Samstag, 19. Mai 2012

DIE FERNE NÄHE (Eva Demskis Reise-Erzählungen über den Rheingau)


Lange her - als Mastermind und Amazing noch mit den
Eltern durch den Rheingau wanderten
An der Hallgartener Zange haben wir uns noch bei jeder Wanderung verlaufen. Dafür schätzen wir den Riesling der Lage, den der hiesige Bio-Supermarkt im Angebot hat, zu einfachen Abendessen. An einem lauen Abend schmeckte uns das leckere Dunkelbier im Klostergarten der Gaststätte des Kloster Eberbach. Nach Bacharach am Rhein fuhr ich einmal mit einer Freundin in der Lebenskrise. Wir trafen uns in Bingen am Steg und saßen an Bord des Rheindampfers zwischen lauter Rentnern, die sie mit ihrem Turban und den dunklen Augen für eine strenggläubige Muslimin hielten. Die verwinkelte Pension, in der wir unterkamen, wurde von einem verhuschten Männchen geführt, das jedoch kein einziges Mal seine  Mutter erwähnte,obwohl man sich gut  vorstellen konnte, sie oder ihr Skelett hause irgendwo unterm Dach in einer Kammer  Zum Glück waren die Zimmer nur mit fließend warm und kalt Wasser - ohne Dusche! Als sensationell stellte sich das Frühstück heraus, kein Büfett, keine abgepackten Marmeladen und Butterportionen, sondern ein großer Tisch, nur für uns zwei gedeckt mit Brötchenkorb und Brezeln, Aufschnitt, Käse, einer selbstgemachten Erdbeermarmelade und frisch gemahlenem Kaffee. Danach konnten wir uns kaum mehr rühren und spazierten bloß noch eine kurze Strecke über die Promenade. Die Krise blieb und verging anderswo und anderswie, doch die zwei Tage auf und am Rhein lenkten von Schmerzen ab und schenkten uns Momente des Lachens und Lächelns. Ein andermal wanderten Morel und ich mit zwei maulenden Söhnen bis fast hoch in den Hunsrück hinauf und stießen unvermittelt auf dem Rückweg auf das sogenannte Günderrode-Häuschen, das Hermann und Clarissa in HEIMAT 3 von Edgar Reitz renovieren. Im Film liegt es gegenüber der Loreley, doch wir fanden es in Oberwesel, wo die Jugendherberge wahrhaftig ein eigenes Hallenbad hat.

Der Rheingau ist ein Ausflugsziel, das ich seit vielen Jahren liebe. Ich kenne die Gegend gut, doch ich war noch nie in einer Garage Winery, ich lauschte noch nie den Papageien im Schlosspark von Bieberich, ich betrat noch nie das Brentanohaus in Winkel oder suchte Karoline von Günderodes Grab. Sie scheint so vertraut, die Tour in den Rheingau, dass man leicht glaubt, es gäbe darüber nichts zu erzählen, über eine Gegend, durch die man so oft gewandert, in der man so oft gezecht hat. Doch Eva Demski schafft es in einem kleinen Buch über den Rheingau, ganz ohne Rührseligkeit, dieser vertrauten Landschaft neue Seiten abzugewinnen und ihren alten Glanz aufzupolieren.

Demski beginnt mit ihren Kindheitserinnerungen, Frühling und Herbst am Rhein statt an der Donau, wo sie aufwuchs, zwei Flüsse voller Geschichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, Rheingold und Drachenblut, Donauwellen und Schwarzmeer. Am Rhein herrschte, so erinnert sie sich, stets eine Überschwänglichkeit, „immer machte jemand ein Fläschchen auf“. Sie sind redselig, die Rheinländer, sie tratschen und klatschen, dass dem Kind die Ohren klingen, alles scheint voller Andeutungen, Anspielungen, Sehenswürdigkeiten, Musik und Wein, Fülle statt Düsternis, Heiterkeit statt Melancholie. So fühlt sich in der Erinnerung Demskis der Rheingau an, zwischen Wiesbaden und Koblenz, wo die Burgruinen geradezu epidemisch von den Felsen grüßen und die betrunkenen Kegelvereine sich in den Gebüschen vergnügen.

Die „Reise in die vertraute Fremde“, auf die Demski die Leser:innen mitnimmt, führt über die A66 direkt zur Sektkellerei Henkell, deren Riesenwürfel ihr als Eintrittstor in den Rheingau erscheint. Im Schlossgarten von Biebrich findet sie die legendären „käfigflüchtigen“ Papageien, unverschämte Eindringlinge, die die heimische Vogelwelt bedrohen, wie der Parkwächter meint, der sie abschießen will. Einwanderer aus fernen Ländern sind halt auch im Rheingau, wo es so gemütlich wirkt, nicht allseits willkommen, obwohl der Landstrich von asiatischen Touristen durchaus profitieren will.

Die Gasthäuser sind urig häßlich, Butzenscheiben, Plastikreben, karierte Tischdecken und Damastvorhänge. Ein kleines Gebiet jenseits der Kaub war zwischen 1919 und 1923 der „Freistaat Flaschenhals“, da wanderten auch wir einmal hindurch und prägten aus Blech Münzen. Das Essen ist im Rheingau jederzeit „touristenkompatibel“, immerhin, manchmal auch besser. Demski sieht von der üblichen Verachtung gegenüber den Kegelbrüder und –schwestern, die sich in der Drosselgasse volllaufen lassen, ab: „Damit man zu einer schönen Enthemmung findet, gibt es längst nicht mehr nur den berüchtigten Riesling, sondern mehr und mehr Bier und Exotisches. Ein Drink heißt Orgasmus, so steht es jedenfalls auf einer Tafel...“ Man kann sich selbstverständlich im Rheingau auch gediegener betrinken. Demski kann dem hellen, trockenen Riesling allerdings nicht viel abgewinnen, den ich im Sommer liebe, sie lobt die roten, schweren Weine von Assmannshausen. In der Drosselgasse werden schiefe Gesänge angestimmt, während andernorts im Rheingau die hohe Sangeskultur beim Rheingau-Musikfestival gepflegt wird. Luxus und Volksgut, Heißhunger und Gourmetküche, rundgeschliffene Kieselsteine im trockenen Flussbett und Hochwasser bis an die Brückenkante: der Rheingau bietet jedem etwas und will es sich mit keinem vermiesen. So scheint es.

Viele Male besuchten wir das Kloster Eberbach und wanderten vorbei an der langen Mauer von Eichberg. Ich wusste das nicht, das hinter diesen Mauern zwischen 1941 und 1945 behinderte Kinder ermordet wurden. Das erfuhr ich erst aus Demskis kleinem Buch über den „Rheingau“. „Der Gedenkstein für die toten Kinder liegt der Kapelle gegenüber. Er ist weiß, etwa sarggroß, der Text ist schwer zu lesen. Ich betrachte den gemeißelten Teddy, das steinerne Suppentellerchen mit Löffel und Spielszeugpferd. Bis 1993 haben sie gebaucht, um das hier zustande zu bringen. Sonderlich frequentiert sieht sie nicht aus, diese Kindertotengedenkstätte, die so seltsam aus den Elementen einer normalen Kindheit zusammengesetzt ist, Essen und Spielzeug. Nicht mal ein vertrockneter Blumenstrauß liegt da, das ganze ist einfach eine Verlegenheitslösung zu spät, zu leise, zu uninspiriert, zu klein.“ Die spüre ich auch, die Verlegenheit, denn genau so wäre es, wenn ich nun dort hinführe: zu spät, zu leise, zu uninspiriert, zu klein. Ich bin so viele Male an dieser Mauer entlang gegangen, fröhlich und munter, wie soll ich jetzt die rechte Einstellung finden zu diesem Ort, nachdem ich das weiß, was ich hätte wissen müssen und können die ganze Zeit?

Germania droht vollbrüstig vom Niederwalddenkmal hinab und tief in der Nacht mag es aus irgendeiner dunklen Kneipe schallen: „Fest steht die Wacht am Rhein...“ In vielen gemütlichen Brustkörpern lauert eine Metzgerseele. Der Rheingau ist schön und golden, üppig, verkommen und veraltet, fröhlich und brutal. Oder er kann das sein. Die Lektüre der Sammlung von Reiseerzählungen von Eva Demski führt in diese nahe Ferne, nicht kitschig verklärt und nicht sarkastisch verhöhnt. 

Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!

Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Hinab ins Tal, mit Rasen sanft begleitet,
Vom Weg durchzogen, der hinüber leitet,
Das weiße Haus  inmitten aufgestellt,
Was ist's, worin sich hier der Sinn gefällt?

Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Erstieg ich auch der Länder steilste Höhen,
Von wo ich könnt die Schiffe fahren sehen
Und Städte fern und nah von Bergen stolz umstellt,
Nichts ist's, was mir den Blick gefesselt hält.

Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Und könnt ich Paradiese überschauen,
Ich sehnte mich zurück nach jenen Auen,
Wo Deines Daches Zinne meinem Blick sich stellt,
Denn der allein umgrenzet meine Welt.

Bettina Arnim




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