Sonntag, 9. September 2012

DIE GESTE DES ZWEIFELS (Fotographieren)


"Das Objekt reagiert auf die Manipulation, denn es ist kein wirkliches Objekt, sondern jemand, der mit dem Fotografen die Situation teilt. Zwischen dem Fotografen und seinem Bildmotiv etabliert sich ein komplexes Gewebe aus Aktion und Reaktion (aus Dialog), obwohl die Initiative natürlich auf Seiten des Fotografen liegt und der fotografierte Mensch der geduldig (oder auch ungeduldig) Wartende ist. Auf dessen Seite führt dieser zweifelhafte Dialog zu jener Mischung aus Befangenheit und Exhibitionismus (dem Produkt des Umstandes, der Mittelpunkt einer objektivierenden Aufmerksamkeit zu sein), die eine ´aufgesetzte Haltung´ zur Folge hat (der Wartende erschwindelt sich das Motiv). Das führt auf seiten des handelnden Fotografen zu jener seltsamen Empfindung, zugleich Zeuge, Ankläger, Verteidiger und Richter zu sein, einer Empfindung des schlechten Gewissens, die sich in seinen Gesten widerspiegelt."

(Vilém Flusser: Die Geste des Fotografierens)


"Während ich im Herbst 1892 alles daran setzte, Dorothea, die mein Vater mir als Stiefmutter ins Haus und an den Tisch gesetzt hatte, zu verführen, hielt mein lebendiges Auge Ausschau nach den weiß gekleideten Mädchen, die gegen Mittag aus der großen Tür des benachbarten Lyzeums herausschwärmten, verletzlich preisgegeben meinem Blick wie ihre gefiederten Verwandten meiner  Zwille. Die Frau, mit der mein Vater einen Bund des Nehmens und Gebens eingegangen war,  umwand ich mit der Grazie meiner Hüften, dem Schwung meines Hinterns, dem zarten Duft von der Haut meiner bloßen Brust, mit der ich mich über sie beugte, um ihren Gute-Nacht-Kuss zu empfangen.  Meine Hand ließ ich eine Sekunde zu lang auf ihrer Schulter ruhen und am nächsten Abend einen Zentimeter zu weit hinab gleiten zu ihrem Dekollete. So leidenschaftslos ich in dieser Angelegenheit mein Vernichtungswerk in Angriff nahm, so verlegen lauerte ich hinter dem Vorhang, um die kleinen Nymphen mit dem Apparat zu fotografieren, den mein Vater mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Ich richtete die Linse auf ihre Beine über den schwarzen Schnürschuhen, ihre kleine Brüste unter dem Riemen des Ranzens, ihre dicken, blonden Zöpfe unter den schwarzen Kappen. Die verhuschten und unscharfen Fotografien, die ich entwickelte, waren ein Teil der Rache, die ich so sorgfältig plante. Bis eines Tages eines der Mädchen stehen blieb, eine rundliche kleine Person, die mir nie zuvor aufgefallen war, ihre Tasche auf den Boden setzte, sich bückte und eine Kamera herausnahm, die sie auf mich hinter meinem Vorhang richtete wie ein Scharfschütze sein Gewehr."

2 Kommentare:

  1. Das ist schön ausgesucht. Ich versuche selbst die Besonderheiten der Fotografie seit langem für mich zu konkretisieren. Ich weiß, dass es sie gibt, kann sie aber kaum greifen, sie immer nur diffus spüren.

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  2. In dieser Serie "Gesten" versuche ich zu Zitaten aus Vilém Flussers Buch über Gesten (hier die "Geste des Fotografierens") eine Art Mini- "Roman aus Kaleidoskop-Bruchstücken" zu entwickeln, der im Jahre 1890 beginnt. Warum ich die "Gesten" in diese Welt der slawischen Aristokratie verlege, die sich nach West-Europa sehnt und einem männlichen Heranwachsenden anhefte, der den Zerfall seiner Familie erlebt und herbeiführt, weiß ich selbst nicht. Es hat wahrscheinlich mit der Geschlechterfrage zu tun, die bei Flusser völlig unreflektiert bleibt (es gestikuliert immer der Mann) und mit einem Schreib-Gestus Vilém Flussers, der sich nach dem 21 Jahrhundert streckt, aber bis ins 19. zurück dehnt. Jedenfalls empfinde ich das so. Wie jede Überdehnung ist auch diese schmerzhaft.

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