Montag, 9. Januar 2012

WARUM LANGEWEILE WEH TUT UND NOTWENDIG IST... (Polemischer Gebrauch von Niklas Luhmanns "Kunst der Gesellschaft")

"In dem Maße als sachliche Begrenzungen des künstlerisch Erlaubten entfallen, wird die jeweils relevante Kunst über ein zeitliches Verhältnis zur bisherigen Kunst definiert. Die Avantgarde beansprucht der eigenen Zeit voraus zu sein. Da aber auch sie nicht in der Zukunft handeln kann, läuft dies praktisch darauf hinaus, in der gemeinsamen Gegenwart sich zu distanzieren, zu kritisieren und zu polemisieren...All dies konvergiert in der ausgeprägten Tendenz, die Überschüsse an Kommunikationsmöglichkeiten durch die Form der Mitteilung und nicht durch die Art der Information wegzuarbeiten, also auch Selbstreferenz gegenüber Fremdreferenz zu bevorzugen...Dass dies überhaupt möglich war, wo doch Selbstreferenz immer nur im Unterschied zu Fremdreferenz beobachtet werden kann, und dass dafür überzeugende Formen gefunden werden konnten, muss erstaunen....Mit dieser Charakterisierung moderner Kunst ist jedoch zugleich die historische Kontingenz dieser Disbalance in Richtung Selbstreferenz sichtbar geworden. Das drängt die Frage auf, ob es bei dieser Form der Darstellung von Autonomie bleiben muss
(...)
Das moderne Kunstwerk imitiert nicht (und wenn dann ironisch), und es sucht die eigene Realität auch nicht mehr im Fiktionalen zu verankern. Es verlässt sich nur noch auf seine eigenen Überzeugungsmittel und vor allem darauf, dass die Überbietung der vorliegenden Angebote überzeugt oder jedenfalls als Motiv erkennbar ist. Man könnte das auffassen als letzte Konsequenz der Ausdifferenzierung des Kunstsystems, die auf jene Wiedererkennbarkeiten, jene Redundanzen, die ein Verständnis von fiktionaler im Unterschied zu realer Realität noch voraussetzen musste, aufgibt, um Redundanz ausschließlich als Selbstsuggestion im eigenen Werk oder doch im eigenen System realisieren zu können - als ´Intertextualität´- , wie man heute sagt.
(...)
Die Kunst zeigt in der Form der Leidens an sich selbst, dass es so ist, wie es ist. Wer dies wahrnehmen kann, sieht in der modernen Kunst das Paradigma der modernen Gesellschaft."
__________

Polemisieren wir munter weiter: 

Jedes noch so schlechte und öde Kunstwerk, jedes Einschlafen über einem lächerlich nach Bedeutung heischenden selbstgefälligen Roman, jede Selbststilisierung des Künstlers zum Märtyrer in der modernen Gesellschaft treibt das Verständnis für jenes Paradigma einer krisenhaften und sinnlosen Gesellschaft und Welt voran.

Klatscht in die Hände, Pessimisten, Weltverächter, arme Poeten und reiche Kunsthändler!

Der verstorbene Systemtheoretiker indes war euer Mann nicht. Sein Text schließt optimistisch:

 "Nur die Überwindung von Schwierigkeiten kann einer Sache Bedeutung geben."



(Erster Beitrag zur neuen Serie: Absichtsvolle Missverständnisse)

10 Kommentare:

  1. Bezaubernd. Bezaubernd auch, dass jemand noch Luhmann liest.

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  2. Absichtsvolle Mißverständnisse finde ich gut. Den letzten Satz auch (allerdings ohne "nur").
    Luhmann jedoch bereitete mir immer mehr Schwierigkeiten, als ich zu überwinden in der Lage war.

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  3. @ Frederik Danke! Luhmann war Pflicht, als ich studierte (was schon eine ganze Weile her ist, selbstverständlich!
    @Weberin Er bereitet Schwierigkeiten, aber ich habe es immer lohnend gefunden, sich denen zu stellen. Ein Professor hat sich einmal schrecklich erzürnt über Luhmanns "Liebe als Passion", das eben von "Liebe" gar nichts verstehe. Und das stimmt auch, wenn und solange man glaubt, dass es Liebe gibt. Andererseits: Es lässt sich soviel daraus lernen, wenn Luhmann auseinander nimmt, wie die Liebes-Codes funktionieren. Die Hauptschwierigkeit, glaube ich (neben all den anderen ;-) besteht darin, dass man bei der Lektüre einfach die Grundannahme mit voraussetzen muss: nämlich dass das Subjekt selbst nichts als ein Konstrukt ist. ---Wenn meinereine den Luhmann zuklappt, vergisst sie das selbstverständlich sofort wieder und benimmt sich munter und ungeniert als wär´sie eins.;-)

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  4. Ich habe mir redlich Mühe gegeben, vor vielen vielen Jahren während des Studiums, ich habe ihn sogar einmal erlebt in einer Gastvorlesung, nachdem er die Uni an der ich studierte, längst verlassen hatte, aber wenn ich am Ende eines Satzes angekommen war, hatte ich bereits den Anfang vergessen. Vielleicht konnte ich das einfach nicht zulassen, mich nicht als Subjekt zu denken. Mag sein. Ich habe noch ein Buch von ihm hier stehen, die Liebe als Passion glaube ich auch, vielleicht sollte ich es noch einmal versuchen ;-)

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  5. imho will das konzept des ( aktiven ) selbstkonstruktes mir plausibler erscheinen als dasjenige des in seiner ( passiven ) geworfenheit eingesperrten sub- jects . selbstverständlich ist der konstruktivismus ein tendenziell utopisches aufklärerisches projekt -

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  6. Es ist bestimmt plausibler. Gegen alle Plausibilität fühl ich mich jedoch meistens mehr geworfen als konstruiert. Aber ich arbeite hart an meiner Selbstaufklärung und - konstruktion. ;-)

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  7. Niklas Luhmann ist – welch ein Gemeinplatz – als Analytiker, der die kalte Beschreibung einer kalten Gesellschaft liefert, unverzichtbar, in seinem Abstraktionsniveau sowie seinem Holismus nahe an der Theorie Hegels, die eben aufs Ganze gehen will und über den Begriff der Differenz, die in seinem Theoriebau eine zentrale Rolle spielt, alles andere als ein simpler Einheitstheoretiker, und zugleich bleibt bei ihm dieses Moment des Einverstandenseins mit dem, was ist.

    Diese Passage zur Kunst scheint mir einerseits doch sehr allgemein gehalten zu sein, wenngleich als grobe Beschreibung der Moderne teils zutreffend. Aber es handelt sich ja zugleich nur um einen Ausschnitt aus einem komplexen Buch. Daß das moderne Kunstwerk nicht imitiert, scheint mir in dieser Allgemeinheit aber doch falsch zu sein. Mimesis bleibt Bestandteil auch der modernen Kunst – gerade dort. Was die eigenen Überzeugungsmittel des Kunstwerkes betrifft, mithin auch seine rhetorische Struktur und sein Gemachtsein, darin ist Luhmann recht zu geben. „Nur die Überwindung von Schwierigkeiten kann einer Sache Bedeutung geben.“ Hierin eben zeigt sich, analog zur Ästhetik Adornos, daß das Problem der Form das zentrale der klassischen und nachklassischen Moderne ist und daß sie in der postmodernen Kunst einen Wandel erfuhr, weil das, was man, qua Formbegriff, als die ästhetische Fortschrittsspirale bezeichnen kann, zu ihrem Ende gekommen ist. Fast möchte ich (womöglich ein wenig polemisch) behaupten, daß die Kunst an ihrem Ende angelangt ist. Aber solche Sätze gefallen den Künstlern naturgemäß nicht. (Und gerade vermittels des Internet, der Internetliteratur und seinen/ihren Möglichkeiten der Umpolung der Begriffe Realität und Fiktion scheint mir im Schreiben doch einiges machbar. Gleichsam der unendliche Text, nach dem die Romantik strebte.)

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    Postscriptum: „Liebe als Passion“ habe ich mit Gewinn gelesen. Ich halte es für eines seiner besten Bücher. Was anregend bei Luhmann ist: Es läßt sich so häufig sagen: „Ja, das ist alles richtig beschrieben. Aber ...“ Wichtig bei „Liebe als Passion“: Liebe ist keine Invariante, die sich von der Vorzeit bis heute immer gleich verhält. Ich hoffe, mich in kürze auch an das Buch der Soziologin Eva Illouz „Warum Liebe weh tut“ heransetzen zu können. Interessant, nebenbei bemerkt, daß Luhmann bei ihr im Literaturverzeichnis nicht vorkommt.

    Was das Subjekt betrifft: Luhmann leugnet es natürlich nicht, es hat für ihn in der Theorie nur keine Bedeutung. Denn diese, so Luhmann, handelt immer nur von Objekten, ein Subjekt kommt darin folgerichtig nicht vor, denn es werden Dinge beobachtet. Der Beobachter zweiter Ordnung beobachtet den der ersten und so weiter: es handelt sich mithin um ein Szenario von Beobachtungen und Beschreibungen von Funktionen, die ganz unabhängig von den Subjekten laufen. Soziale Systeme eben. Darin mag ein gehöriges Stück Parsonscher Systemfunktionalismus stecken und das kann man mit guten Gründen auch kritisieren. Dennoch: die Faszination an Luhmann bleibt. Und ich könnte jetzt eine kleine Abhandlung zu Luhmann schreiben, weil mir jene zwei Tassen grünen Tees sehr gut getan haben. Aber ein solcher Text sprengt nun den Rahmen eines Kommentars.

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  8. Lieber Bersarin,

    weil ich mich heute (eigentlich gestern schon!) mit so unterkomplexen, nicht-holistischen und gleichwohl extrem kalten Sachen wie dem Kartell- und Tarifrecht befassen muss, sowie "Armut im Alter" (unter Berücksichtigung der Geschlechterperspektive), bleibt mir nichts anderes übrig, als mich kurz zu fassen, obwohl ich nicht übel Lust und Liebe hätte hier ganz weitschweifig zu antworten.

    Luhmann war für mich und meine Arbeit sehr wichtig. "Liebe als Passion" besonders, weil es mir geholfen hat, auch "Männlichkeit" als Konstrukt zu begreifen (meiner Auffassung nach ist das quantitative Missverhältnis der Dekonstruktion von "Weiblichkeit" zu der von "Männlichkeit" die Leiche im Keller der Gender Studies). Du siehst also, dass ich Luhmann schon immer polemisch "benutzt" habe.

    Es ist richtig, dass Luhmann nirgendwo bestreitet, dass es das Subjekt gibt. Der Knackpunkt für mich ist eben: Die Analyse der Systeme unabhängig von den Subjekten überzeugt, aber die Selbst- und Fremdwahrnehmung als Subjekt wird davon nicht ausgehebelt. In dem Bild von der "Geworfenheit" vs. "Konstruiertheit" habe ich das versucht auszudrücken. Mit der Liebe ist es ja auch so. Den Kriterien meiner Objektwahl kann ich auf die Spur kommen. Trotzdem e r l e b e ich die Verliebtheit als Schlag in die Magengrube. (Das ist kein logischer Widerspruch, natürlich!) (Zur Kritik an Luhmann et.al. finde ich immer noch Peter Bürger spannend. Denn den Autor als Leerstelle zu behaupten, ist natürlich nicht ohne Koketterie, auch im Falle Luhmanns. -- Du kennst bestimmt die berühmte Geschichte mit dem Mantel?)

    Eva Illouz´ Buch habe ich auch hier liegen, allerdings noch eingeschweißt, so dass ich ins Literaturverzeichnis nicht reingeguckt habe. Vielleicht lesen wir es parallel.

    Die allfälligen Lamentos der Künstler und Literaten gehen mir momentan eh ziemlich auf den Keks. Soll doch die Kunst an ihr Ende kommen! ---Tatsächlich bin ich überzeugt, dass wir an einer Epochenschwelle leben, deren Auswirkungen nur mit dem Buchdruck zu vergleichen sind. Die "Kunst", die wir kennen, i s t, denke ich, definitiv am Ende. Das heißt nicht, dass nichts mehr geschrieben oder gemalt werden kann (manchen macht ja auch weiterhin Kalligraphie Spaß). Aber die Bedeutung, die die tradierten Formen hatten, verschwindet. Wie immer wissen die, für die der Umbruch Gegenwart ist, nicht, was "hinten raus kommt."

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  9. Liebe Melusine, schade, daß wir uns nicht im Studium kennengelernt haben, wirklich sehr schade. Ich glaube, wir hätten Diskussionsnächte verbracht, die unendlich gerieten, wir verfielen in den Rausch der Theorien und der Trink-Praxis. Um 20 Uhr nach dem Foucault-Seminar ab in die Bar oder in das Café hinein und nach einigen Trinkortswechseln um 6 Uhr morgens irgendwann nach Hause taumelnd, von all den Theorien und nicht nur davon trunken, begeistert euphorisiert: Denken als Existenz, in die Nacht hinein, die niemals aufhören dürfte, diese Existenz im Fragment „und im Kopf die Wirrkopfmelodien ... von Walter Benjamin“ und die Opposition gegen alle Ganzheiten und gegen die Eindeutigkeit. Und gegen Lacan und Derrida rekurrierte ich am Ende doch wieder auf Adorno. [Oder wir wären nach einer halben Stunde vollständig zerstritten ;-) ]

    Nein, die Anekdote mit dem Mantel kenne ich nicht. Gibt es da einen speziellen Text von Bürger zu Luhmann?

    „Den Kriterien meiner Objektwahl kann ich auf die Spur kommen. Trotzdem e r l e b e ich die Verliebtheit als Schlag in die Magengrube.“

    Da sagt Du etwas sehr, sehr Wahres. Und momentan hilft dagegen nicht einmal Deine Weinempfehlung, weil ich dank des Virus keinen Alkohol trinken darf.

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  10. Lieber Bersarin,
    Dir wünsche ich gute Besserung. So ein Virus (Epstein-Barr, Pfeiffersches Drüsenfieber etc.) ist einfach bösartig. Der Zusatzeffekt, dass er dir den Weingenuss vergällt, stimmt auch nicht versöhnlicher. Ich prangere die Virus-Infekte an! (Dabei hätte ich noch eine Empfehlung gehabt: Weingut Goldenits im Burgenland, Österreich, ein 2009er Tetuna. Großartig. Samtig.)

    Ja, schade ist das drum, dass wir uns nicht in unseren 20er die Köpfe heiß geredet haben. (Damals war ich ja eher Biertrinkerin, muss ich allerdings gestehen). Wir hätten uns sicher prima gestritten. Ich mag das: Wir steigern uns rein bis zur Revolution und dann nehmen wir gleich das ganze Sektierertum in einer Nacht vorweg.

    Ein Trost ist das nicht: Aber so ein Schlag in die Magengrube setzt jedenfalls was in Bewegung. Die Energie ist nie ganz verloren, die daraus entsteht. Und oft entzündet sich ja auch noch die, von der er - manchmal unbewusst - ausgelöst wurde. So als Rückkopplungs-Effekt (von Physik habe ich keine Ahnung mehr, wie man merkt.) Das wünsch ich Dir jedenfalls.

    Aber erstmal: Kampf dem Epstein-Barr.

    Herzlich
    Melusine

    PS. Mit Adorno geht´s genauso gut wie gegen ihn. Minima Moralia habe ich immer griffbereit liegen.

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