Noch
einmal also Venedig...
Die Touristen auf Murano |
Als
wir zum ersten Mal da waren, war es ein Desaster. Nicht nur, aber auch wegen
der Dosen. Es fing aber schon mit dem Reisebus an und der Suche nach Plätzen in
diesem. Wir haben nur dieses eine Mal eine Busreise gemacht, einen Tagesausflug
vom Gardasee nach Venedig. (Dabei wird es auch bleiben, wenn es nach mir geht,
bei dieser einen und einzigen Busreise mit Reiseleitung.) Wir brachen alle
Regeln, gleich am Anfang, weil wir nicht ahnten und es auch bis zum Ende des
Tages nicht begriffen, von welch großer Bedeutung die Belegung und Behauptung
bestimmter Sitzplätze und –reihen für erfahrene Busreisende ist. Mit unseren
minderjährigen Söhnen (damals etwa 11 und 12 Jahre alt) im Schlepptau baten wir
unverschämt einzeln Sitzende darum, vielleicht eine Reihe weiter vor oder
zurück zu rücken, damit wir zu zweit nebeneinander sitzen könnten, jeweils ein
Elternteil neben einem Kind. Man sah uns an, als hätten wir gefragt, ob es
genehm sei, auf den freien Sitz zu pinkeln. Wir fanden uns ab; die Kinder
setzten sich neben ihnen unbekannte Erwachsene. Der Mastermind, der besonders
schüchtern war und ist, schloss die Augen und tat als schliefe er. „Der Mann“,
sagte er als wir ausstiegen, „hat mich immer so unheimlich angestarrt.“ Dem
Amazing war es „im Prinzip“ egal, wie er verkündete, auch wenn er fand, die
Frau neben ihm nehme leider etwas mehr als ihren eigenen Platz ein mit ihrer
Körperfülle, weswegen er in den Gang ausgewichen sei. „Zur Rückfahrt“, sagte
der Mastermind, „kommen wir einfach ein bisschen früher zum Bus, dann können
wir uns die Plätze noch aussuchen.“ Da nickten wir gleichfalls völlig
unerfahrenen Eltern dazu und folgten seinem Vorschlag. Das aber brachte das
Fass zum Überlaufen, nachdem wir uns schon auf der Hinfahrt so gründlich
daneben benommen hatten. Bei einer Busreise, so erfuhren wir, ist es so: der
einmal besetzte Platz ist für die ganze Reise garantiert. Es geht gar nicht,
dass jemand anders sich auf einen so belegten Platz setzt: „Wo kämen wir denn
da hin...“
Die
Sache mit den Plätzen war aber nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren die Dosen. Auf der Hinreise nämlich sprach
die dänische Reiseleiterin ununterbrochen von denen. Die Dosen haben das
gemacht und jenes, die Dosen wollten, die Dosen konnten, die Dosen fuhren, die
Dosen herrschten, die Dosen sammelten....Der Mastermind, der trotz
geschlossener Augen gut aufpasste, dachte, es ginge um das Dosenpfand, das just
zu jener Zeit viel diskutiert wurde. Beim Ausstieg wollte er wissen, „ob der
Trittin jetzt auch in Italien regiert“. (Selbstverständlich, das will ich hier
einfügen, machte der Mastermind an dieser Stelle einen Scherz, denn auch im
zarten Alter von 11 war ihm durchaus bereits bekannt, auf welches Territorium
sich die Exekutivgewalt der Bundesregierung erstreckt.) Der Palast der Dosen immerhin, den wir, nachdem der Bus
uns ausgespuckt und wir uns durch ein geschicktes Manöver auf dem Busparkplatz
vor der Reisegruppe versteckt und schließlich von dieser entfernt hatten, als
erstes Ziel aufsuchten, beeindruckte nicht nur die Eltern, sondern auch die
jungen Herrschaften. Mir haben es damals vor allem die riesigen Landkarten
angetan. „Die konnten sich was leisten, die Dosen, mit ihren lustigen Hütchen.“
In
diesem Jahr machten wir um den Dogenpalast einen großen Bogen und fuhren
stattdessen vom Bahnhof aus mit der Linie 4.2 rund um die Lagunenstadt, wobei
wir immer wieder einen Stop einlegten. So bildete das ruhigere Viertel
Cannaregio diesmal einen Schwerpunkt unseres Venedig-Besuches. Während sich
rund um das Ghetto Nuovo Reisegruppen tummeln, die
sich die Synagogen zeigen lassen oder in dem einzigem vom „chief rabbi“(?)
Venedigs zertifizierten kosheren Restaurant speisen, und eine breite
Einkaufsstraße, die Lista di Spagna/Strada Nova mit allerlei Krimskrams und
Fressalien lockt, wird es weiter nördlich ganz still. Wir stiegen an der
Station Madonna dell´Orto aus, von wo aus man durch einige verschlungene Gassen
zur gleichnamigen gotischen Kirche findet. Aus den Fenstern hingen die gestreiften
Shirts der Gondolieri an den Wäscheleinen, von denen der eine oder andere wohl
hier fern all der Touristen wohnt. In der Backsteinkirche Madonna dell ´Orto
liegt Jacopo Robusti genannt Tintoretto begraben und mit ihm seine Tochter Marietta, die vergessene Meisterin, und sein Sohn Domenico. Tintoretto hatte in dieser
Gegend seine Werkstatt, in der auch Marietta arbeitete, und in der gotischen
Kirche hängen einige seiner bedeutendsten Werke. Zu beiden Seiten des Altars finden
sich die „Anbetung des goldenen Kalbs“ und „Das jüngste Gericht“. Noch mehr als
diese beiden dynamischen Bilder forderte mich das ungewöhnliche großformatige
Gemälde rechts neben der Grabkapelle heraus: Der Tempelgang Marias. Die kleine Maria ist aus großer Distanz
gezeigt, weit entfernt vom Betrachter, der unten an einer riesigen Freitreppe
steht, die zum Tempel hinaufführt, vor ihm eine Schöne mit ihrem Kind an der
Hand, die auf das kleine Mädchen mit dem Heiligenschein hinweist, das unbeirrt auf den hohen Priester in seinem Ornat zuschreitet.
Die Darstellung des Priesters hat durchaus karikaturistische Züge. Das zentrale
Thema dieses Bildes aber ist die Verweisstruktur: Wie die eine Frau die andere,
die jüngere, hinweist auf jene Dritte, die ihren Weg geht. So führen die Frauenfiguren die Betrachterin ins Bild
und hin zu jenem Mädchen, das noch nichts von seiner Bestimmung weiß, dem noch
nicht die furchtbare Heimsuchung zuteil wurde und das gerade deshalb – noch
nicht eingesetzt als Medium zwischen Gottvater und Sohn, sondern noch sein gelassen - dem mächtigen Hüter des Heiligtums
unerschrocken entgegen treten kann. Was gezeigt werden kann als und im Bild, ist eben nicht der GOTT,
den der schriftgelehrte Mann vertreten will und bloß lächerlich macht, sondern das Kind, indem das GÖTTLICHE wortlos wirkt. Es enthüllt
sich auch nicht, wie der logische Verstand, der auf Entblößung aus ist, sich vormachtl, sondern leuchtet - schon
immer. Eckart Peterich, dessen antiquarischem 3bändigen "Italien" Morel
sich auch auf dieser Reise anvertraut, vergleicht das Gemälde mit Tizians
Darstellung in der Akademie, die er „herrlich“ findet. Das ist sie in der Tat:
HERRlich empfängt der Priester mit ausgebreiteten Armen das dem Betrachter im
Profil ausgelieferte Kind bei Tizian. Bei Tintoretto indes wird eine Kette der
Frauen gebildet, die zeigt. (Soll
frau es für einen Zufall halten, dass der kunstsinnige Herr Peterich erwähnt:
„in der Kapelle rechts vom Hochalter ist Jacopo Tintoretto begraben, mit ihm
sein Sohn Domenico und sein Schwager“, aber kein Wort verliert über die Frau Faustina und die Tochter Marietta, die gleichfalls
hier beigesetzt sind, wie die Inschrift zweifelsfrei ausweist? Die Geschichte
der Auslöschung; sie wurde und wird fort- und fort geschrieben und als zickig und
verbohrt erscheint eine jede, die es wieder und wieder empört.)
Als
wir zu Anlegestelle des Vaporetto zurückgingen, trat sie aus dem Haus, eine
Frau in Blau, gestützt auf einen Stock, nicht jene Flotte, die wir in Vicenza
so viele Male gesehen hatten, sondern eine um viele Jahre gealterte und gebeugte
mit ihrer Einkauftasche über dem Arm, trotzig und beharrlich gegen den
Verfallsprozess anstampfend, den eigenen und den Stadt, in der sie lebt. Wir
setzten, vorbei an der Friedhofsinsel San Michele nach Murano über, wo sie
wieder waren, die vielen Touristen, zu denen auch wir gehörten, auf der Suche
nach einem Präsent oder einem Souvenir. Vor Jahren, als wir vom Gardasee aus
nach Venedig mit dem Bus fuhren, kauften sich der Amazing und der Mastermind
von ihrem Taschengeld gläserne Füllfederhalter, deren Farbenspiel sie faszinierte.
Vielleicht liegen die noch irgendwo eingetrocknet herum, wahrscheinlicher ist,
dass sie längst verloren gingen, wie auch jene grüne Glasfigur, ein Tier,
vielleicht ein Reh, an die sich vage Morel erinnerte, die er im Alter von vier
Jahren in Venedig bekommen habe, wo ihm ansonsten sehr schlecht gewesen sei, im Hotel auf dem Lido.
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