Donnerstag, 12. Juli 2012

VENEDIG: Das Mädchen und der hohe Priester


Noch einmal also Venedig...

Die Touristen auf Murano
Als wir zum ersten Mal da waren, war es ein Desaster. Nicht nur, aber auch wegen der Dosen. Es fing aber schon mit dem Reisebus an und der Suche nach Plätzen in diesem. Wir haben nur dieses eine Mal eine Busreise gemacht, einen Tagesausflug vom Gardasee nach Venedig. (Dabei wird es auch bleiben, wenn es nach mir geht, bei dieser einen und einzigen Busreise mit Reiseleitung.) Wir brachen alle Regeln, gleich am Anfang, weil wir nicht ahnten und es auch bis zum Ende des Tages nicht begriffen, von welch großer Bedeutung die Belegung und Behauptung bestimmter Sitzplätze und –reihen für erfahrene Busreisende ist. Mit unseren minderjährigen Söhnen (damals etwa 11 und 12 Jahre alt) im Schlepptau baten wir unverschämt einzeln Sitzende darum, vielleicht eine Reihe weiter vor oder zurück zu rücken, damit wir zu zweit nebeneinander sitzen könnten, jeweils ein Elternteil neben einem Kind. Man sah uns an, als hätten wir gefragt, ob es genehm sei, auf den freien Sitz zu pinkeln. Wir fanden uns ab; die Kinder setzten sich neben ihnen unbekannte Erwachsene. Der Mastermind, der besonders schüchtern war und ist, schloss die Augen und tat als schliefe er. „Der Mann“, sagte er als wir ausstiegen, „hat mich immer so unheimlich angestarrt.“ Dem Amazing war es „im Prinzip“ egal, wie er verkündete, auch wenn er fand, die Frau neben ihm nehme leider etwas mehr als ihren eigenen Platz ein mit ihrer Körperfülle, weswegen er in den Gang ausgewichen sei. „Zur Rückfahrt“, sagte der Mastermind, „kommen wir einfach ein bisschen früher zum Bus, dann können wir uns die Plätze noch aussuchen.“ Da nickten wir gleichfalls völlig unerfahrenen Eltern dazu und folgten seinem Vorschlag. Das aber brachte das Fass zum Überlaufen, nachdem wir uns schon auf der Hinfahrt so gründlich daneben benommen hatten. Bei einer Busreise, so erfuhren wir, ist es so: der einmal besetzte Platz ist für die ganze Reise garantiert. Es geht gar nicht, dass jemand anders sich auf einen so belegten Platz setzt: „Wo kämen wir denn da hin...“

Die Sache mit den Plätzen war aber nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren die Dosen. Auf der Hinreise nämlich sprach die dänische Reiseleiterin ununterbrochen von denen. Die Dosen haben das gemacht und jenes, die Dosen wollten, die Dosen konnten, die Dosen fuhren, die Dosen herrschten, die Dosen sammelten....Der Mastermind, der trotz geschlossener Augen gut aufpasste, dachte, es ginge um das Dosenpfand, das just zu jener Zeit viel diskutiert wurde. Beim Ausstieg wollte er wissen, „ob der Trittin jetzt auch in Italien regiert“. (Selbstverständlich, das will ich hier einfügen, machte der Mastermind an dieser Stelle einen Scherz, denn auch im zarten Alter von 11 war ihm durchaus bereits bekannt, auf welches Territorium sich die Exekutivgewalt der Bundesregierung erstreckt.) Der Palast der Dosen immerhin, den wir, nachdem der Bus uns ausgespuckt und wir uns durch ein geschicktes Manöver auf dem Busparkplatz vor der Reisegruppe versteckt und schließlich von dieser entfernt hatten, als erstes Ziel aufsuchten, beeindruckte nicht nur die Eltern, sondern auch die jungen Herrschaften. Mir haben es damals vor allem die riesigen Landkarten angetan. „Die konnten sich was leisten, die Dosen, mit ihren lustigen Hütchen.“


In diesem Jahr machten wir um den Dogenpalast einen großen Bogen und fuhren stattdessen vom Bahnhof aus mit der Linie 4.2 rund um die Lagunenstadt, wobei wir immer wieder einen Stop einlegten. So bildete das ruhigere Viertel Cannaregio diesmal einen Schwerpunkt unseres Venedig-Besuches. Während sich rund um das Ghetto Nuovo   Reisegruppen tummeln, die sich die Synagogen zeigen lassen oder in dem einzigem vom „chief rabbi“(?) Venedigs zertifizierten kosheren Restaurant speisen, und eine breite Einkaufsstraße, die Lista di Spagna/Strada Nova mit allerlei Krimskrams und Fressalien lockt, wird es weiter nördlich ganz still. Wir stiegen an der Station Madonna dell´Orto aus, von wo aus man durch einige verschlungene Gassen zur gleichnamigen gotischen Kirche findet. Aus den Fenstern hingen die gestreiften Shirts der Gondolieri an den Wäscheleinen, von denen der eine oder andere wohl hier fern all der Touristen wohnt. In der Backsteinkirche Madonna dell ´Orto liegt Jacopo Robusti genannt Tintoretto begraben und mit ihm seine Tochter Marietta, die vergessene Meisterin, und sein Sohn Domenico. Tintoretto hatte in dieser Gegend seine Werkstatt, in der auch Marietta arbeitete, und in der gotischen Kirche hängen einige seiner bedeutendsten Werke. Zu beiden Seiten des Altars finden sich die „Anbetung des goldenen Kalbs“ und „Das jüngste Gericht“. Noch mehr als diese beiden dynamischen Bilder forderte mich das ungewöhnliche großformatige Gemälde rechts neben der Grabkapelle heraus: Der Tempelgang Marias.  Die kleine Maria ist aus großer Distanz gezeigt, weit entfernt vom Betrachter, der unten an einer riesigen Freitreppe steht, die zum Tempel hinaufführt, vor ihm eine Schöne mit ihrem Kind an der Hand, die auf das kleine Mädchen mit dem Heiligenschein hinweist, das unbeirrt auf den hohen Priester in seinem Ornat zuschreitet. Die Darstellung des Priesters hat durchaus karikaturistische Züge. Das zentrale Thema dieses Bildes aber ist die Verweisstruktur: Wie die eine Frau die andere, die jüngere, hinweist auf jene Dritte, die ihren Weg geht. So führen die  Frauenfiguren die Betrachterin ins Bild und hin zu jenem Mädchen, das noch nichts von seiner Bestimmung weiß, dem noch nicht die furchtbare Heimsuchung zuteil wurde und das gerade deshalb – noch nicht eingesetzt als Medium zwischen Gottvater und Sohn, sondern noch sein gelassen -  dem mächtigen Hüter des Heiligtums unerschrocken entgegen treten kann. Was gezeigt werden kann als und im Bild, ist eben nicht der GOTT, den der schriftgelehrte Mann vertreten will und bloß lächerlich macht, sondern das Kind, indem das GÖTTLICHE wortlos wirkt. Es enthüllt sich auch nicht, wie der logische Verstand, der auf Entblößung aus ist, sich vormachtl, sondern leuchtet - schon immer. Eckart Peterich, dessen antiquarischem 3bändigen "Italien" Morel sich auch auf dieser Reise anvertraut, vergleicht das Gemälde mit Tizians Darstellung in der Akademie, die er „herrlich“ findet. Das ist sie in der Tat: HERRlich empfängt der Priester mit ausgebreiteten Armen das dem Betrachter im Profil ausgelieferte Kind bei Tizian. Bei Tintoretto indes wird eine Kette der Frauen gebildet, die zeigt. (Soll frau es für einen Zufall halten, dass der kunstsinnige Herr Peterich erwähnt: „in der Kapelle rechts vom Hochalter ist Jacopo Tintoretto begraben, mit ihm sein Sohn Domenico und sein Schwager“, aber kein Wort verliert über die Frau Faustina und die Tochter Marietta, die gleichfalls hier beigesetzt sind, wie die Inschrift zweifelsfrei ausweist? Die Geschichte der Auslöschung; sie wurde und wird fort- und fort geschrieben und als zickig und verbohrt erscheint eine jede, die es wieder und wieder empört.)


Als wir zu Anlegestelle des Vaporetto zurückgingen, trat sie aus dem Haus, eine Frau in Blau, gestützt auf einen Stock, nicht jene Flotte, die wir in Vicenza so viele Male gesehen hatten, sondern eine um viele Jahre gealterte und gebeugte mit ihrer Einkauftasche über dem Arm, trotzig und beharrlich gegen den Verfallsprozess anstampfend, den eigenen und den Stadt, in der sie lebt. Wir setzten, vorbei an der Friedhofsinsel San Michele nach Murano über, wo sie wieder waren, die vielen Touristen, zu denen auch wir gehörten, auf der Suche nach einem Präsent oder einem Souvenir. Vor Jahren, als wir vom Gardasee aus nach Venedig mit dem Bus fuhren, kauften sich der Amazing und der Mastermind von ihrem Taschengeld gläserne Füllfederhalter, deren Farbenspiel sie faszinierte. Vielleicht liegen die noch irgendwo eingetrocknet herum, wahrscheinlicher ist, dass sie längst verloren gingen, wie auch jene grüne Glasfigur, ein Tier, vielleicht ein Reh, an die sich vage Morel erinnerte, die er im Alter von vier Jahren in Venedig bekommen habe, wo ihm ansonsten sehr schlecht gewesen sei, im Hotel auf dem Lido.

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