Samstag, 7. April 2012

EIN SOG IN SAGOS WELT (Über Phyllis Kiehls Roman "Fettberg")


Es ist nicht so, wie Sie denken. Es geht  hier nicht um die Missbilligung der üppigen Fettberge, die den Fetten über die Hosenbunde schwappen und um die Schenkel schlabbern. Jedenfalls geht es nicht nur darum, nicht um Ihre und meine Abwehr gegenüber den Fetten, die sich wie Berge in die Landschaft respektive unser Blickfeld drängen, in der S-Bahn ihre Körpermasse unweigerlich über den zugewiesenen Platz lappen lassen, wodurch es zu peinsamen Berührungen mit dem Fett kommt, die mit ihren platten Füßen wie Elefanten in den Porzellanladen trampeln und immer etwas anrempeln mit ihrer Hinternfülle oder ihrer Vorderwampe. Allerdings geht es um eine mögliche Reaktion der Fetten auf diese unsere Einstellung, nämlich um den Versuch sich hoch droben auf einem Berg, dem Fettberg, Ruhe zu verschaffen vor unseren ausweichenden Blicken, unserem tadelndem Räuspern und  unseren unerbetenen Diät-Ratschlägen.

Phyllis Kiehl hat im Verlag der Kulturmaschinen den Roman „Fettberg“ veröffentlicht und wenn das Buch keinen Prolog hätte, sondern anfinge mit dem ersten Kapitel, das so anfängt: „Ich heiße Ebba Korff und ich bin fett. Fragen Sie nicht, wie viel ich wiege. Fragen Sie mich das nie. Besser noch, Sie kennen mich nicht: Wir wollen mit Leuten unter hundertzwanzig Kilo nichts zu tun haben.“, wenn das Buch so anfinge, dann könnten Leser:innen für einen Moment (allerdings nur für einen sehr kurzen) annehmen, sie hätten es hier mit einem der Romane zu tun, wie sie regelmäßig und ziemlich erfolgreich als sogenannte „Frauenliteratur“ auf den Markt gebracht werden, wo moderne Diät-, Mode- und Paarungsprobleme auf liebevoll-ironische Weise dargestellt und  („immer ehrlich, aber mit Herz“) einer mehr oder minder realistischen Lösung („Ich bin wie ich bin.“ „Es muss nicht immer der Märchenprinz sein.“) zugeführt werden. Ein wenig krass wäre freilich die Kilo-Angabe, denn bei  solcher Art aliterarischer Werke hat man es doch in der Regel höchstens mit den Dicken (weiblich bis ca. 80 kg, männlich bis ca. 110 kg) zu tun. Nicht so bei Kiehl. Hier geht es um FETTE, nicht um „kräftige Mannsbilder“ oder „Vollweiber“.  

In Kiehls Roman, der in der Weiko-Sud-Klinik spielt, wo die Fetten einander beim Essen mit bösartigen Spielen quälen, bei mangelnder Gewichtsabnahme den ganzen Tag in Papierklamotten herumlaufen müssen und ein Dorn am Bettende der abendlichen Blutabnahme zur Kontrolle der Blutfettwerte dient, kommt es auch nicht zur romantischen Begegnung zwischen einer netten, aber ein wenig  übergewichtigen Frau und einem liebenswerten, ein wenig pummeligen Mann, die nach einigem Hin und Her sich selbst und einander lieben lernen und dann (zum guten Schluss) sogar noch ein paar Kilo abnehmen. „Fettberg“ liest sich spritzig und spannend, doch geht es, wo Kiehl witzig und ironisch ist, keineswegs darum, billige Ratgeber-Weisheiten gefällig zu illustrieren. Was Phyllis Kiehl den Leser:innen anbietet, eignet sich eben nicht als Nebenher-Lektüre zwischen dem eingängigen Studium von Diätplänen und Horoskopen.

Und deshalb fängt der Roman auch nicht mit dem ersten Kapitel an, sondern mit einem Prolog, der die phantastische nächtliche Atmosphäre um die Weiko-Sud-Klinik einfängt, wo etwas Unheimliches vorgeht, das jenseits aller bekannten Diätvorschläge und Jojo-Effekte liegt: „Die Nacht holt Atem und nimmt ungerührt Millionen von Existenzen zu sich, doch bereits während sie ausatmen, werden die neuen geboren. Hier am Rand der Außenanlage der Weiko-Sud-Klinik, wo sich der Baumbestand lichtet, sind die Geräusche fast verstummt. Nichts regt sich.“ Die Weiko-Sud-Klinik ist ein geheimnisvoller Gegenentwurf zur Welt der Selbstoptimierungs-Mythen, in der wir leben. Eine phantastische Welt wohliger Akzeptanz des Hungers in uns, der sich nicht mehr zu verstecken braucht. Die Sympathien allerdings, die diesem Entwurf von Leser:innen entgegen gebracht werden könnten, werden auf die Probe gestellt. Alles hat seinen Preis und jede (Lebens-)Lüge muss bezahlt werden; ein ganzes Lügen-Gebäude gar - wie die Weiko-Sud-Klinik - ist teuer erkauft mit der Vertuschung von Verbrechen und Maßnahmen, die man je nach Perspektive als Schmerztherapie oder Freiheitsberaubung betrachten könnte.

Die renommierte Adipositas-Behandlungsstätte ist die Fassade nach draußen für diese „innere Welt“. In die Weiko-Sud-Klinik wird nur aufgenommen, wer die horrenden Gebühren bezahlen kann. Die Behandlungsmethoden treiben den Terror gegenüber Fettsüchtigen, so scheint es zunächst, auf die Spitze: tägliche Demütigung beim öffentlichen Wiegen, dauernde Messung und Veröffentlichung der Körperfettwerte, Fitness-Trill . Alles wird aufgeboten, aber niemand nimmt dauerhaft ab. Die Patienten hoffen darauf, zum Direktor der Klinik vorgelassen zu werden, dem legendären Dr. Sago. Doch der nimmt nur Auserwählte zur Behandlung an, die von seiner Therapie zwar schwärmen, sich jedoch nie genauer darüber auslassen, wie sie funktioniert. In dieses perfektionierte System dringt mit dem neuen Chefarzt Dr. Ariel Tense ein Störfaktor ein. Tense will den Patienten ihr Fett „auspeitschen“. Seine gekonnte Gehirnwäsche zielt darauf, ihren Selbsthass zu vergrößern, bis sie dem Fett, das „sie reitet“, den erbitterten Kampf ansagen. Der böse Geist des Dr. Tense wird die Spannungen zwischen den Patienten zum Siedepunkt und die geheime Hinterwelt der Klinik in die Krise treiben.

Kiehl arbeitet mit Andeutungen und Cliff-Hangern. Es wird den Leser:innen gelegentlich versprochen, dass sich etwas „noch zeigen“ werde. Man sollte sich aber nicht zu sehr darauf verlassen. Was hier geschildert wird, wuchert ungeniert über die Genre-Grenzen (Liebesroman, Science Fiction, Thriller) hinaus, gerade so wie die Körper der Klinikbewohner über die schickliche Kontur. Ebba, die sich nichts zutraut und sich schämt für ihre Gier und ihre Fettpolster, ist zum Beispiel keineswegs „unbemannt“. Gleich zwei Männer haben Ebba draußen, jenseits der Klinikmauern begehrt: ihr Lebensgefährte wie auch ein reicher „Athlet“, der sogar die Kosten ihres Aufenthaltes übernimmt. Dass Ebba geliebt wird, löst ganz offensichtlich ihre Probleme nicht. So negiert „Fettberg“ ganz nebenbei nicht nur diese Lieblingslüge der Ratgeber- und Schmonzesliteratur, die Frauen weis machen will, Glück finde, wer auf dem Paarbildungsmarkt erfolgreich ist. Es wird vielmehr Ebbas neue Freundin Sophie („fett und hyperaktiv“), die die Marke „Huge!“ für Übergewichtige entwirft und so selbstbewusst mit ihren überzähligen Pfunden umzugehen scheint, zum Opfer werden. Auch diese Wendung aber ist nicht endgültig. Urs, der gescheiterte Werber, erweist sich als agiler und schöner als zu erwarten gewesen wäre. Dagegen fällt der junge Fudji, der seinen großen Traum nicht aufgeben will, ein erfolgreicher Sumo-Ringer zu werden, der „Herde“ anheim. Am Ende bleibt offen, wer sich befreien kann, ob es der Verlust der Pfunde und die Anpassung an die gängigen (Erfolgs-)Normen ist, die als Happy End gelten kann oder das Gleiten in eine (Schein-)Welt, wo diese Normen aufgehoben sind.

Dr. Tense verschwindet, ein abscheuliches Verbrechen bleibt nach außen ungesühnt, Ebba versinkt in einer anderen Welt und die Verantwortlichen wirken ein wenig bekümmert. Der Roman endet mit der Initiation Ebbas in „Sagos Welt“, „befreit von der Last dessen, was unerträglich ist?“ Doch wie vor den Anfang ein Prolog gestellt ist, ist hinter das Ende ein Epilog gesetzt. Wie Sie der geheimnisvolle Anfang in die Welt der Weiko-Sud-Klinik zieht, unangemeldet wie Sie sind, so werden Sie nun wieder nach draußen geschleudert. Urs und Sophie, verschlankt und erfolgsgehärtet, treffen sich zufällig in Paris. Ihr Gespräch kreist um das, was auf dem Fettberg geschehen ist und drückt sich doch darum, es auszusprechen. Vielleicht wird Urs zurückfahren, um Ebba „da raus zu holen“. Vielleicht.

„Fettberg“ ist ein Roman, der leichtfüßig daher kommt und sein Gewicht erst nach und nach in die Waagschale wirft. Es geht im Grunde um den Widerstand gegen Mäßigkeit und Leistungsdenken, gegen die ewige Beschränkung der Lust und der Gier im Namen der Vernunft. Kann glücklich werden, wer sich dem entzieht? Und was ist der Preis, den bezahlt, wer sich dem eigenen Hunger ausliefert?

2 Kommentare:

  1. Liebe Melusine, ich bin sprachlos und beglückt. Muss mich erst einmal sammeln, bevor -

    (und wieder ein Cliffhanger ; )

    Danke.

    Phyllis

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  2. Och, da nich für, Frau Kiehl!

    Herzliche Grüße und schöne Rest-Ostern! (Hehe, Reste futtern ist immer am schönsten. Hier stapelt sich zurückgelassene Beute. Die Jugend von heute - Gebrüder I.! - ist ja nur bedingt frustrationstolerant und hat viel gut versteckte Schokolade im Garten nicht gefunden! Ich mag besonders die Nougateier.)

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