"Es sind vor allem vier große Verbote, die diesen strukturellen Zusammenhang der zeitgemäßen Zensur charakterisieren: Zensur als ergänzendes Legitimationsmittel; Zensur als Realismusverbot, Zensur als Ausgrenzung; Zensur als Sprach- und Symbolverbot. In der Kombination dieser Zensurmechanismen, die als einzelne in ihrer Herrschaftsfunktion gar nicht richtig sichtbar sind, wird eine kompakte Realitätsdefinition geliefert, die darauf zielt, gesellschaftliche Veränderungsstrategien zu lähmen, ohne dass man noch Klassen, Gruppen, Personen diesen Zuständen kausal zuordnen könnte.
Wo die geselslchaftliche Austreibung von Sprache und Symbolen nicht gelingt, da wird deren Austrocknung durch die Neutralisierung profilierter, Auseinandersetzungen herausfordernder Meinungsäußerungen betrieben. Jeder Meinung wird eine Gegenmeinung zugesellt, bis der Zuschauer oder Zuhörer in abwägendem Herumtasten wie Buridans Esel zwischen den beiden Heuhaufen verhungert und alles beim alten belässt. Wenn Sprache und Symbole des Widerstands und des Eigensinns keine Öffentlichkeit mehr finden, wenn Worte wie Klasse, Ausbeutung, Berufsverbot, Gewalt, aber auch Signale der kollektiven Identifikation wie Transparente, provokative Parolen, die auf Demonstrationen erscheinen, unter Kuratel gestellt werden und nur noch die Bilder der Warenästhetik die Umwelt prägen, dann ist der Zustand erreicht, in dem eine Gesellschaft die Reste ihrer politischen Kultur verloren hat. Der Weg ist nicht weit, den Begriff Zensur selbst unter Zensur zu stellen."
(Kluge/Negt: Der unterschätzte Mensch. Maßverhältnisse des Politischen, Frankfurt 2001)
***
Selbst in einer Gesellschaft, die diesen zensierenden Praktiken der Mainstream-Medien ausgeliefert ist, sind die Praktiken an den Finanzmärkten nicht mehr mehrheitsfähig. Das erklärt, warum in Frankfurt ein martialisches Polizeiaufgebot die Innenstadt lähmt und sogar die Bankentürme leert (Die meisten Angestellten im Bankenviertel haben heute "zwangsfrei"). Es geht darum, die Minderheit der politisch bewussten Akteure der Protestbewegung von der Mehrheit derer zu isolieren, deren diffuser Unmut noch zu keiner politischen Haltung geführt hat.
Die in Frankfurt mitregierenden Grünen indes sind weitgehend abgetaucht - und machen damit unfreiwillig noch einmal deutlich, wie recht Jutta Ditfurth hat: "Ich glaube, dass in den kapitalistischen Zentren wie Deutschland der verengte Blick auf parlamentarische Optionen sowieso ein falscher ist. In diesen Zentren kann eine Linke nie eine parlamentarische Mehrheit kriegen. Emanzipatorische Veränderung gibt es nur durch soziale Gegenmacht, kluge Systemopposition." (Frankfurter Rundschau vom 16.05.2012) Das Trauerspiel, das die als Partei organisierte "LINKE" derzeit aufführt, unterstreicht diese Feststellung.
was mich bei ditfurth stört, ist die argumentation aus einer position des besseren wissens heraus, emanzipatorisch wird als schlagwort eingesetzt, ohne dass es gefüllt wäre. das kenne ich gut aus meiner frankfurter zeit. ich war anfang der neunziger bei der lili, und unser gebahren hatte zuweilen etwas erpresserisches. immer im sinne "emanzipatorischer politik" natürlich. aber wir waren sektierer. was ist "kluge systemopposition"?
AntwortenLöschendas heißt nichr, dass ich nicht auf seiten derer bin, die europa, die welt demokratisieren wollen.
Die Kritik ist berechtigt. Wie konkret "kluge Systemopposition" jetzt aussieht/aussehen kann, sagt Ditfurth hier nicht. Ich kenne sie persönlich nicht. Letztlich glaube ich aber, dass Jede Kritik auch diesen Gestus des "Besserwissens" hat - die bestehenden Verhältnisse können nicht in Frage gestellt werden ohne eine Idee davon, woran gemessen sie sich als "falsch" und also "verbesserungsbedürftig" erweisen.
AntwortenLöschenWas mir hier wichtig ist, ist das Aufbrechen dieser Fixierung auf Parteien. Wenn ich mir die ansehe, die sich zu Wahl stellen...- und was durch Wahlen und Wählen erreicht werden kann, wird sich - und da bin ich mehr als pessimistisch - u.a. jetzt zeigen, nachdem Hollande in Frankreich gewählt wurde: Werden wir da wirklich eine andere Politik erleben oder nur andere Sprachhülsen? Vier Jahre nach der Lehman-Brother-Pleite sind so gut wie keine Gesetze zur Regulierung des Finanzsektors umgesetzt worden (wenn man von der Installierung neuer Institutionen zur sogenannten "Überwachung" absieht). In den Zentren wird protestiert und über Benzinpreise gejammert, während anderswo Existenzen vernichtet werden. Der Sparzwang wird allseits als "alternativlos" akzeptiert, während die Durchsetzung höherer Steuern oder auch nur das Eintreiben von Steuern nach den geltenden Gesetzen als realitätsferne Fantasterei erscheint.
Auch und gerade gutwillige Menschen, die tatsächlich Veränderungen woll(t)en, die sich in die Institutionen begeben, werden von diesen "geschliffen" und übernehmen schnell das "Polit-Sprech", das eben in jener Zensur besteht, die oben beschrieben wird.
Politik-Verdrossenheit wird zwar in Sonntagsreden beklagt; ich denke aber, dass sie aus strategischen Gründen bewusst und unbewusst erzeugt wird. Sie lähmt. (Das kann ich an mir selbst erleben.)
ich denke auch, dass wir andere, wirksamere oder bessere demokratische strukturen brauchen, was letztlich dazu führen sollte, dass sich die menschen von selbst, strukturell bilden. du hattest kürzlich die si zitiert. ich glaube, die situationisten hatten, neben doktrinären ansichten auch ansätze, über die es sich nachzdenken lohnt.
AntwortenLöschenwas mich bei der frankfurter demo ein wenig nervt, ist die altbekannte und vereinfachende fixierung auf die finanzwirtschaft und die gegenüberstellung von finanz- und realwirtschaft, als ob die verhältnisse in der produktion auf einem moralisch höherem niveau stünden.