„Kennen Sie etwa eine Frau, die sich für ein Genie hält?“, so ähnlich hatte Thomas Meinecke kurz vor Beginn seiner Poetik-Vorlesung in Frankfurt am Main am Ende eines Interviews mit der Süddeutschen Zeitung gefragt. Die Frage war rhetorisch gemeint. Denn Meinecke wollte zeigen, dass die (Wahn-)Vorstellung vom Genie-Sein ein männlich codiertes Phänomen ist.
Ich kenne eine. Frau. Die sich für ein Genie gehalten hat. Gertrude Stein thronte in Paris und wusste selbst denen, die hinter ihrem Rücken über sie lästerten, bei einer Begegnung das Gefühl zu verschaffen mit einer ganz außerordentlichen Frau zu verkehren, einer Frau außer der Ordnung nämlich in beinahe jedem Sinn (einer Frau, von der manche deshalb auch sagten, sie sei „eigentlich“ ein Mann). Es muss ziemlich anstrengend gewesen sein, auf diese monolithische Gestalt zu treffen, die trotz Dauermisserfolg ganz unbeirrt von ihrer eigenen Bedeutung und der ihres Schreibens überzeugt war und aus dieser Gewissheit herab sah auf die wuselig in ihre erotischen Abenteuer verstrickten, verzweifelt an ihrer Männlichkeit bastelnden Hemingway, Fitzgerald, Anderson, Ford Madox Ford, Picasso und wie sie alle hießen. Sie müssen ihr, stelle ich mir vor, gelegentlich auch wie Aliens vorgekommen sein, in ihrer Fixierung auf die zwanghaften Wiederholungsrituale der Heterosexualität, auf Männlichkeitsmythen und -posen, in ihrer Angst vor der eigenen Homoerotik und ihrer Gier nach Bestätigung durch (immer jüngere) Frauen. Für die allerdings interessierte Gertrude Stein sich auch nicht besonders. Vielmehr: Sie interessierte sich nicht für das, was diese Frauen in den Augen der Männer einzig auszeichnete und zu Frauen machte: Das Begehren dieser Frauen, von denen begehrt zu werden, muss ihr sonderbar irr vorgekommen sein. Und so ergab sich – neben dem Kunstwollen – eine weitere, etwas abstoßende Schnittmenge der Interessen zwischen diesen Männern und dieser einen, einzigartigen Frau: die Mysogynie, in ihrem Fall klar und bestimmt gerichtet gegen die Hetero-Groupies; in jenem der Männer durchsetzt mit Faszination und dem widerwärtigen Unterwerfungszwang.
Tatsächlich aber liebte sie Frauen und sie schrieb über Frauen und eine liebte sie besonders. Wenn man Gertude Steins Romane aufschlägt, dann fällt das auf, dass sie nichts zu erzählen hat über Männer. „Drei Leben“ (1909) sind die Leben von der „guten Anna“, die „leicht“ stirbt und von Melanchta, von der ein Jeff gar nichts versteht, die sich aber nie umbringt deshalb und von der „sanften Lena“ , „sanft, geduldig, lieb und deutsch“, die auch stirbt und ohne die ihr Mann sehr glücklich ist am Ende „mit seinen drei guten, sanften Kindern.“ So ist das. Es gibt nicht viel zu sagen zwischen den Geschlechtern und den Leuten und genau deshalb wird dauernd was gesagt und beteuert: „Nun er sagte Andrew sagte dass er nicht ohne Ida auskommen könne. Ida sagte ja, und wahrhaftig wenn sie ja sagte meinte sie ja. Ja, Andrew konnte nicht auskommen ohne Ida und Ida sagte ja. Sie wusste dass sie vielleicht plötzlich weggehen würde, aber sie sagte ja.“ (Ida, 1941) Und Ida geht und bleibt und man weiß nicht warum: „Wenn etwas passiert, fängt nichts an.“ Aber: „Bevor es passierte nun eine ganze Weile bevor es passierte lernte sie Frauen kennen.“ Das ist aber auch kein Grund. Aber vielleicht doch. Und auf Deutsch wird aus „Everybody Autobiography“ (1937) „Jedermanns Autobiography“ – so ist das eben. Im Deutschen.
Den ersten Erfolg hatte Gertude Sein mit einem Buch über die Frau, die sie liebte, über Alice B. Toklas, die sie im Alter von 33 Jahren kennenlernte und mit der sie von 1909 bis zu ihrem Tode im Jahr 1946 zusammenlebte. Stein schrieb als Toklas („Autobiographie von Alice B. Toklas“, 1933) und Toklas schrieb ein Kochbuch („Alice B. Toklas´ Kochbuch“, 1954). Toklas schreibt: „Als Kochende wende ich mich an meinesgleichen und verhehle deshalb nicht, dass dieses Buch, das sich zusammensetzt aus Rezepten und Reminiszenzen, in den ersten drei Monaten einer hartnäckigen Gelbsucht zustande kam.“ Stein schreibt als Toklas über das Leben mit Toklas für Toklas. Toklas schreibt aus einem durch Krankheit freigeräumten Kopf für Köchinnen vom Kochen und vom Leben mit Gertrude Stein, die niemals kochte.
„Ich selbst habe Gewalttaten nie leiden können, sondern immer Freude am Sticken und Gärtnern gehabt. Ich liebe Bilder, Möbel, Gobelins, Häuser und Blumen, sogar Gemüse und Obstbäume. Eine schöne Aussicht kann mir gut gefallen; doch ich sitze lieber so, dass ich ihr den Rücken zukehre.“ Alice B. Toklas - wie Gertrude Stein sie sah und für sie sprach. Gewalttaten bedeuten ihr wenig, meint Stein, aber: „Vom Mord zur Ermittlung ist es nur ein Schritt.“, schreibt dagegen Toklas zur Einleitung in das Kapitel „Wundervolle Suppen“. Sie essen gerne, beide, sie fahren gern Auto, sie sind unterwegs, in Frankreich und später auf Lesereisen in den USA, sie verbringen fast vierzig Jahre unzertrennlich miteinander. Die Biograph:innen haben immer behauptet, Toklas habe sich ganz im Hintergrund gehalten, als Steins Muse gewirkt und keine eigenen Ambitionen verfolgt. Wer das Kochbuch liest, wird das nicht glauben. Es war vielleicht einfach so, dass Toklas ihre Tätigkeiten nicht geringer schätzte als die Steins. Stein war eine bedeutende Autorin, wie Toklas eine bedeutende Köchin war. Sie tat, was alle guten Menschen tun, nämlich das, was sie tat mit Ernst, Hingabe und Überzeugung. Toklas´ Kochbuch endet mit den Sätzen:
„Der andere fragte mit nicht geringer Besorgnis: Aber Alice, haben Sie denn je zu schreiben versucht? Als ob ein Kochbuch irgendetwas mit Schreiben zu tun hätte.“
Und also hatte stattdessen Stein geschrieben:
„Ich bin eine ziemlich gute Hausfrau und eine ziemlich gute Gärtnerin und eine ziemlich gute Stickerin und eine ziemlich gute Sekretärin und eine ziemlich gute Herausgeberin und eine ziemlich gute Tierärztin für Hunde und immer soll ich alles auf einmal sein und ich finde es schwierig obendrein auch noch eine ziemlich gute Autorin zu sein.
Vor etwa sechs Wochen sagte Gertrude Stein, es sieht mir gerade nicht so aus, als ob du jemals deine Autobiographie schreiben würdest. Weißt du, was ich tun werde? Ich werde sie für dich schreiben. Ich werde sie einfach so abfassen wie Defoe, als er die Autobiographie Robinson Crusoes schrieb. Und das tat sie und hier ist sie.“
Tatsächlich gibt es die Frau, die sich für ein Genie hielt. Und ich glaube auch, dass noch mehr Frauen, auch ganz andere Frauen als Gertrude Stein (und jede ist ja anders) sich vielleicht als ein Genie sehen möchten, einige wenigstens. Das Problem ist nur: Es gibt nicht viele wie Alice B. Toklas, auf die so eine Frau treffen könnte (die Schwierigkeit verschärft sich jedenfalls noch, wenn diese Frau mehr heterosexuell orientiert ist, denn dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf einen trifft, der sie so sieht, wie Toklas Stein sah, praktisch gleich null). Denn es ist doch so: Es muss nicht die ganze Welt eine als Genie anerkennen, damit sie sich als eines fühlen kann. Das nicht. Aber eine braucht es schon. Eine, eine Einzige, die das Genie erkennt. Keine weiß, wer sie ist, solange niemand sie erkennt – und selbst dann bleiben Fragezeichen: „Das ist etwas Natürliches, vielleicht bin ich nicht ich auch wenn mein kleiner Hund mich kennt aber jedenfalls habe ich gern was ich habe und jetzt ist heute.“ ("Everybody´s autobiography")
Was hilft, gegen die Zweifel und die Ängste, heute und später, ist das „Wir“. Genie oder keins.
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