Es
ist nicht so, wie Sie denken. Es geht hier nicht um die Missbilligung der üppigen Fettberge, die den
Fetten über die Hosenbunde schwappen und um die Schenkel schlabbern. Jedenfalls
geht es nicht nur darum, nicht um
Ihre und meine Abwehr gegenüber den Fetten, die sich wie Berge in die
Landschaft respektive unser Blickfeld drängen, in der S-Bahn ihre Körpermasse
unweigerlich über den zugewiesenen Platz lappen lassen, wodurch es zu peinsamen
Berührungen mit dem Fett kommt, die mit ihren platten Füßen wie Elefanten in
den Porzellanladen trampeln und immer etwas anrempeln mit ihrer Hinternfülle
oder ihrer Vorderwampe. Allerdings geht es um eine mögliche Reaktion der Fetten
auf diese unsere Einstellung, nämlich um den Versuch sich hoch droben auf einem
Berg, dem Fettberg, Ruhe zu verschaffen vor unseren ausweichenden Blicken,
unserem tadelndem Räuspern und
unseren unerbetenen Diät-Ratschlägen.
Phyllis Kiehl hat im Verlag der Kulturmaschinen den Roman „Fettberg“ veröffentlicht und
wenn das Buch keinen Prolog hätte, sondern anfinge mit dem ersten Kapitel, das
so anfängt: „Ich heiße Ebba Korff und ich
bin fett. Fragen Sie nicht, wie viel ich wiege. Fragen Sie mich das nie. Besser
noch, Sie kennen mich nicht: Wir wollen mit Leuten unter hundertzwanzig Kilo
nichts zu tun haben.“, wenn das Buch so anfinge, dann könnten Leser:innen für
einen Moment (allerdings nur für einen sehr
kurzen) annehmen, sie hätten es hier mit einem der Romane zu tun, wie sie
regelmäßig und ziemlich erfolgreich als sogenannte „Frauenliteratur“ auf den Markt gebracht werden,
wo moderne Diät-, Mode- und Paarungsprobleme auf liebevoll-ironische Weise
dargestellt und („immer ehrlich,
aber mit Herz“) einer mehr oder minder realistischen Lösung („Ich bin wie ich
bin.“ „Es muss nicht immer der Märchenprinz sein.“) zugeführt werden. Ein wenig
krass wäre freilich die Kilo-Angabe, denn bei solcher Art aliterarischer Werke hat man es doch in der
Regel höchstens mit den Dicken (weiblich bis ca. 80 kg, männlich bis ca. 110
kg) zu tun. Nicht so bei Kiehl. Hier geht es um FETTE, nicht um „kräftige
Mannsbilder“ oder „Vollweiber“.
In
Kiehls Roman, der in der Weiko-Sud-Klinik spielt, wo die Fetten einander beim
Essen mit bösartigen Spielen quälen, bei mangelnder Gewichtsabnahme den ganzen
Tag in Papierklamotten herumlaufen müssen und ein Dorn am Bettende der
abendlichen Blutabnahme zur Kontrolle der Blutfettwerte dient, kommt es auch nicht
zur romantischen Begegnung zwischen einer netten, aber ein wenig übergewichtigen Frau und einem liebenswerten,
ein wenig pummeligen Mann, die nach einigem Hin und Her sich selbst und
einander lieben lernen und dann (zum guten Schluss) sogar noch ein paar Kilo
abnehmen. „Fettberg“ liest sich spritzig und spannend, doch geht es, wo Kiehl witzig
und ironisch ist, keineswegs darum, billige Ratgeber-Weisheiten gefällig zu
illustrieren. Was Phyllis Kiehl den Leser:innen anbietet, eignet sich eben nicht
als Nebenher-Lektüre zwischen dem eingängigen Studium von Diätplänen und
Horoskopen.
Und
deshalb fängt der Roman auch nicht mit dem ersten Kapitel an, sondern mit einem
Prolog, der die phantastische nächtliche Atmosphäre um die Weiko-Sud-Klinik
einfängt, wo etwas Unheimliches vorgeht, das jenseits aller bekannten Diätvorschläge
und Jojo-Effekte liegt: „Die Nacht holt
Atem und nimmt ungerührt Millionen von Existenzen zu sich, doch bereits während
sie ausatmen, werden die neuen geboren. Hier am Rand der Außenanlage der
Weiko-Sud-Klinik, wo sich der Baumbestand lichtet, sind die Geräusche fast
verstummt. Nichts regt sich.“ Die Weiko-Sud-Klinik ist ein geheimnisvoller Gegenentwurf
zur Welt der Selbstoptimierungs-Mythen, in der wir leben. Eine phantastische
Welt wohliger Akzeptanz des Hungers in uns, der sich nicht mehr zu verstecken
braucht. Die Sympathien allerdings, die diesem Entwurf von Leser:innen entgegen
gebracht werden könnten, werden auf die Probe gestellt. Alles hat seinen Preis
und jede (Lebens-)Lüge muss bezahlt werden; ein ganzes Lügen-Gebäude gar - wie die
Weiko-Sud-Klinik - ist teuer
erkauft mit der Vertuschung von Verbrechen und Maßnahmen, die man je nach
Perspektive als Schmerztherapie oder Freiheitsberaubung betrachten könnte.
Die
renommierte Adipositas-Behandlungsstätte ist die Fassade nach draußen für diese „innere
Welt“. In die Weiko-Sud-Klinik wird nur aufgenommen, wer die horrenden Gebühren
bezahlen kann. Die Behandlungsmethoden treiben den Terror gegenüber
Fettsüchtigen, so scheint es zunächst, auf die Spitze: tägliche Demütigung beim
öffentlichen Wiegen, dauernde Messung und Veröffentlichung der Körperfettwerte,
Fitness-Trill . Alles wird aufgeboten, aber niemand nimmt dauerhaft ab. Die Patienten
hoffen darauf, zum Direktor der Klinik vorgelassen zu werden, dem legendären
Dr. Sago. Doch der nimmt nur Auserwählte zur Behandlung an, die von seiner
Therapie zwar schwärmen, sich jedoch nie genauer darüber auslassen, wie sie
funktioniert. In dieses perfektionierte System dringt mit dem neuen Chefarzt
Dr. Ariel Tense ein Störfaktor ein. Tense will den Patienten ihr Fett „auspeitschen“. Seine gekonnte Gehirnwäsche
zielt darauf, ihren Selbsthass zu vergrößern, bis sie dem Fett, das „sie reitet“, den erbitterten Kampf
ansagen. Der böse Geist des Dr. Tense wird die Spannungen zwischen den
Patienten zum Siedepunkt und die geheime Hinterwelt der Klinik in die Krise
treiben.
Kiehl
arbeitet mit Andeutungen und Cliff-Hangern. Es wird den Leser:innen gelegentlich
versprochen, dass sich etwas „noch zeigen“
werde. Man sollte sich aber nicht zu sehr darauf verlassen. Was hier
geschildert wird, wuchert ungeniert über die Genre-Grenzen (Liebesroman,
Science Fiction, Thriller) hinaus, gerade so wie die Körper der Klinikbewohner
über die schickliche Kontur. Ebba, die sich nichts zutraut und sich schämt für
ihre Gier und ihre Fettpolster, ist zum Beispiel keineswegs „unbemannt“. Gleich
zwei Männer haben Ebba draußen, jenseits der Klinikmauern begehrt: ihr
Lebensgefährte wie auch ein reicher „Athlet“, der sogar die Kosten ihres Aufenthaltes
übernimmt. Dass Ebba geliebt wird, löst ganz offensichtlich ihre Probleme
nicht. So negiert „Fettberg“ ganz nebenbei nicht nur diese Lieblingslüge der
Ratgeber- und Schmonzesliteratur, die Frauen weis machen will, Glück finde, wer auf dem Paarbildungsmarkt erfolgreich ist. Es wird vielmehr Ebbas neue Freundin Sophie („fett und
hyperaktiv“), die die Marke „Huge!“ für Übergewichtige entwirft und so
selbstbewusst mit ihren überzähligen Pfunden umzugehen scheint, zum Opfer werden. Auch diese Wendung aber ist nicht endgültig. Urs, der
gescheiterte Werber, erweist sich als agiler und schöner als zu
erwarten gewesen wäre. Dagegen fällt der junge Fudji, der seinen großen Traum
nicht aufgeben will, ein erfolgreicher Sumo-Ringer zu werden, der „Herde“ anheim. Am Ende bleibt offen, wer
sich befreien kann, ob es der Verlust der Pfunde und die Anpassung an die
gängigen (Erfolgs-)Normen ist, die als Happy End gelten kann oder das Gleiten
in eine (Schein-)Welt, wo diese Normen aufgehoben sind.
Dr.
Tense verschwindet, ein abscheuliches Verbrechen bleibt nach außen ungesühnt,
Ebba versinkt in einer anderen Welt und die Verantwortlichen wirken ein wenig
bekümmert. Der Roman endet mit der Initiation Ebbas in „Sagos Welt“, „befreit von der Last dessen, was
unerträglich ist?“ Doch wie vor den Anfang ein Prolog gestellt ist, ist
hinter das Ende ein Epilog gesetzt. Wie Sie der geheimnisvolle Anfang in die
Welt der Weiko-Sud-Klinik zieht, unangemeldet wie Sie sind, so werden Sie nun
wieder nach draußen geschleudert. Urs und Sophie, verschlankt und
erfolgsgehärtet, treffen sich zufällig in Paris. Ihr Gespräch kreist um das,
was auf dem Fettberg geschehen ist und drückt sich doch darum, es
auszusprechen. Vielleicht wird Urs zurückfahren, um Ebba „da raus zu holen“. Vielleicht.
„Fettberg“
ist ein Roman, der leichtfüßig daher kommt und sein Gewicht erst nach und nach
in die Waagschale wirft. Es geht im Grunde um den Widerstand gegen Mäßigkeit
und Leistungsdenken, gegen die ewige Beschränkung der Lust und der Gier im
Namen der Vernunft. Kann glücklich werden, wer sich dem entzieht? Und was ist
der Preis, den bezahlt, wer sich dem eigenen Hunger ausliefert?
Liebe Melusine, ich bin sprachlos und beglückt. Muss mich erst einmal sammeln, bevor -
AntwortenLöschen(und wieder ein Cliffhanger ; )
Danke.
Phyllis
Och, da nich für, Frau Kiehl!
AntwortenLöschenHerzliche Grüße und schöne Rest-Ostern! (Hehe, Reste futtern ist immer am schönsten. Hier stapelt sich zurückgelassene Beute. Die Jugend von heute - Gebrüder I.! - ist ja nur bedingt frustrationstolerant und hat viel gut versteckte Schokolade im Garten nicht gefunden! Ich mag besonders die Nougateier.)