuständen seiner Protagonisten nach.

Wie immer lässt sich die Handlung schnell zusammenfassen, weil es weniger Ereignisse sind, die dieses Romanwerk prägen, als Bilder und Korrespondenzen. Zu Beginn erinnert sich der Erzähler Nick Jenkins an den Juni 1914, die Tage rund um das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand, das den Ersten Weltkrieg auslösen sollte. Der uns schon bekannte General Conyers kommt zu Besuch bei der Familie, ebenso wie der sich chronisch verspekulierende Onkel Giles. Themen sind Geister und Suffragetten und beinahe am Rande der Aufmerksamkeit das Attentat auf dem Balkan. Liebesverwicklungen unter den Dienstboten eskalieren so, dass ein Dienstmädchen nach einem Nervenzusammenbruch nackt die Gäste im Esszimmer schockiert (bis auf den General, der sich als Mann der Tat erweist und sie in ihr Zimmer führt). Ein Zeitsprung in das Jahr 1938. Kaum jemand glaubt, das Münchener Abkommen könne den nächsten Krieg aufhalten - immerhin schenkt es ein wenig Zeit zur Vorbereitung. Zusammen mit dem Komponisten Moreland und seiner Frau besuchen die Jenkins den Finanzmagnaten Sir Magnus Donners auf seinem Landsitz. Peter Templer, der alte Schulfreund von Nick, holt beide Paare in seinem Auto ab. In Donners Domizil warten Templers neue Frau Betty und Anne Umfraville, die neue Geliebte von Sir Magnus. Nach dem Abendessen kommt die Idee auf, Fotografien zu machen. Als lebende Bilder werden die sieben Todsünden dargestellt - während alle die von Donners verteilten Rollen mit gutem Humor vor der Kamera des Machtmenschen aufführen, erleidet Betty nach Peters erfahrungsgesättigter Darstellung der Lüsternheit einen Nervenzusammenbruch. Der Abend endet mit dem Auftritt des ewigen Karrieristen Widmerpool in Uniform - hier rüstet sich schon jemand für neue Aufgaben. Das nächste Kapitel führt uns in den Sommer 1939. Nick muss in einem Hotel an der Küste den Nachlass seines dort verstorbenen Onkels regeln. Dort trifft er den Mann von Anne, den unsympathischen Geldjongleur Dick, der ihn auch noch mit Enthüllungen über seine alte Liebe Jean Templer irritiert. Im Hotel hat sich der inzwischen als Magier und Sektenführer zu zweifelhafter Berühmtheit gelangte Dr. Trelawney im Badezimmer eingeschlossen (aus dem er sich anders als aus seinem irdischen Körper nicht befreien kann). Mit Hilfe des Mottos der okkulten Bewegung - "The Vision of Visions heals the Blindness of Sight" -, an das sich Nick aus der Kindheit erinnert, gelingt es den verwirrten Sektenführer zu beruhigen, so dass er die Tür wieder öffnen kann. Den Rest dieser Romanfolge verbringt Nick mit dem Versuch, in die Armee aufgenommen zu werden, da er angesichts des drohenden Krieges keine Zukunft im Schreiben von Romanen und Literaturkritiken sieht. Widmerpool ist hier, wie erwartet, keine Hilfe. Die einzige Gefühlsregung zeigt er, als sie Gypsy Jones gegen den Krieg agitierend auf der Straße begegnen. Die Panik, die ihn bei ihrem Anblick befällt (nach einer Affäre hat er ihr vor einigen Jahren die Abtreibung bezahlt), erklärt er mit der Angst, dass Geheimagenten beobachten könnten, wie sie ihn wieder erkennt. Den Weg zum Militär (das den dritten Teil des Zyklus prägen wird) öffnet Nick dann eine Zufallsbegegnung im Hause von Tante Molly.

Die Furien die in The Kindly Ones das Romanpersonal plagen meinen es in der Regel tatsächlich nur gut. Es sind militante Reformbewegungen wie die Suffragetten, vor denen sich der Koch Albert zu Beginn des Romans fürchtet. Die das Dienstmädchen Billson heimsuchenden Geister sind eher harmloser Natur und werden allgemein als traditioneller Bestandteil des englischen Landlebens akzeptiert. Während etwas Neues sich bemerkbar macht, spukt das Alte eben noch immer auf dem Dachboden. Aber oberflächlich bleibt alles ruhig. Zweimal öffnet sich der Boden unter dem Beziehungsnetz, das die Romanfiguren verbindet, absichert und auch einschränkt. Als Billson die Liebe auf den Koch aufgeben muss, kommt es zu ihrem skandalösen Nacktauftritt im Esszimmer, bei dem sie die Stellung kündigt: sie hat mit ihrer Uniform auch ihre Rolle verloren. Eine andere ist nicht in Sicht. Auch Bettys Zusammenbruch ist ein Fallen aus der Rolle. Dem Machtspiel Donners, das jede Überschreitung erlaubt, solange die Form gewahrt bleibt, verweigert sie sich ebenso wie der Komponist Moreland, der an diesem Abend seine Frau an den Unternehmer verliert. Die Verweigerung ist aber noch kein Neuanfang, sondern ein angstbesetzter Schritt in ein Nichts. Und natürlich gibt es zwei Kriege, die diese Zeit zu einer Zwischenkriegszeit machen und die verweigerte Veränderung erzwingen. Denn bis auf die exzentrischen Abenteurer wie dem Maler Deacons oder Onkel Giles fürchten sich beinahe alle Figuren Powells vor der Aufgabe ihrer Rollen - Nick sucht, nach dem die Kunst ihren Sinn verloren hat, den Zugang zum Militär; Dr. Trelawney verspricht Erkenntnisse über das eigene wahre Selbst, die allerletzte Rolle am Ende aller Zeiten (wenn man bereit ist sich seinem Willen zu unterwerfen); der Komponist Moreland ist am Ende des Romans vorübergehend sogar obdachlos. Die in dem absurden Motto Trelawneys versprochene Heilung bleibt aus - die Figuren sind trotz aller Vorahnungen für ihr Schicksal blind. Erst mit dem Tod, kommt es zu einer Art von Abschluss. "Knowledge comes with deaths release", sang David Bowie in seinem Aleister Crowley-Song Quicksand. In den nächsten Folgen werden andere Uniformen getragen als die von Dr. Trelawney propagierten.

Montag, 17. Dezember 2012

DER SOMMER UNSERES VERGNÜGENS. Englische Notizen


Ein Beitrag von Morel

London lag im Regen. Der zukünftige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Mitch Romney wusste wie immer nicht nur alles schon vorher, sondern auch besser. Diese Olympiade war einfach nicht gut genug vorbereitet. Nur wenige Tage später war alles wieder einmal anders. Sicherlich spielten die Erfolge britischer Athleten eine Rolle, die Stimmung aber änderte schon die überraschende, für den konservativen Teil der Welt (wozu man wohl auch die radikale Linke zählen darf) schockierende Eröffnungszeremonie des Filmregisseurs Danny Boyle. Es war dies nicht nur die Feier einer Welt der Inklusivität, in der weder dein Geschlecht noch deine Hautfarbe dich zwingend auf einen Zuschauerplatz verweisen - dort saßen die Leute mit Geld, während alle anderen in allen möglichen Kostümen, auf Rollstühlen oder fliegend die Feier mit gestalteten. Es war aber genauso die Feier der Exklusivität eines Landes, das sich nicht auf den Boden bezieht, sondern auf das Wasser, in dem es nicht auf feste Standpunkte ankommt, sondern auf flüssige Ideen. Daher auch die uns gelangweilte Wohlstandsbürger seltsam berührende Idee, in einer Ballettfantasie das staatliche englische Gesundheitssystem NHS (der Alptraum von Romney und seinen Kampfgenossen) mit der englischen Kinderliteratur von Mary Poppins bis Harry Potter zu verknüpfen. Die Sicherheit des bürokratischen Sozialstaats gebiert hier keine Ungeheuer sondern setzt die Phantasie des Individuums frei. Beides gehört für Boyle zusammen: die Traditionen von Solidarität (von Gewerkschaften und Feministinnen bis hin zu Pfadfindern und Popbands) und das Asoziale der Phantasie. Wie in der Popmusik, die er im letzten Teil seiner Reise durch die englische Geschichte bis in ihre aktuellsten Untergrundmusiken feierte, sind die Verbindungen zwischen den Einzelnen so zerbrechlich wie kostbar. Es ist manchmal nur eine Nacht in einem Club, die über ein ganzes Leben entscheidet. Bis am Morgen der Regen aussetzt und eine bleiche Sonne über schon lange nicht mehr rauchenden Fabrikschornsteinen aufgeht.

*

Die Phantasien Danny Boyles waren keine ideologischen Verbrämungen schlechter Wirklichkeit, weil sie sich nicht als solche ausgaben. Sie waren auch kein blinder Eskapismus, weil sie der Wirklichkeit nicht entflohen, sondern Forderungen an diese stellten. Wie die missmutigen Gesichter der älteren Mitglieder des britischen Establishments zeigten, kam diese Botschaft durchaus an. Einer der Repräsentanten dieses Establishments, James Bond, trat nicht nur im Sommer die Königliche Hoheit aus ihrem Palast entführend spektakulär in Erscheinung, sondern war dann auch im Winter unseres Missvergnügens zur Stelle um London vor dem Untergang zu retten. Bei aller Begeisterung, insbesondere des deutschen Feuilletons für die Fragilität und Subversion dieser Inkarnation des zynisch-brutalen Handlangers der Autorität, ging der fatalistische Grundton von Skyfall etwas unter. Ferner von Boyles Märchenversion Londons als eines von der Arbeiterklasse hart erarbeiteten Platzes der Ambitionen und Chancen könnte die düstere Metropole aus Skyfall nicht sein. Es ist die Hauptstadt eines untergehenden Imperiums, von seinen ehemaligen Kolonien auf der Weltbühne lächerlich gemacht, dessen größte Gefahr die Ressentiments sind, die unter fremdem Himmel geborene Menschen (wie der einzige Lichtblick des Films, Javier Bardem) gegen die Reserviertheit und den Stil seiner herrschenden Klasse haben. Denn während James Bond auf seinen "Tod" zum Wohle der Staatsräson so reagiert wie es von einem Gentleman erwartet wird - mit Resignation und Alkoholismus - handelt Banderas unangemessen emotional, ein Muttersöhnchen, das geliebt werden möchte. Diese Forderung ist aber nicht nur unvernünftig, sondern gefährlich, weil in Zeiten der Sparsamkeit Gefühlshärte gefragt ist. Dieser von einem der erfolgreicheren Teilnehmer des transatlantischen Kulturbetriebs gedrehte Bond ist reaktionärer als die zynischen, aber amüsanten Übungen in Hedonismus, die früher einmal unter diesem Markenzeichen abgeliefert wurden. Es ist eine nicht untypische Reaktion auf eine Welt im Wandel sie als eine im Untergang zu bezeichnen. Die Ressentiments  gegen die neue, im Entstehen begriffene von Boyle gefeierte Weltgesellschaft, werden in Skyfall natürlich nicht thematisiert (anders in der im Nachhinein noch besser werdenden John Le Carré-Verfilmung Tinker Tailor, Soldier, Spy). Die Bombenanschläge im Herzen Londons, die Verachtung der unwissenden Massen in den U-Bahnschächten und der in der letzten Einstellung in einer leichten Brise wehende Union Jack läuten einen neuen, verlogenen Eliten-Patriotismus ein. Die Massen sind nun dem Hedonismus verfallen, der in den 60er Jahren von Daniel Craigs Vorläufer Sean Connery populär gemacht wurde (südliche Strände, flüchtiger Sex, raffinierte Drinks). Der "neue" James Bond dagegen ist die modernisierte Version der Oberschicht, ein langweiliger Bürokrat der Gewalt, der sich seiner sogenannten Verantwortung stellt und die angeblich notwendigen Entscheidungen trifft: Subventionen kürzen, Gefängnisse füllen und anderen reichen Freunden helfen. Sein Märchenschloss der Kindheit (das im nach Unabhängigkeit strebenden Schottland steht) ist am Ende abgebrannt und kein Danny Boyle wird es wiederbeleben.

Samstag, 9. Juni 2012

MIT DER STIMME EINER TOTEN. Englische Notizen


Ein Beitrag von Morel



Im Frühjahr 1978 ertönte die Stimme eines Gespensts aus den Transistorradios der Welt. Der Weihnachtsschmarrn Mull of Kintyre von Ex-Beatle Paul McCartney war endlich aus den Radios verschwunden. Zu dieser Zeit begann zumindest im United Kingdom der Siegeszug eines der außergewöhnlichsten Lieder, die jemals Hitparadenluft schnuppern durften: Kate Bushs Eigenkomposition Wuthering Heights, die mit keinem der damals um die Vorherrschaft kämpfenden Musikstile – Punk und Disco – auch nur das Geringste zu tun hatte. Eine exzentrische Single, von der Plattengesellschaft erst nach einem Wut- und Tränenanfall der Komponistin, als Albumauskopplung ins Auge gefasst. Exzentrik, oberflächlich betrachtet nichts anderes als Auffälligkeit, ist nicht mit Extrovertiertheit zu verwechseln. Gerade Introvertriert- und Schüchternheit können einem in die Exzentrik gleiten lassen. Ist Kate Bush schüchtern? Wie einige andere Popstars hält sie sich die Welt vom Leibe und kommuniziert nur nach ihren Bedingungen: Tanz, Drama, Kostüme und eine Achterbahnfahrt der Stimme, voller Künstlichkeit und Aggressivität. Die andere Seite von Schüchternheit ist eben immer die Arroganz. Die Introvertiertheit ist niemals die taube Nuss, als die sie im sozialen Verkehr wirkt, Banalitäten äußernd und an unpassenden Stellen ins Schweigen verfallend, immer zu spät die witzige Bemerkung entdeckend, die gepasst hätte, als man noch miteinander redete. Vielmehr ist das Leben der Schüchternen reich, weil sich all das Nichtgesagte ansammelt wie auf einem Dachboden Kisten voll mit vergessenen Tagebüchern aus einem anderen Jahrhundert. Wuthering Heights: die erste Eigenkomposition einer Frau auf Platz 1 der englischen Singlecharts und eine gewagte Aneignung englischer Traditionen einer erst 20jährigen Künstlerin (die von ihrer Plattenfirma in enge Tops gesteckt wurde, damit die von der angeblich piepsigen Stimme genervten Jungs auf den Schulhöfen auch noch was von dem ungewöhnlichen Lied hatten - das hat sie nie wieder zugelassen). Denn Wuthering Heights bezieht sich natürlich auf einen der beliebtesten Romane der englischen Romantik. Emily Brontes Erzählungsfaden vom zerstörerischen Leben und Treiben Heathcliffs nimmt Kate Bush (die nicht nur am selben Tag Geburtstag hat wie Emily Bronte, sondern auch noch den Vorname ihrer weiblichen Hauptfigur Catherine trägt) an seinem Ende auf. Wie in vielen ihrer Lieder gibt es nur einige wenige Zeilen, von denen viele wörtliche Zitate aus dem Roman sind (den Kate Bush noch nicht einmal gelesen hatte, sie kannte nur eine Verfilmung). „Heathcliff, it’s me, Cathy, I’ve come home. I’m so cold, let me in-a-your window“ Mit ihrem ersten Hit tritt Kate Bush zum ersten Mal auf eine Bühne und nimmt eine Rolle an. Sie singt mit der Stimme ihrer toten Vorgängerin. Catherine, die Heathcliff nun von seinem Todesbett in ein Jenseits zieht, in dem es immer kalt ist. Und hinter allen Kostümen eine Leere, die niemals zu füllen ist, und daher immer wieder nach außen drängt. Der ungewöhnlichste Kate-Bush-Fan wächst in Brooklyn bei seiner Mutter auf. Seinen Vater, einen ehemaligen Black Panther lernt er erst als Erwachsener kennen.  Nichts verbindet ihn mit dem mittelständischen Künstlermilieu, aus dem Kate Bush stammt. Aber der Zitate-Mix und die Aneignung einem nicht zugestandener Traditionen, das die Eigene Stimme finden gegen Widerstand begleiteten ihn auf seiner kurzen Weltkarriere. Am 13. September 1996 wurde Tupac Shakur in Los Angeles erschossen. 

Montag, 12. März 2012

Englische Notizen. Dritte Lieferung: KULISSENWELT

Ein Beitrag von Morel


I'm not afraid now of the dark anymore
…People always bored me anyway
John Cale, Half Past France

Quelle: http://tinker-tailor-soldier-spy-trailer.blogspot.de/
Benannt nach einer literarischen Figur von Rudyard Kipling, inspirierte er eine ganze Reihe von Geheimagenten in gedruckter und verfilmter Form: Kim Philby, einer der Cambridge Five, rekrutiert in jungen Jahren, als der Kommunismus seinen Glanz noch nicht verloren hatte, von einer schönen Österreicherin in Wien, damals noch ein Labor der Moderne, voller Unruhe und Gerüchte, kurz vor der Kapitulation vor der Antimoderne. Spione und Verräter scheinen bis heute eine englische Spezialität zu sein – von den abgebrühten Abenteurern Eric Amblers bis zur eleganten Menschenverachtung James Bonds. Während das individualistische Amerika der Welt den Privatdetektiv schenkte und Deutschland sich nach dem Krieg an die Autorität väterlicher Kommissare klammerte, zeigte sich England von Männern und Frauen aus der Oberschicht mit Doppelleben fasziniert. Als wäre das Leben eine Bühne, bei der es Applaus nur dafür gibt, dass jemand auch dann nicht aus der Rolle fällt, wenn er gegen seinen Typ besetzt wird. In einer dunklen Wendung sind es aber nicht Eitelkeit und Überschwang, die auf diese Bühne treiben, sondern der scheiternde Versuch die Distanz zu den Mitmenschen zu überwinden, die gleichzeitig lebenswichtige Notwendigkeit bleibt. Weil das Gesicht hinter allen Masken unsichtbar bleiben soll. Eine Version dieses Schauspiels bot noch bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts der Homosexuelle, der eine respektable Ehe führte und sich im Berufsleben am liebsten mit jungen Männern umgab. Und seine sexuellen Präferenzen durch exquisiten Geschmack für Kleidung und Design signalisieren musste.

*

In dem brillanten, allerdings nicht von einem Engländer, sondern von einem Skandinavier gedrehten Spionagefilm Tinker Tailor Soldier Spy ist es daher nicht zufällig die Homosexualität, die ein erotisches Flirren in diesen in verblichenen Farben und vor Retrochic-Tapeten gedrehten Ausflug in den kalten Krieg bringt. Denn Frauen spielen hier kaum eine Rolle. Einmal ist auf einen Graffiti zu lesen, ihnen gehöre die Zukunft. George Smiley, der einen Maulwurf im englischen Geheimdienst entlarven soll, erwacht nur in der Arbeit zum Leben, der er in einer zweckentfremdeten Privatwohnung nachgeht. Das Privatleben ist nichts als eine weitere Kulisse, hinter der ein leeres Wohnzimmer wartet, in dem der Spion als Gespenst die Fernsehnachrichten verfolgt. Erst ganz am Schluss sehen wir ihn zusammen mit seiner Frau, die ihn, wie er weiß,  mit einem seiner Kollegen betrügt. Dieser aber liebt weder sie, noch den Mann, der ihn liebt. Wie viele Nihilisten sucht er im Verrat an einem Land, das sich in automatisierten Ritualen und entkernten Formen ergeht, eine schon lange verlorene Substanz  wiederzubeleben. Verrat als die einzig mögliche Form der Treue. Der einzige Fanatiker in diesem Spiel ist Karla, der russische Gegenspieler von Smiley, der ihm sein Hochzeitsgeschenk gestohlen hat, ein goldenes Feuerzeug, das ihm dabei hilft seinen Gegner zu verstehen. Aber Smiley weiß, dass jeder Fanatiker verletzlich ist, weil er einen geheimen Zweifel verbirgt. Nur wer hinter allen Masken kein Geheimnis birgt, wird überleben. Der Versuch, diese Kulissenwelt, die nicht zufällig Zirkus heißt, zu verlassen, um endlich das angeblich wahre Leben zu beginnen, endet notwendiger Weise immer tödlich. Als einer der Agenten sich in eine von ihm zum Verrat überredete Russin verliebt, unterschreibt er ihr Todesurteil. Die Gefühle sind hier nicht wahrer als die kalkulierende Vernunft, immer aber gefährlicher. Einen Ausweg aus diesem Spionage-Labyrinth bietet nur die Ironie, nicht als dumme Witzelei, die signalisiert, es sei etwas anderes gemeint als gesagt, sondern als Prinzip der Distanz zum eigenen Ich. Denn nur dann gelingt es zu verstehen, wie der Gegner einen von außen sieht. Wer sich zu ernst nimmt, geht dagegen, und sei es heroisch, unter. Allein die Ironie ermöglicht es, das Labyrinth von oben zu sehen. Aber wie für alles, ist auch für diesen Blick ein Preis zu bezahlen. Am Ende wird man wie der Spion in John Cales Song Half Past France vom Jahrhundertalbum Paris 1919 enden, an die Dunkelheit gewohnt, aber einsam.

Montag, 23. Januar 2012

Englische Notizen. Zweite Lieferung: DAPHNE ORAM

Ein Beitrag von Morel

Desperate Housewives sind ein amerikanisches, kein englisches Phänomen. Jedenfalls gab es genügend englische Künstlerinnen in den letzten 50 Jahren, die sich mit Virginia Woolfs Zimmer nicht begnügten, sondern gleich das ganze Haus als Arbeitsplatz in Beschlag nahmen. Als Kate Bush, die in ihrem Heimstudio schon einmal den Sound einer Waschmaschine besang, kürzlich zusammen mit dem Vorzeigeexzentriker Stephen Fry ihre 50 Wörter für Schnee einspielte, hätte auch eine andere hauptsächlich von zu Hause aus arbeitende Frau in den Sinn kommen können. Daphne Orams Snow, ein auf Youtube zu hörender Soundtrack für einen Dokumentarfilm, klingt nur zu Beginn wie ein zu lange liegen gelassener Track der Instrumentalband Shadows, um sich mit zunehmender Dauer zu einem afro-futuristischen Technotrack zu entwickeln. Töne aus einer anderen Welt, einige Jahrzehnte zu früh. Andere Stücke heißen: Doktor Faustus Suite, Pulse Persephone oder Purple Dust. Lange nur im Internet zu hören, aber in diesen Tagen auch auf Platte oder CD verfügbar, wird Daphne Oram, eine unerschrockene Pionierin der elektronischen Musik ins englische Kulturerbe eingegliedert. Ausstellungen, Konzerte und Kongresse inklusive. Gelebt hat sie arm wie eine Kirchenmaus, wie nach ihrem Tod bemerkt wurde. Denn alles Geld ging in die Rechenmaschinen und Instrumente, mit deren Hilfe sie nach unerhörten Tönen suchte: ihre Oramics-Maschine steht jetzt im Science-Museum. Doch auch der Nachruhm muss hart erarbeitet werden. Mit ihrem Interesse an Sounds und elektronischer Tonerzeugung stieß Oram in ihrem Umfeld, der Informations- und Unterhaltungsbürokratie der BBC, nicht auf Begeisterung. Da war der Pragmatismus des englischen Gemüts ein unüberwindbares Hindernis. Abstrakte Musik mag öffentlichen Institutionen in Köln oder Paris ein Anliegen sein, in London hat jede Kunst eine Funktion. Also gründete Oram, die seit Ende der 40er Jahre für die BBC arbeitete, den BBC Radiophonics-Workshop, ein Tonstudio, in dem vor allem Soundeffekte und Musik für Radio- und TV-Produktionen entstanden. Nach Erledigung der Auftragsarbeiten nutze sie die Maschinerie nachts für ihre eigenen Kompositionen. Sie galt als Nachteule. Aber auf Dauer langweilte sie das Angestelltenleben. Sie kündigte schon nach einem Jahr und entwickelte ihr eigenes Musikstudio Oramics in einem Landhaus in Kent. Hin und wieder kam ein wenig Geld über Werbejingles herein, für die sich ein subventionierter Großkünstler wie Stockhausen wahrscheinlich zu fein gewesen wäre. Der sich aber auch als Genie verstand. Die Hauptarbeit Orams dagegen galt ihrer Forschung, die Töne als den Ursprung der Welt untersuchte. Betrieben nicht von einer New-Age-Phantastin, sondern einer mit Phantasie und Hartnäckigkeit ausgestatteten Ingenieurin. Auf Fotos zeigt sie sich gern vor ihren Aufnahmegeräten, mit Dauerwelle und unauffälligen Kleidern. Vielleicht fand sie in den elektronischen Schwingungen die Töne wieder, die bei den spiritistischen Séancen in ihrem Elternhaus zu hören waren. Aber es ging ihr um kein Jenseits, sondern um Musik für eine neue Gesellschaft. Ein Ausschnitt aus Bacons Nova Atlantis hing in ihrem Arbeitszimmer. In ihrer 1972 erschienen Musikphilosphie An Individual Note Of Music, Sound And Electronics vergleicht sie die Situation des Künstlers in der Gesellschaft mit einem Signal, das auf elektrischen Widerstand trifft. "Wenn Ambition und Inspiration auf einer höheren Wellenlänge senden, als es die Umstände zulassen, kommt es zu Verzerrungen." Sie hat nie geheiratet. Aber wie verzerrt auch immer, in der Geschichte kommt jedes Signal einmal an. 



Mehr zu Daphne Oram auch in der August-Nummer 2011 der englischen Musikzeitschrift The Wire. 

Mittwoch, 4. Januar 2012

ENGLISCHE NOTIZEN. Erste Lieferung

Ein Beitrag von MOREL



Mit dem Ende 2010 vielleicht voreilig befürchteten Austritt Großbritanniens aus der EU ginge mehr verloren als eine nervende Oberschicht und ein die Weltwirtschaft gefährdender Finanzplatz. Eine kleine Serie mit Verlustmeldungen.

“I am just going outside and may be some time.” Das sind die letzten Worte von Captain Oates, einem Mitglied der gescheiterten Antarktis-Expedition von Robert Scott, bevor er in einen Schneesturm hineinlief, gesprochen, vermutlich, in einem sehr südlichen Dezember vor 100 Jahren. Mit schweren Erfrierungen an den Füßen, kaum mehr in der Lage zu laufen, empfand er sich als unerträgliche Belastung seiner Kameraden und beging eine sehr englische Form des Selbstmords, einem Land angemessen, in dem die Distanz zum Mitmenschen als Form der Höflichkeit und nicht der Kälte begriffen wird. Unerträglich: fremde Menschen mit den eigenen Gefühlen zu behellen.  Schwierig: herauszufinden, wer nicht fremd ist.

*

Die Verachtung von Charles Dickens, einem der beliebtesten englischen Autoren, galt niemals nur den Ausbeutern und Verbrechern, sondern immer auch der beginnenden Wohltätigkeitsindustrie. Vom Kontinent betrachtet könnte man einwenden, gemilderte Armut sei immer noch besser als die krassen Gegensätze eines wild gewordenen Kapitalismus. Die Kritik von Dickens an der Wohltätigkeit entzündete sich dagegen an der Missachtung des Individuums. Für Dickens ist Individualität nicht nur Luxus der Reichen, sondern auch ein Anrecht der Armen. Anders als hartgesottene Marxisten und Frankfurter-Schule-Ästheten hat er Mitleid mit ihrem Elend, selbst wenn es nach Dummheit und Barbarei ausschaut. Sein Ideal einer nicht entwürdigenden Wohltätigkeit: ein unsichtbar bleibender Mäzen, der im Sinne einer Verschwörung zum Guten, unmerklich in das Leben der Unglücklichen eingreift. Eine Manipulation mit guten Absichten, eine Korrektur der unsichtbaren Hand des Liberalismus. Der Sozialstaat dagegen schafft sich eine Bürokratie, in der die von ihr Abhängigen zwar Rechte haben, aber keine Würde mehr. In einem Dschungel sich widersprechender Paragraphen müssen sie sich als Antrag- und Bittsteller auf Demut und Heuchelei verlegen.

*

Das alte England des Understatements und der scharfen Klassengrenzen ging spätestens in der Beatlemania der 60er Jahre unter (wenn es wohl auch kaum ein Jahrzehnt seitdem gab, in dem sich die Sehnsucht nach Understatement, baufälligen Denkmälern und nebligen Hügeln nicht in dem einen oder anderen kulturellen Artefakt niederschlug: vom „Haus am Eaton Place“ bis „Downtown Abbey“, von den Merchant-Ivory-Produktionen der 80er bis zur Jane-Austen-Welle der 90er). 1965, als bewusstseinserweiternde Drogen und außerehelicher Sex ihren subversiven Charme noch behalten hatten, blickte der mit seinen Beatles-Filmen weltberühmt gewordene Richard Lester in „The Knack … and how to get it“ schon mit deutlichem Sarkasmus auf den Beginn der Popära zurück. In dem nicht allzu gut gealterten Film spielt das It-Girl der englischen New Wave, Rita Tushingham, Nancy, eine naive Schönheit vom Lande, die es zu drei auf unterschiedliche Weise von der sexuellen Revolution tangierten Typen verschlägt. Mit einem Krankenhausbett auf Rollen ziehen die englischen Widergänger von Godards Außenseiterbande, verständnislos kommentiert von einem Chor älterer Passanten, durch die unvorstellbar leeren und grauen Straßen Londons, bis es in einem Park zu erotischen Übergriffen kommt. Nach einer kurzen Ohnmacht, direkt aus den Empfindsamkeitsromanen des 18. Jahrhunderts importiert, und das Schlimmste befürchtend, rennt Nancy „Vergewaltigung“ schreiend davon. Sie klingelt an einem Haus, eine Frau öffnet und antwortet auf ihr empörtes „Rape!“ gelassen: „No, thank you, not today.“  Ein Witz aus einer anderen, prä-feministischen Ära, der aber einen wahren Kern verbirgt:  die neuesten Sensationen verlieren mit genügend Erfahrung schnell ihre Brisanz. Das Establishment hatte weder etwas gegen Sex noch gegen Drogen, solange sie geheime Privilegien einer Elite blieben. Nur die Begleitmusik aus Werbung und Pop war viel zu laut.

*

Die Werbung wird generell unterschätzt in ihrer verändernden Kraft. Geeicht auf die aus dem puritanischen Amerika importierte Gratis-Erkenntnis, dass ihr eine verführerische Kraft innewohne, der nur die Gebildeten zu widerstehen mögen, übersieht man: die Notwendigkeit von Werbung ist die Kehrseite der höheren Freiräume innerhalb einer Gesellschaft. Wer die Wahl hat, muss überzeugt werden. Es ist kein Zufall, dass London nicht nur die Hauptstadt der globalen Bankwelt ist, sondern auch Mode, Popmusik und Werbung hier zu Hause sind. Branchen, die für den deutschen Mittelstandspatriarchen vermutlich nur knapp vor Prostitution und Glücksspiel liegen. Derselbe Patriarch, der seine „Da-kann-man-etwas-anfassen“-Maschinen am liebsten an autoritäre Regime und monopolistische Staatskonzerne verkauft. In England dagegen wird das unanfassbare Nichts vermarktet und verkauft. Luft in Dosen, Popmusik als Exportfaktor.