Freitag, 11. Mai 2012

STEINSCHLAG IM GEBIRG´ (oder: "Frauen riechen nach Fisch")


Mini-Drama (4)


Carola                   WAR-MAL-HEXE
Vita                        OFF-FRAU


Carola sitzt in einem Rollstuhl vor einer Gummibergsteigerwand. Ihre Beine sind von einer karierten Wolldecke bedeckt.

Vita (aus dem OFF):
„Nach dieser Nacht konntest du dich nicht mehr rühren. War es nicht so?“

Carola:
„Wenn Sie es sagen.“

Vita (aus dem OFF):
„Wie lange hielt die Lähmung an?“

Carola:
„Solange es Ihnen beliebt.“

Männerstimme (aus dem OFF)
Ich glaube, dass Beweise dafür vorliegen, dass die Frauen ihren eigenen psycho-physiologischen Gesetzen folgen und dass sie nicht freiwillig die Ziele anstreben, deren Erreichung Männer ihr Leben widmen.


Vita (aus dem OFF):
„Jeder Glaube ist ein Wahnsystem, ersonnen unsere Lust einzudämmen, unseren Willen zu brechen, unser Verständnis zu ersticken.“

Carola (trotzig):
„Ich glaube, was ich will, egal, ob es Ihnen gefällt.“

Vita (im weißen, fließenden Gewand betritt auf Zehenspitzen die Bühne):
„Mein Strahlen verdanke ich allein der männlichen Abhärtung, die ich mir verordnet habe.“

Carola (rollt im Rollstuhl an den äußersten Rand, in den Schatten vor der Gummibergsteigerwand, Vita tanzt über die Bühne, seichte, plätschernde Klaviermusik)

Männerstimme (aus dem OFF)
Einerlei wie lange es dauern mag, einerlei in welcher Form es eines Tages geschehen wird, eines ist sicher: die endgültige Befreiung der Frau kann nur in der Befreiung aus der Geschlechtlichkeit liegen. Die klassenlose Gesellschaft der Zukunft kann nur eine geschlechtslose Gesellschaft sein.

Vita (bricht auf der Bühne zusammen)
„Meine Füße bluten, Schwester.“

Carola (aus dem Schatten)
„Holt ihr einen Rollstuhl und eine Decke.“

Zwei geschlechtslose Wesen in schwarzen, hautengen Gymnastikanzügen betreten die Bühne mit einem Rollstuhl, in den sie Vita heben. Sie decken ihre Beine mit einer karierten Decke zu.

Carola (aus dem Schatten)
„Sie wollten sich mit Sorgfalt und Hingabe befreien. Sie glaubten Ihr Gefühlsinteresse, Ihre Mutterrechte, Ihre Sozialarbeit lieferten Ihnen Argumente. Sie machten sich lächerlich.“

Vita (im Scheinwerferlicht, hebt den Brustkorb)
„Du kannst sogar in mir den Mann erkennen, wenn du willst.“

Carola (lacht schrill, der Scheinwerfer gleitet zu ihr)

Männerstimme (aus dem OFF)
Es ist bemerkenswert, dass die exklusive sexuelle Identität, d.h. das Gefühl, nur einem Geschlecht anzugehören, gleichermaßen der sozialen „Normalität“ entspricht, wie dem, was uns als Extremform der sexuellen Entfremdung erscheint: dem Transsexualismus.

Vita (im Schatten)
„Mit Tränen, Liebste, Tränen der Freude, glaube mir, denke ich oft zurück an den Tag, an dem wir uns fanden.“

Carola (im Licht)
„Du bist so bleich und deine Lippe bebt.“

Vita (von einem zweiten Lichtkegel eingefangen)
„Ich habe mich an dir erkältet.“

Carola (wendet sich ihr zu)
„Ich werde dich an mir verbrennen.“

Vita (zieht eine Lippenstift und einen Spiegel unter der Decke hervor und malt sich die Lippen rot.)
„Dann werde ich kein Mann sein, aber etwas Anderes.“

Carola rollt auf sie zu, Vita beugt sich zu ihr hinüber und zieht auch ihr die Lippen nach.

Carola
Du innig Rot.“

Vita
„Bis an den Tod.“

Carola
„Soll meine Lieb´ dir gleichen.“

(Steinschlag über der Gummibergwand. Schreie. Licht aus.)

Giovanni Antonio Cavazzi

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