Die
Mogis tauchten Anfang der
siebziger Jahre im Zuge der Schulreform auf. Sie kamen mit dem Halbacht-Uhr Bus
an der alten Schule im Mittelweg an. Dieser Bus brachte, nachdem ihre
Zwergschulen geschlossen worden waren, die Eingemeindeten aus Detmoll und
Arlingen. Die Mogis aber waren gegen unseren „Bergbauern“-Spott immun. Die
Dettmoller und Arlinger bezogen nämlich, obwohl ihre Äcker nur unwesentlich höher
über dem Meeresspiegel lagen, auf der Basis einer unbegreiflichen, aber
wirkungsvollen EG-Agrarregelung Bergbauernzuschüsse, die uns vorenthalten
blieben. Wir hatten aber auch etwas davon, denn mit dem Wort „Bergbauer“
konnten wir unserer alteingesessenen Verachtung gegenüber den Dettmollern und
Arlingern neuen Ausdruck verleihen. Über die Mogis dagegen sprach man nicht. Es
war allerdings bekannt, dass sie aus keiner „richtigen“ Familie kamen.
Jeder
Jahrgang hatte seinen Mogi. Zum Schuljahresanfang kletterte unvermeidlich ein
neuer, kleiner Mogi aus dem Bus vor der alten Schule. Ihre Vornamen hatten wir
entweder nie gehört oder stets vergessen. Sie sahen sich alle gleich: mit ihren
roten Haaren und den breiten, gemeinen Gesichtern. Wir fürchteten sie, denn die
Mogis schwiegen sich aus, aber es war ihnen alles zuzutrauen. Auf dem Schulgelände
blieben sie unter sich, bevor sie den Halbzwei-Uhr-Bus zurück nahmen. Wir fürchteten
sie mehr aus Prinzip, denn aus Erfahrung.
Deshalb
war es so schockierend, dass eines Nachmittags in den Ferien, als Regine und
ich unterhalb des Wehres saßen, über der Hügelkuppe das stumpfe,
sommersprossige Gesicht eines Mogis auftauchte. Wir hatten zu Mittag gegessen,
um uns dann gegen drei, wie immer in diesem Sommer, die
Rollschuhe anzuschallen. Über die Ringstrasse und die Wilhelminengasse rollten wir zum Fluss hinunter. Wir liebten das Geräusch des rauen Asphalts unter
unseren Rollen, besonders die Schotterstraßen, wo das Surren der Räder in
rhythmisches Rattern überging. Wir hatten auf dem Sportplatz vorbeigeschaut und
an der Springgrube, ob etwas los war, aber dazu war es zu heiß an diesem Sommertag. Es sind wohl alle ins Schwimmbad gegangen, dachten wir. Wir kletterten, noch mit den
Rollschuhen an den Füßen, die Böschung zum Wehr hinauf. Auf der halbfertigen
Betonrampe oberhalb davon zogen wir sie aus und stiegen über die großen
Kieselsteine hinunter ans Wasser. Die Steine unter unseren Hintern waren heiß
und wir rutschten hin und her, während wir mit den Füßen im Wasser plätscherten.
Oberhalb der Rampe erschien jetzt die volle Gestalt des Mogis. Von unten wirkte
sein verkürzter Körper noch plumper als sonst. In seinen Händen hielt
er links und rechts unsere Rollschuhe.
Mit
ausdruckslosem Gesicht registrierte er, dass wir ihm schockstarr dabei
zusahen, wie er sich langsam vornüber
beugte, um die Rollschuhe auf die abschüssige Rampe zu setzen. Er fühlte seine Macht, aber
sie schien ihn nicht sehr zu freuen. Wir würden ihm
nicht zu nahe kommen, das war ihm klar. Ich glaube nicht, dass er uns quälen
wollte, aber es musste ein gutes Gefühl für ihn sein, dass auch wir einmal
stumm waren und nicht mit den Fingern schnippten wie in der Schule, wenn die
Lehrerin eine Frage stellte. Da saßen wir und würden zuschauen müssen, wie
unsere Rollschuhe über die holprige Rampe ins Wasser rollten und vielleicht
gefiel ihm diese Vorstellung. Wir
rührten uns nicht. Wenn der Mogi die Rollschuhe im Fluß versenkt hätte, wäre unser Sommer vorüber gewesen. Es war unvorstellbar, dass wir unser Reich zu Fuß
halten konnten.
„Das
ist pures Gold.“ Die Stimme war hoch und schrill, selbst am Ende senkte sie
sich nicht. Alle drei zuckten wir zusammen. Wer hatte das gerufen? Ich war es
gewesen und ich hatte keine Ahnung, worauf ich hinaus wollte. Ich wiederholte
den Satz noch einmal, langsamer: „Das ist pures Gold.“, mit Nachdruck diesmal
auf dem GOLD. Der Mogi hatte sich aufgerichtet. Die Entfernung der Rollschuhe
von der Rampe war größer geworden. Nun machte ich keine Atempause mehr, sondern
sprudelte los. Er, der Mogi, sagte ich, irre sich total, wenn er glaube, die
Beschläge der Rollschuhe und die Räder seien aus Messing oder so was, was er
sich vorstelle, das seien Spezialanfertigungen. „Alles Gold. Die Beschläge, die
Kappen, die Räder.“
Er
spürte seine Niederlage sofort.
Regine hatte geschwiegen, wie er geschwiegen hatte, und er hätte die Rollschuhe
versenken können, wenn er nicht zu langsam gewesen wäre, wenn er nicht gewartet
hätte, bis ich sprach. Die Zunge muss trocken gewesen sein in seinem Mund, so
ungeübt war er darin, sie zu bewegen, um Worte zu bilden. Er räusperte
sich. Ich denke, normalerweise schwieg er, ohne es zu merken. Jetzt aber
steckte ihm sein Schweigen wie ein Kloß im Hals, er verschluckte sich beinahe
daran, er wollte es brechen. Er sah hinunter zu uns, zu den Steinen, da war
noch Platz, es war doch möglich, dass er sich neben uns setzte und mit
uns aufs Wasser sah und vielleicht etwas sagte oder nur zuhörte, was wir
redeten. Er machte zwei Schritte auf uns zu. Ich quatschte ununterbrochen weiter.
Das sei freilich ein Geheimnis, er solle das für sich behalten, wir wollten ja
nicht angeben. Das müsse ja niemand wissen, dass die aus Gold seien, unsere
Rollschuhe.
Jetzt
fiel ihm etwas ein und er presste es heraus: „Habt ihr auch einen Swimming
Pool?“ Dann setzte er sich einige Meter von uns entfernt auf die Steine und
stellte die Rollschuhe ab. Regine begann wieder mit den Füßen im Wasser zu plätschern.
Na klar hätten wir einen Swimming Pool, sagte sie. Und fing an aufzählen, was
wir noch alles hätten, weil wir doch Millionärstöchter seien. Der Mogi
wiederholte das Wort: „Millionäre.“ Sonst sagte er nichts. Er saß einfach da, stützte
die Hände auf die Knie, hörte zu, wie wir unser Millionärsmärchen weiter und weiter spannen, und sah traurig aus.
Ich
weiß nicht mehr, wie der
Nachmittag endete. Wahrscheinlich gingen wir einfach und ließen ihn sitzen.Als die Sommerferien vorüber waren, sahen wir den Mogi auf dem
Schulhof. Wir fühlten uns schuldig. Deshalb schauten wir an ihm vorbei.
Der Mogi dagegen beobachtete uns aus den Augenwinkeln und stellte sich manchmal weg von
seinen Brüdern in unsere Nähe. Vielleicht bedauerte er, dass er die
Rollschuhe nicht die Rampe hatte hinunter rollen lassen. Spätestens im Herbst
verschwand er für uns wieder in der Horde ununterscheidbarer Mogis, die in den Pausen zusammen standen und sich anschwiegen. Zwei Jahre
später war unsere Grundschulzeit zu Ende und keiner der Mogis tauchte auf der
Gesamtschule auf, an die wir wechselten. Aber ich vergesse nie den rötlichgoldenen
Glanz der Haare des Mogi an jenem Nachmittag am Fluß.
Auch dieser Text ist pures Gold. Wenngleich Erinnerungen wohl eher Amalgame sind. Ach, und er ruft eine Erinnerung aus meiner Kindheit wach ... (vielleicht ganz bald in meinem Blog)
AntwortenLöschenLG, Iris
Liebe Iris, "Prinzessin vom andern Stern", tatsächlich sind alle Texte unter dem Label "Auto.Logik.Lüge.Libido" genauso wahr wie das Funkeln der Sternenprinzessin (und also absolut wahr!). Es sind "amalgamierte" Erinnerungen, ja. Die Scham und das Schuldgefühl, die kann ich heute noch fühlen, und die Erleichterung und den Triumph. Eine sonderbare, auch ein wenig böse Mischung...
AntwortenLöschenHerzliche Grüße
Melusine