"A story is not like a road to follow … it's more like a house. You go inside and stay there for a while, wandering back and forth and settling where you like and discovering how the room and corridors relate to each other, how the world outside is altered by being viewed from these windows. And you, the visitor, the reader, are altered as well by being in this enclosed space, whether it is ample and easy or full of crooked turns, or sparsely or opulently furnished. You can go back again and again, and the house, the story, always contains more than you saw the last time. It also has a sturdy sense of itself of being built out of its own necessity, not just to shelter or beguile you.”
(Alice Munro)
Ausgesprochen schön und treffend, liebe Frau Barby, so ist mein Empfinden beim Lesen von Romanen.
AntwortenLöschenBeste Grüße
NO
Ja! Haben Sie auch den Link verfolgt? Das ist eine der Geschichten von Alice Munro, in die ich immer wieder eindringe (ich komme mir dabei auch durchaus wie ein Eindringling vor, manchmal). Diese Erzählung vom alternden Paar, dessen eine Hälfte ihr Glück im Vergessen des anderen findet, geht mir nah und verstört mich immer wieder neu.
AntwortenLöschenIch wollte schon lange über Alice Munros Erzählungen schreiben, aber gerade weil sie mir so viel und so vieles bedeuten (und Bedeutungen auflösen), fällt es mir so schwer.
AntwortenLöschenFeminism
Liebe Melsusine,
verrät diese Einleitung, die Frau denkt an früher, eines (bemerkenswerten) Abschnitts:
„It would become hard to explain, later on in her life, just what was okay in that time and what was not. You might say, well, feminism was not. But then you would have to explain that feminism was not even a word people used…“
… eine feministische Auffassung oder Geschichte?
Ich lese als Mann und habe das unbestimmte Gefühl, es fängt für mich nicht gut an:
„Once Peter has brought her suitcase on board the train, he seemed eager to get out of the way”.
Aus dem Weg, der Mann. Allerdings selber gesprungen; vielleicht wollte er ja…
“The smile for Katy was wide open, sunny, without a doubt in the world, as if he believed that she would continue the be a marvel to him, forever.”
“As if”!?? Oha!
Brillant unauffällig erzählt und unangenehm erhellend die Szene mit der Gruppe, in die sich gesprächsweise eingefügt werden soll:
„She watched for a conversational group that seemed to have a hole in it, where she might have insert herself.” – Und spatter dann: “Their wives, she came to believe, had made the circle she had tried to crush into.” Also, ich als der geneigte Leser erkenne erst jetzt, dass der Gesprächskreis keine nähere Kennzeichnung hatte und von mir geradezu automatisch als ein solcher von Männern (oder zumindest gemischtem Geschlecht) gehalten wurde. Das ist (darf ich so sagen, oder muss ich es zu meinen Lasten drastischer ausdrücken?) verblüffend!
Es ist so eine Geschichte, wo jemand eine Flaschenpost findet und liest und sich dann auf den Weg macht. Da träumt jemand, der ein reales Leben doch hat. Pimm’s No. 1 und Ouzo. Es geht um Brücken. Es geht um Japan. Es ist ein Gedicht.
Die Sprache verzaubert. Sie schmiegt sich jedenfalls ein mit magischer, magnetischer Kraft. Ein feines, zartes, ausdifferenziertes Englisch, großartiger Satzbau, feinfühlige Wortwahl, melodisch, rhythmisch, dünnste Widerhaken eingebaut. Wunderbares Geschriebenes!
Die Geschichte schwingt; wie eine Schaukel im kanadischen Sommer. Licht und Schatten, auf und ab. Leicht und sonnig an der Oberfläche und im Erzählton, aber doch gleichzeitig, unter der Haut, steinig, schwer, wolkendunkel wie das Gewitter am Ende. Eine Frau übernimmt Verantwortung, trifft Entscheidungen, nimmt Risiken. Eine Frau fliegt gefesselt, schwebt beschwert, ist sorgenvoll befreit. Ambivalent.
Es ist eine Liebesgeschichte. Oder die Geschichte einer Ehe. Nein, eher die eines Ehebruchs. Nein, das ist vielleicht zu hart. Besser: Die Geschichte einer Affäre. Vielmehr ist es eher ein one night stand. Nein, nicht einmal das, es ist mehr Spontansex. Auf den Gleisen. Und doch auch der Beginn einer Liebesgeschichte. Oder dessen Vorbereitung. Oder vielleicht auch der Beginn eines Endes?
Eine Frau, ein Mädchen, ein Junge, ein Mann. Eine junge Frau, eine Ehe, ein Ehemann. Eine Schriftstellerin, die ist Mutter. Die ist Ehefrau. Die ist Gast auf einer Party. Die geht spielen mit Kind. Die verreist. Aus der Perspektive dieser Multi-Frau Schriftstellerin wird erzählt und am Ende kurz aus der Perspektive des Kindes, das fährt die Aufmerksamkeit ins Gewittrige.
Da wird ein Leben gefesselt. Vielmehr lässt sie zu, dass es Blei trägt, ja unterdrückt es selber. Die Verantwortung, die Rolle, das Kind, die Ehe, der Mann, das Leben, das Gewohnte. Ein Leben läuft auf Gleisen.
Und dann wirft die Frau eine Flaschenpost ins Meer und es kommt zu Gleisbauarbeiten.
Eine Brücke hält nicht:
Der eine will den geschauten Film diskutieren; der andere nicht, das sei sinnlos, denn die Filmemacher hätten sicher ihr Bestes gegeben; aber wenn das Beste nicht gut genug sei, dann fiel man mit der Brücke in die Tiefe, so der erste; das sei etwas anderes, darauf der zweite.
Entkommen:
„She didn’t try to escape. She just stood waiting for whatever has to come next.” – Aber das ist das Kind.
Bemerkenswert! Unbedingt lesenswert!!
Beste Grüße
NO
(mit Anmerkungen zu: „To Reach Japan“, aus: „Dear Life“, Alice Munro)
Lieber NO,
AntwortenLöschenganz herzlichen Dank für diesen wunderbaren Kommentar, für Ihre Anmerkungen zu dieser großartigen Geschichte von Alice Munro. Ich bin momentan gesundheitlich etwas angeschlagen und kann Ihnen daher nicht so ausführlich antworten, wie ich gerne möchte.
Schon so lange möchte ich im Blog über Alice Munro und ihre Erzählungen schreiben, aber es fällt mir so schwer, mich auf einige Geschichten zu konzentrieren, denn ich habe ja (beinahe?) alle gelesen, seit ich sie vor Jahren im New Yorker entdeckt habe.
Später mehr - zu Ihren "Anmerkungen" (die ich ganz wunderbar und passend finde) und zu Alice Munro (hoffe ich).
Liebe Grüße
J. Piveckova
„Nothing changes really about love.”
AntwortenLöschenEine junge Lehrerin reist mit dem Zug in Schnee und Eis zu einem einsamen Sanatorium an einem kanadischen See, um TBC-kranke Kinder zu unterrichten, mehr zu deren Ablenkung, als zu deren Bildung. Im „SAN“ ist Ihre erste Begegnung die mit Mary, deren Freundin dort bereits starb, und die der Lehrerin Bahn im Verlauf der Geschichte noch zwei Mal in passenden bzw. unpassenden Momenten kreuzt. Die zweite Begegnung der Lehrerin ist die mit dem wesentlich älteren Chefarzt, die beiden Kanadier hauen sich europäische Literatur um die Ohren, „Krieg und Frieden“ und „Der Zauberberg“.
Die Frau bleibt, wenn auch nicht auf 7 Jahre, das Leben ist einsam, die Arzthelferinnen und Schwestern nicht interessiert, aber der Unterricht erfüllend, der Dr. Jessen-Verschnitt der einzige Mann. Die Hand des Mannes kurz auf dem Hintern der Frau brennt sich ins Hirn der Dame für Tage. Beim zweiten Dinner gehen sie ins Bett, dann Verlobung, dann, als der vielbeschäftigte Doc sich 4 Tage frei machen kann, Fahrt nach Huntsville: Heirat – kurz und schmerzlos.
„I can’t do it.“ Der Mann sagt die Heirat kurzerhand ab, setzt die betäubt das mit sich machen Lassende in den Zug nach Toronto. Nach Jahren treffen sich die beiden dort zufällig auf der Straße, sie verheiratet, er mit einer ungelenken Höflichkeitsbemerkung. Man geht weiter. Dann spricht die Frau den o.a. Satz.
Die Geschichte lässt mich ratlos zurück.
Na gut, Clawdia Chauchat und Hans Castorp kriegen sich auch nicht zu, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo der Leser diese Wendung nicht mehr für möglich gehalten hatte, und die Heirat von Natascha Rostowa mit Fürst Bolkonski wird auch abgesagt, obwohl man diese Entwicklung als Leser ausgeschlossen hätte. Und zugegebener Maßen sind in beiden Fällen die Männer defizitär. Der eine verschläft die entscheidenden Stunden in der entscheidenden Nacht, der andere leistet dem Trennungsgrund durch ein spleeniges, ihm vom alten Vater vorgeschriebenes Probejahr Vorschub.
Und ja, ich habe es auch schon zwei Mal in meinem Leben erlebt, dass man zu einer Hochzeit eingeladen war und diese dann angesagt wurde – die Paare sind auseinander gegangen. Auch kenne ich aus nächster Nähe den Umstand, dass man sich nach dem Auseinandergehen noch über den Weg läuft, höflich aber unbeteiligt, das Gewesene weggewischt, ein Irrtum damals.
Aber bei der Liebe ändert sich nichts jemals wirklich?
Junge Frau wird von positioniertem Mann geradezu überfahren? Männer sind wenig feinfühlig und rücksichtslos? Bindungsangst macht einsam und brutal? Liebe ist nicht schematisch? Junge Dinger wehren sich nicht, sollten es aber? Das Leben ist roh („raw meet; raw day“)? Die Liebe bleibt, der Gegenstand wechselt?
Die Gefühle in der Liebe sind unbestimmbar – wie wäre es damit?
Beste Grüße
NO
(mit Anmerkungen zu. „Amundsen“ aus: „Dear Life“, Alice Munro)
Lieber NO, ich muss mich gleich anmalen, weil´s losgehen soll zum Abendessen mit Freunden und ins Kino. Nur ganz kurz daher. Ich habe diese Geschichte schon vor einer Weile im "New Yorker" gelesen und sogar angefangen darüber zu schreiben. Ich las sie gar nicht als Kritik am situierten Mann, im Grunde, wenn ich ehrlich bin, habe ich mich für den nicht interessiert. Sie erinnerte mich vielmehr an die Groschenhefte, die meine Oma unter der Spüle versteckte: Immer diese Grundstruktur - "einfaches" Mädchen - gebildeter Arzt/Adliger, der sie "zu sich erhebt". Das ist so ein Mädchen-Traum, über Jahrhunderte märchenhaft in Wort, Bild und Ton tradiert. Und hier wird er eben "enttäuscht". Das ist nicht schlimm. Denn der Mann (wie alle diese "Traumprinzen") ist ja eigentlich ganz öde. Schlimm ist: Dass der Traum damit nicht "tot" ist. Dass Frau sich immer wieder beim Erröten ertappt, wenn so ein "Verflossener" auftaucht. Nicht um seinetwillen, sondern um der eigenen Dummheit willen. Da steckt natürlich noch einiges andere in der Geschichte. Auf die Idee eines Vergleichs mit "Zauberberg" z.B. wäre ich nie gekommen. Die junge Frau hier ist ja "pumperlgesund" - und grade das erscheint mir wichtig. Auch gesunde, junge, praktische Frauen hängen diesen doofen Träumen nach. Und werden sie nie ganz los: "Nothing changes really about love."
LöschenDer Mann? Keine Ahnung. Ich hatte beim Lesen nicht ein einziges Mal an ihn gedacht ;-). Liebe Grüße
M.
Das war wirklich sehr schnell "hingeklatscht" gestern. Ich habe nachgedacht, seither. Ihre Ratlosigkeit, vielleicht, hat Ihre Ursache in der Suche nach "Motivationen" (der Figuren) und Intentionen (der Autorin)? Kann das sein? Mein Eindruck ist: Bei Alice Munro führen diese Fragen ("Warum tut er das?" oder "Was will sie sagen?") oft nirgendwo hin. Daher glaube ich, dass auch meine Ideen oben letztlich am "Kern" der Erzählung vorbeigehen. Sie ergreift dieses Muster (junge, unbedarfte Frau trifft den erfahrenen, ihr gesellschaftlich überlegenen Mann, der sie "errettet"), aber sie lässt gerade alles weg, was diese Erzählung "auszeichnet": die Ängste, die "romantischen" Gefühle, das Grübeln über die Motive und Gefühle des Mannes, das Sehnen. Die ganze Innenwelt. Was Sie wahrgenommen haben (und Sie offenbar auch "reizt", also ärgert) ist die Passivität der Frau. Und ich glaube, da liegt der "Schlüssel", in jenen Momenten, in denen sie doch handelt, statt abwartet. Es gibt wenige davon. Vor allem im Verhältnis zu jenem jungen Mädchen, das sie (an ihn) verrät. Für mich war die Beziehung zu diesem Mädchen und wie sie dargestellt wird der Mittelpunkt der Erzählung. Ich habe den Mann nie als "Angeklagten" dieser Geschichte empfunden.
LöschenDas Geheimnis von Alice Munros Geschichten (weniger ein "Rätsel", glaube ich, weil es keine Lösung gibt) ist ja die Art, wie sie n i c h t chronologisch - und d.h. nicht "folgerichtig" - erzählt. Was geschieht, geschieht nicht nach Ursache-Wirkungs- Mechanismen (oder eben "motiviert"). Menschen ändern sich. Plötzlich. Liebt eine Frau einen anderen Mann als den ihren (ein häufiges Thema in Munros Erzählungen). Ein neuer Blick auf ein bekanntes Bild. Und alles ist anders. Das Bild ist falsch geworden. Oder etwas irreparabel zerstört. Durch eine einzige Bewegung. Eine Bemerkung. In dieser Geschichte ist es die Art, wie das junge Mädchen weggeschickt wird. Glaube ich.
Immer noch vorläufig. Es wird vielleicht deutlich, warum es mir so schwer fällt, über Munros Erzählungen zu schreiben. :-)
Einen schönen Sonntag
M.
Liebe Melusine,
Löschenhilfreiche Hinweise, weise Deutungen.
Auf Ihre Deutung - nämlich Mädchen träumt vom Prinzen auf dem weißen Pferd (weil alle Mädchen auch heute noch vom Prinzen träumen) und errötet beim Wiedertreffen ist ob der vertanen Chance - wäre nun wiederum ich nicht gekommen. Will mir eine solche Prägung oder gar Haltung als völlig abwegig erscheint. Sie meinen ernsthaft, das gibt es heute wirklich noch? Und dieses Thema wäre hier auch mindestens variiert, denn die Dame ist als Lehrerin ja nicht einfach und ungebildet.
Auch bin ich mir nicht sicher, selbst wenn ich diese Disposition jetzt einmal als eine Möglichkeit ansehe würde, ob ich solche Träumerinnen in meiner Umgebung vorfände, müsste ich es beurteilen. Ich denke, eigentlich nicht. Zugegebenermaßen denke ich aber jetzt darüber nach, ob Clawdia Chauchat, die ich als starke, selbstbewusste und selbstständige Figur in Erinnerung habe, unter diese Ihre Prägungstheorie fallen könnte, da sie ja im zweiten Teil des Zauberbergs im (finanziellen und sonstigen) Schlepptau des älteren und offensichtlich dominierenden Peperkorn auftritt.
In der Tat, die Beziehung zu dem Mädchen hat sich mir nicht erschlossen. Da sie fast als erste und fast als letzte auftritt, wird sie schon zentrale Bedeutung haben, da haben Sie vermutlich recht. Dennoch, ich konnte trotz der Erkenntnis der zentralen Stellung des Mädchens damit relativ wenig anfangen. Die Frau handelt, in dem sie das Mädchen verrät? Nicht der Einladung zur Theateraufführung folgt, um sich mit Ihrem zukünftigen Liebhaber zum zweiten Dinner zu treffen? Nichts liegt näher als das!
„Nicht folgerichtiges Erzählen“ ist eine hervorragende Beschreibung dessen, was Alice Munro macht. Dass es der e i n e Blick ist, der alles ändert, erschließt sich mir dennoch nicht. Ich sehe dieses Ereignis in der ersten Geschichte. Aber es ist eben auch kein Roman, so dass man sich vorausgegangene Blicke und Zerstörungen dazu denken kann (und muss?)! So wie im „Rosenkrieg“, Michael Douglas kriegt es nur nicht mit, was er anrichtet. Aus seiner Sicht hat die Liebe seiner Frau „plötzlich“ aufgehört. Objektiv war das aber sehr wohl erkennbar.
Die Brutalität, mit der der Arzt das Mädchen wegschickt, damit es das Schäferstündchen mit der Frau nicht weiter stört, habe ich als Vorbereitung der Brutalität gelesen, mit der der Arzt dann in der Stunde zwischen Anmeldung und Vollzug der Trauung das Verhältnis zur Frau, das Verlöbnis, beendet. Und aus der Geschichte hraus ist (für mich) nicht ersichtlich, dass dieser Umstand das Bild er Frau zerstört. Denn unverändert geht es weiter mit den beiden auf die Heirat zu, von der E R ja zurückzuckt, nicht sie. Ihr Bild, Ihr Blich geht erst jetzt kaputt. Seins übrigens war anscheinend schon vorher zerstört. SIE merkt es erst in der Ausparkszene an der Art und Weise, wie der Arzt mit dem LKW-Fahrer spricht – was mir ebenfalls unverständlich geblieben ist.
Beste Grüße
NO
Lieber NO,
Löschenheute habe ich die Erzählung "Amundsen" noch einmal gelesen. Und ich denke, ich muss meine "Interpretation" (die gar keine sein will) erneut revidieren. Oder wenigstens modifizieren. Ich glaube nicht, dass es in Alice Munros Geschichten darum geht, die "folgerichtige" Entwicklung (wie im "Rosenkrieg"), die nicht erzählt wird, hinzu zu phantasieren. Sondern es ist tatsächlich so, dass es diesen einen Moment gibt, in dem sich alles ändert. Oder plötzlich alles anders aussieht. Eine neue Perspektive. Und die Liebe ist weg. In vielen ihrer Geschichten geschieht dies der Frau und ein Mann bleibt verwundet und ohne zu verstehen zurück. In dieser, in "Amundsen", ist es der Mann, dem das geschieht. Sie hat sich auf der Toilette umgezogen und kommt "als Braut" zurecht gemacht heraus. Das einfache Lokal, das er aufsuchen wollte, gefiel ihr nicht, das Huhn in dem Lokal, indem sie dann essen, ist furchtbar. Ihm wird in diesem Moment etwas klar. Er will nicht mit ihr leben. Aber ich empfinde das nicht einmal als grausam (im Sinne einer vermeidbaren Brutalität), obwohl es ein harter Schlag für sie ist, sondern als ehrlich.
Wie sich seine Stimme beim Gespräch mit dem Lastwagenfahrer verändert, das zeigt ihr aus meiner Sicht zweierlei: Dass er tatsächlich Gefühle für sie hatte (weil er noch die Stimme hat, mit der er im Bett zu ihr sprach, als er ihr sagt, dass er sie nicht heiraten wird) und dass es wirklich vorbei ist (weil er, als er dann mit dem Lastwagenfahrer spricht, schon wieder zu seiner "geschäftsmäßigen Stimme" findet, jener, mit der er, der Arzt, Dinge und Menschen "behandelt"). Dennoch glaube ich weiterhin, dass es in dieser Erzählung mindestens ebenso sehr um das Verhältnis zu dem jungen Mädchen, zu Mary, geht wie um das zu "Reddy", dessen Vornamen sie erst erwähnt, als sie Amundsen verlassen haben. Es ist eine ungewöhnliche "Dreiecksgeschichte", denn das Mädchen kämpft gleichermaßen mit der Ich-Erzählerin um die Aufmerksamkeit von "Reddy", wie gegen ihn um deren Zuneigung. Und es geht auch um den Ort, um Amundsen, und um die Zeit, das letzte Kriegsjahr des 2. Weltkrieges und das letzte Jahr, das diese Klinik existiert. Denn das ist auch wichtig: Am Ende, das hat er ihr auch verschwiegen, wird die Klinik geschlossen.
Und selbstverständlich geht es vor allem um Kränkungen. Er beleidigt das Mädchen Mary (was Sie als Brutalität empfinden), indem er ihr sagt, dass sie zu dick wird. (Die Ich-Erzählerin verschlingt dann das zuckrige Gebäck, bevor sie mit ihm schläft. Sie, übrigens, begreift seinen harschen Umgang mit Mary auch als Zuwendung ihr gegenüber.) Mary dagegen schlägt zurück, indem sie auf seinen Augenfehler hinweist, eben jenen Augenfehler, der der Ich-Erzählerin bei der letzten Begegnung wieder auffällt und der zu jenem Satz führt: "Nothing changes really about love." Vielleicht heißt das a u c h: Liebe i s t eine Kränkung. So oder so.
Sie sehen: Die Erzählung beschäftigt mich (und Ihre Fragen). Eine Frau tritt "zurecht gemacht" aus dem Badezimmer und plötzlich wird dem Mann bewusst, dass sie s o ist, dass sie mit dem gemeinsamen Leben, das sie von ihm erwartet, all das verbindet, was in diesem "Zurechtmachen" liegt. Hoffnungen und Vorlieben, die er nicht teilt, die ihn erschrecken. Und er fühlt sich überfordert. So könnte es sein. Aber vielleicht auch nicht. Denn - trotz allem - er, der Mann, hat mich als Leserin in dieser Geschichte weniger interessiert als die beiden Frauen und wie sie einander verfehlen und benutzen.
Viele Grüße
M.
Die Liebe ist plötzlich weg - Das haben Sie sehr schön parallel gelegt, liebe Melusine:
LöschenIn der ersten Geschichte „trifft“ es die Frau (und der Mann bleibt verletzt zurück), in dieser hier „trifft“ es den Mann (und die Frau fährt verletzt im Zug zurück). Dieses Ihr „Treffen“ ist eine großartige Metapher.
Ja, nach dem veränderten Blick ist es „plötzlich“ vorbei. Das kommt einem so vor. Das „ist“ wohl „tatsächlich“ auch so, denn das Gefühl ist ja plötzlich weg, obwohl es – objektiv/intellektuell - Vorboten, Vorzerstörungen etc. gegeben haben mag, die man verstandesmäßig hätte erfassen können – nur ist es bei Gefühlen ja keine Verstandessache. Insofern haben Sie recht.
„“ …in diesem "Zurechtmachen" liegt. Hoffnungen und Vorlieben, die er nicht teilt, die ihn erschrecken. Und er fühlt sich überfordert.“ Sehr gut. Ja, so könnte es gewesen sein!
Ihre Lesart einer „Dreiecksgeschichte“ verblüfft mich enorm. Warum sollte das Kind der Klinikköchin um die Gunst des Arztes buhlen? Weil der Vaterersatz ist oder werden soll? Weil schon das Kind diesen Prinzen-Ansatz träumt? Weil sie der Mutter nacheifert, die ihrerseits (und außerhalb dieser Geschichte) sich zu dem Arzt hingezogen fühlt? Und warum sollte das Kind dann auch noch versuchen, dem Arzt die Frau auszuspannen? Weil das Kind zuerst die Frau getroffen hatte und nun „ältere“ Rechte wahrnimmt? Weil der Arzt ihr die Frau weggenommen hatte und das Kind nun zurückschlagen will?
„Amundsen“ war für mich eine Metapher für Kälte, weil ich damit den Südpol verbunden habe, also Schnee und Eis (wie auf dem Zauberberg). Und als einen ersten Hinweis darauf, dass die Sache nicht gut geht – Gefühle und Kälte -, und am Ende einer von beiden auf der Strecke bleibt, wie der historische Scott. Amundsen, bzw. der Pol, ist ein Ort, an dem man nicht bleibt. Zu unwirtlich. Insofern passt das nicht nur zur gefühlmäßigen und geographischen Abreise, sonder auch zur Schließung der Klinik, einen Umstand übrigens, den ich völlig überlesen habe. Was aber hat das letzte Jahr des Weltkrieges damit zu tun?
Es geht um Kränkungen, natürlich, dieser Verlauf der Liebesgeschichte ist kränkend. In der konkreten Szene will der Arzt will das Mädchen loswerden, deswegen ist er betont grob. Der Frau ist das unangenehmen (weil das Mädchen ja mit Tanz und Gebäck uneingeladen kommt, da beide Erwachsenen ihre Einladung zur Tanzaufführung nicht wahrgenommen hatten) und sie ist peinlich berührt (weil der Mann sich so unsensibel verhält). Der Arzt kränkt auch die Frau mit der Behandlung des Mädchens – beide warten, so heißt es da, dass der Arzt sich umdreht und wenigstens ein freundliches Wort zum Mädchen und ihrer (unerbetenen) Aufführung sagt. Eigentlich kann man sich so nicht aufführen wie der Arzt, und eigentlich hätte sie, die Frau, einschreiten und das verhindern müssen. Sie fühlt sich schuldig und verschlingt aus diesem Schuldbewusstsein heraus – so war meine Lesart – nun Unmengen des übersüßen Gebäcks. Sie will in völlig sinnloser Manier etwas gut machen bei dem Mädchen. Sie erkennt sehr wohl, warum der Mann das Mädchen weg haben will und ist geschmeichelt, schämt sich aber dieses geschmeichelt Seins. Sie greift nicht ein, weil sie Streit mit dem Arzt, ein Ende des Abends und gar das Ende der Beziehung insgesamt (und damit ein Ende des Prinzen-Traums?) befürchten muss. Dafür schämt sie sich auch.
Dass dann der Arzt die gebackenen Herzen in den Schnee schmeißt (den Vögeln zum Fraß vorwirft), war für mich Amundsen II: Die Sache – Herz und Kälte – geht nicht gut.
Nie im Leben ist Liebe eine Kränkung. Aber oft genug ein Ausschluss anderer aus dem inner circle. Das mag die außerhalb kränken.
Liebe Grüße
NO
Lieber NO,
Löschenich habe es nun einmal versucht: meine - vorläufige - Deutung: Amundsen
Aber...das klärt nicht alle Fragen (wie auch?)
"Der Zauberberg" - ich denke, darüber habe ich hinweggelesen, vielleicht weil ich dieses Buch so wenig mag ;-). (Ganz anders als BenHuRum, der mir schon vor mehr als 30 Jahren davon vorschwärmte.) Vielleicht könnte ein Zauberberg-Kenner und -Liebhaber ganz andere Verbindungen offenlegen.
"Krieg und Frieden" - die Bemerkung, die Dr. Fox am Anfang macht ist durch eine gewisse Bitterkeit gekennzeichnet. "Hier gibt es nur: Frieden." Er ist ein "zurückgebliebener Mann". Denn die Welt von "Amundsen" ist auch eine Welt ohne jüngere Männer. Und offenbar bleibt er dort auch fachlich hinter der Entwicklung zurück. Die Klinik wird geschlossen. Neuere Methoden erhalten den Vorzug. Die "kleine Welt" des Dr. Fox "of the minimal but precise comfort that a lone man—a regulated lone man—might contrive" löst sich auf.
Mary - unterschätzen Sie nicht ein dreizehnjähriges Mädchen? Sie steht im Alter der Ich-Erzählerin näher als diese dem Doktor. Und sie hat es genossen, zusammen mit Anabel Ausflüge mit ihm zu machen und später mit ihm Anabels Grab zu besuchen. Sie erhebt durchaus Anspruch auf seine Aufmerksamkeit. Aber sie interessiert sich auch für Vivien, die Botin aus der "großen, weiten Welt", aus Toronto. Mary sieht sich als "Bindeglied" und in gewisser Weise ist sie das auch. (Freilich - von der "Liebe als Passion" weiß sie nichts - sie ist noch in den male-female-Kämpfen gefangen, wie sie die Schneeballschlacht auszeichnen, deren Zeugin Vivien wird :-) )
Ach, aber mir fallen gerade noch so viele andere Aspekte ein, die mich zum Nachdenken bringen. Wie konnte ich jemals glauben, es sei möglich eine Empfehlung zu einem ganzen Erzählband zu schreiben???
Herzliche Grüße
M.