Olga
Es war am 10. Dezember 2011 um 17:43 als Olgas Vater ihr sagte, dass er nicht ihr Vater sei. Er habe sich sehr bemüht, sich als ihr Vater zu fühlen, sie wisse das ganz genau, niemand könne das besser bestätigen als sie, wie sehr er sich angestrengt habe: Sei er nicht immer sehr zärtlich gewesen, habe er sie nicht auf den Schultern getragen und durch die Luft gewirbelt, ihr beigebracht die Schere zu halten und einen Papierflieger zu falten, - er lief im Zimmer auf und ab während er sprach und fuchtelte mit den Händen -, viel öfter auch habe er sie gewinnen lassen beim Menschärgerdichnicht als ihre Brüder, die eben, wie sie nun wissen müsse, nur ihre Halbbrüder seien, es tue ihm aufrichtig leid, dass er ihr dies nicht ersparen könne, doch sei es ihm einfach nicht möglich, weiter zu lügen, er habe sich so lange zusammengerissen, belastet durch den Zwang, sich Gefühle abzunötigen, die, auch das wolle er bekennen, sich nicht eingestellt hätten, obwohl sie herangewachsen sei in seinem Haushalt, ihm vertraut vom ersten Moment an und doch habe er immer in ihren Zügen geforscht nach Ähnlichkeiten mit jenem anderen Mann, den Nele ihm vorgezogen hatte, denn Nele habe ihn einfach konfrontiert mit der Tatsache damals, dass sie einen anderen Mann liebe und schließlich sogar ein Kind von dem erwartete und Nele habe gesagt, die Familie stehe bei ihr trotzdem an erster Stelle, was natürlich einfach lächerlich sei im Grunde, damals aber habe er sich daran geklammert, weil er sich als Oberhaupt dieser Familie gefühlt habe und damit die Hoffnung verbunden gewesen sei, Nele nicht zu verlieren, was im Großen und Ganzen, wie sie wisse, auch geklappt habe über viele Jahre, denn Nele sei trotz einiger Eskapaden doch immer wieder zu ihm und zur Familie zurückkehrt und dazu habe eben auch sie, Olga, gehört, Neles Kind, denn es sei Neles Bedingung gewesen, dass alle ihre Kinder einen Vater in ihm hätten, was er versprochen habe und auch einzuhalten versucht, er habe sich das abgerungen und gerade sie könne nicht leugnen, dass er um den Mangel an aufrichtiger Zuneigung, die er einfach nicht habe empfinden können, auszugleichen, sie verwöhnt habe, manchmal sogar habe er sie so sehr bevorzugt, dass seine Söhne behauptet hätten, sie, Olga, sei sein Lieblingskind, man könne also sagen, er habe, um Nele nicht zu enttäuschen, seine eigenen Kinder hintan gestellt und dies allerdings bereue er doch, daher wünsche er, er wäre viel früher schon ehrlicher gewesen, auch zu sich selbst, er müsse sich nun eingestehen, dass Nele für ihn nichts weiter empfinde, als dass er eine Bequemlichkeit sei, wie ein altes Sofa, auf dem man sich gut ausruhen kann, doch nach all den Jahren sei es, wie sie ihm gesagt habe, einfach so, das musste man sich mal vorstellen, nach allem, was er für sie getan hatte, nachdem er sogar das Kind aus einer ihrer Affären nicht nur als sein eigenes anerkannt, sondern all die Jahre als sein eigenes behandelt hatte, nach all dem also hatte sie ihm gesagt, sie habe nun, wieder einmal, denn es sei ja nichts Neues, dass Nele dann und wann sich in irgendeinen Kerl verliebe, daran habe er sich gewöhnt, das wisse sie ja, das habe sie oft genug miterlebt, wie er souverän mit so etwas umgehe, diesmal aber habe doch Nele tatsächlich beschlossen, ihn zu verlassen, einfach so, sie sei da ganz kühl gewesen, sie wolle jetzt, da die Kinder erwachsen seien, habe sie gesagt, nicht länger in dieser Form mit ihm zusammen leben, in dieser Form, das habe sie wörtlich gesagt, als sei das eine Form gewesen, die er gewählt habe, vielmehr sei es doch ihr Wunsch gewesen, dass Sex seit Jahren keine Rolle mehr spiele, natürlich sei ihm klar, dass sie so was Intimes über ihre Eltern nicht wissen wolle, aber im Grunde sei es nie bei ihnen beiden, bei Nele und ihm, um ihre, Olgas, Eltern gegangen, denn tatsächlich und deshalb sei er heute gekommen, müsse sie erfahren, denn sie habe doch schließlich ein Recht auf die Wahrheit, sei er eben nie ihr Vater gewesen und habe all die Jahre die Rolle nur um Neles willen gespielt, das ganze Lügengebäude, er gebe ja zu, dass er sich freiwillig darauf eingelassen habe, doch sei es alles Neles wegen geschehen und es wäre nur fair, wenn sie die Vorwürfe, von denen er gut verstehe, dass sie, Olga, die erheben werde, Nele mache, denn so wie Nele ihn zum Lügen gebracht habe, so zerstöre sie jetzt mit ihrem Verhalten die Familie. Er sei, so schloss er und stellte sich nah vor ihr auf, sehr unglücklich darüber, wie das gelaufen sei. Er hoffe, sie werde darüber hinweg kommen und sicher werde sie mit ihrer Mutter darüber reden wollen.
Sie sah ihm über die Schulter zum Fenster hinaus und schwieg, lang. Er räusperte sich und streckte die Hand aus, um sich zu verabschieden. „Das hätte ich lieber nicht gewusst.“, sagte sie und wies ihm die Tür.
Liebe MelusineB,
AntwortenLöschenein wenig Kritik darf ja auch einmal sein. Die Rolle des Mannes wird sprachlich durch eine Art Rechtfertigungsmodus im Konjunktiv und mittels indirekter Rede dargestellt, was ihn moralisch von vornherein schwächeln lässt. Ein wenig einseitig stammelt er in einem fort durch seinen nichtstrukturierten Absatz. Die Tochter jedoch bekommt die Opferperspektive und zumindest erzählerisch das starke letzte Wort und nonverbale Macht durch den Türverweis. In einer solchen späten familiären Offenbarungs- und Konfliktsituation kann es aber keine geschlechterrollen-spezifischen Gewinner oder Verlierer geben. Macht übt in der psychischen Abhängigkeit der Familie praktisch jeder aus. Das ist neben allem Positiven dieser kleinsten gesellschaftlichen Zelle auch ihr Dilemma. Funktioniert das ganze denn auch, wenn das angenommene "Kuckuckskind" ein Sohn wäre?
Mir geht es um die erzähltechnische Darstellung, die sich zwischen den Zeilen beim Schreibimpuls einnistet.
Ich hoffe, Sie nehmen mir diesen Einwand nicht übel, denn aus der Erfahrung dürfte ich nichts zu solchen Themen sagen, denn Kinder habe ich keine.
Der Einwand ist vielleicht berechtigt, aber geplant ist ja eine Serie. Wer weiß, wie er zu Neles Söhnen spricht - oder sie zu ihm? Oder Nele zu den Söhnen?---Tatsächlich beschreiben Sie aber den Eindruck, den die Rede erwecken sollte, das war beabsichtigt (die "moralische Schwäche" - er ist ja überhaupt kein "starker Mann" - und es scheint nachvollziehbar, dass er Nele nicht genügte). Dass es eine Tochter ist, war übrigens nicht bewusst geplant. Sie hieß, aus Gründen, die mir nicht nicht offenbar sind, einfach Olga...Ob es mit einem Sohn funktionierte? Ich denke schon. Ich kenne solche Konstellation, durchaus auch bei leiblichen Vater-Sohn-Beziehungen.
AntwortenLöschenFinden Sie, dass Nele (die Frau) hier gut wegkommt? Dann sollte sich der Eindruck in den nächsten Folgen ändern...
Ich bin froh um die beiden vorangegangenen Kommentare. Denn zunächst wollte ich spontan anmerken "Warum machen Sie sowas? Und vor allem, worin (und woran) wollen Sie sich eigentlich weiden? Laben?" /So kommt es mir vor im obigen Text, zugegeben etwas hart, vielleicht auch einfach "nächtlich" und auf völlig falscher Spur. Und auch sicherlich hat mir der Name der erwähnten Tochter etwas damit zu tun. Nun aber bin ich erstmal beruhigt. Aber woher nur nehmen Sie nur immer Ihre Sicherheit in Ihren Gedanken über vorstellbare Geschehnisse und Verhältnisse in deren sezierender Beschreibung? Eine "Sicherheit", die mir oft beinahe fingerzeigend aus einem gänzlich abgesicherten Hause heraus vorkommt. Ihre Fähigkeit, mit einer (künstlichen/künstlerischen) Beschreibung ein Höchstmaß an Wirkung zu erzielen, die ist das Eine und sehr bewundernswert. Ich frage mich jedoch, wo einmal auch Ihre unversicherte Seite zu sehen sein könnte. /Herzlich, Ihr Schneck
AntwortenLöschenMeine Unsicherheit? Im "Zugverkehr", vielleicht. In der Serie "Wir", glaube ich und vor allem in "Auto".
AntwortenLöschenWie meinen Sie das denn "laben"? Das zielt doch auf gar niemanden bestimmten, auch auf keinen typischen Vertreter irgendeiner Haltung (denn ich glaube so verstehen Sie das - als ein - politisch oder sonst wie gemeintes Beispiel - so ist es aber nicht.) Es ist ein bestimmter selbstgerecht daher redender Mann. Aber ich selbst bin z.B. gar nicht sicher, was diese Olga nicht wissen wollte.
Es ist ja ehert so, dass ich selbst (noch) gar nicht weiß, mit wem ich es hier zu tun habe. Oder warum. Ich bin also sehr unsicher. Erst war der Titel da "Wissen ist Macht" und der Satz "Das hätte ich lieber nicht gewusst.", dann der Name Olga und der Mann, der im Zimmer auf und ab läuft. Schließlich kam sein "Text". An dem feile ich dann tatsächlich, um die Wirkung, die er auf mich hat, zu verstärken.
Es ist der Anfang einer Serie über die Kinder dieser Nele, die ich gerade erst kennenlerne. Mir ist auch Nele bisher nicht besonders sympathisch. Vielleicht ändert sich das noch.
Wissen ist eben nicht nur Macht, sondern auch Verantwortung, nicht zuletzt für sich selbst. Olga wird etwas zugemutet, nachdem sie durch jahrelanges Geheimhalten teilweise entmündigt wurde. Nun muss sie selbst mit der Information umgehen, nachdem das solange die anderen für sie übernommen haben. Das ist unbequem bis schmerzhaft, aber auch eine Herausforderung, die sie (wie auch die anderen Familienmitglieder) zu ihrem Gewinn nutzen kann, wenn das Reflektieren über Schuldzuweisungen und Täter-/Opferzuordnung hinausgeht.
AntwortenLöschenMir gefällt dieser Text. Wenn daraus eine Reihe werden soll, würde sie, glaube ich, sehr gewinnen, wenn Du, liebe Melusine es schaffst, allen beteiligten Figuren den gleichen Respekt entgegenzubringen und zu erzählen, ohne zu werten. In diesem Abschnitt hier ist Dir das meines Erachtens gelungen. Ich habe jedenfalls nicht das Bedürfnis, Partei ergreifen zu müssen.
('nicht das Gefühl, Partei ergreifen zu müssen' oder 'nicht das Bedürfnis, Partei zu ergreifen', so sollte es heißen.)
AntwortenLöschenLiebe Iris, Partei ergreifen kann ich gar nicht, da diese Leute sich gerade erst bei mir bekannt machen. Nele schwätzt auf den Anrufbeantworter, höre ich. Die reden überhaupt nicht viel miteinander, glaube ich, die monologisieren. Alle? Weiß noch nicht.
AntwortenLöschenHerzliche Grüße Melusine