„Schon gelesen?“, frage ich und deute auf den Goetzschen Abriss der Gesellschaft ("Johann Holtrop"), der in Morels Regal obenauf liegt. „Nein.“, antwortet er, „bin noch nicht dazu gekommen.“ „Eine Besprechung auf Gleisbauarbeiten kommt erstmal eh nicht in Frage.“, scherze ich, „denn: 1. Veröffentliche ich keine Besprechungen zu Neuerscheinungen und 2. ist die Quote männlicher Autoren unter den bisher empfohlenen Werken immer noch zu hoch.“ Das ist natürlich ein Witz. Morel kann schreiben, worüber er will. Die Quote wird sich so oder so einpendeln, weil ich inzwischen viel mehr Bücher lese, die von Frauen geschrieben wurden. Das hat sich in den letzten Jahren so ergeben.
Es kommt wohl vom Nachholbedarf. Als junge Frau ohne bildungsbürgerlichen Hintergrund und deshalb zu Beginn ohne Vertrauen in das eigene Urteil habe ich zunächst gelesen, was zum „Kanon“ gehörte. Das waren ganz überwiegend belletristische Werke von Männern. Über die Jahre hin kam es aber auch zu den Entdeckungen, die den Fundus an Literatur bildeten, der mir nicht bloß äußerliches „Bildungsgut“ blieb, sondern mich prägte: z.B. Jane Austen, Charlotte, Emily und Anne Brontë, Bettina von Arnim, Karoline von Günderrode, Viriginia Woolf, Dorothy L. Sayers, Ingeborg Bachmann, Janet Frame, Alice Munro. Ich nenne nur die, die mir ganz spontan einfallen. Wenn ich morgen drüber lese, werde ich mich sicher ärgern, wen ich vergessen habe. Das lässt sich nicht ändern. So eine Liste kann niemals vollständig sein. Es gibt Bücher, die liest man einmal und andere, die liest man ein Leben lang. Die Bücher dieser Autorinnen werde ich immer lesen. An männlichen Autoren fallen mir als ähnlich bedeutsam für mich unmittelbar ein: Theodor Fontane, Uwe Johnson und Peter Weiss. Es zeigt sich: Mehr Prosatexte von Autorinnen als solche von Autoren haben für mich diese prägende Bedeutung erlangt.
Wie kommt es, dass immer öfter Romane und Erzählungen, die von Frauen geschrieben wurden, in meinem Regal (oder auf meinem Kindle) landen und immer seltener welche von männlichen Autoren? Mein Interesse wird zum Beispiel eher nicht geweckt, wenn es in der annoncierten Erzählung um eine (schön drapierte) weibliche Leiche oder das nächste Frauenopfer, das ein hochsensibler Autor der düsteren, schlechten Welt bringt, geht. Ich habe auch die Figur der unglücklichen Schönen ziemlich satt, die an der grausamen Welt oder „der Gesellschaft“ leidet und zerbricht, und damit einer dissidenten Männlichkeit Ausdruck verleiht, genauso wie mich ein Hinweis auf die xte femme fatale, die männervernichtend und mit Schmollmund durch die Gegend zieht, nicht zum Kauf eines Buches locken kann. Auch die vergebliche Sinnsuche eines desillusionierten ´lonely losers´ oder die Erzählung von der Selbstfindung eines verzweifelnden Künstler-Mannes öden mich, genauso wie der traurig-einsame Kampf eines äußerlich und innerlich erstarrten Alphamännchens um Rudel- und Deutungshoheit. Mich interessiert eine verzweifelt sich an ihrer Negativität berauschende Illustration der altbekannten Dichotomien von männlich/weiblich, Natur/Kunst, Körper/Geist, Lust/Verstand im Gewande der Erzählung nicht mehr. Leider handeln viele Erzählungen männlicher Autoren weiterhin und bevorzugt von solchen und ähnlichen „Stoffen“, gelegentlich werden die dichotomen Paare und Stereotype auch kunstvoll dekonstruiert. (Gähn!) Übertrage ich den Bechdel-Test auf die männliche Prosa-Literatur, scheidet vieles sofort aus. So ein Test ist primitiv, hilft mir aber bei der schwierigen Auswahl aus der unübersichtlichen Menge der Neuerscheinungen sehr.
Selbstverständlich ist „der Stoff“ im Roman nicht alles und möglicherweise nicht einmal das Wichtigste. Doch die Art und Weise, wie die Figuren einer Erzählung gestaltet sind und sich auf einander beziehen, bestimmt unweigerlich Form und Sprache der Erzählung. Wer spricht? Zu wem? In welcher Weise? Mit welchen Bildern? Ich mag mehr über Frauenfreundschaften und Weiber-Intrigen lesen. Erzählt mir von Unterleibsschmerzen und Fressattacken, erzählt mir von Geburtsstunden und Sterbebegleitung, von häuslichen Festen und schwesterlichen Pflichten, von Kolleginnen im Büro und Nachbarinnen im Garten, aber nicht von kichernden Mädchen und bitteren Tränen. Ich will keine Männerphantasien über Frauenfiguren, deren Leben sich um den Einen dreht oder über Männer, die sich in ewigem Stillstand um sich selber und ihre Ideenwelt drehen. Ich will stattdessen lautes Lachen und Heulen hören, aber auch die „stille Post“ flüstern hören zwischen Müttern und Töchtern und von all den Traditionen lesen, die weitergeben wurden von einer Frau an die andere, aber (noch) nicht ihren Weg in die Schrift fanden. Erzählt mir von den Frauen und jenen Leben, die sie führten, wenn mal kein Blick eines Mannes darauf fiel. Das will ich lesen. Und noch viel mehr. Von Männerfreundschaften und -krankheiten, Väterlichkeit und Fürsorge zum Beispiel. Vom Versagen und Gelingen. Von Wildwuchs und Angst. Von kryptophantastischen Plagen und realexistierenden Monstern. Aber bloß keine Ideen-Prosa und keine Illustrationen literaturwissenschaftlicher Diskurse.
Und wo bleibt jetzt die Qualität?, höre ich die bange Frage. „Es gibt doch nur gute und schlechte Literatur. Ganz unabhängig vom Geschlecht des Autors oder der Autorin." (Bei einer kurzen Regalinspektion im Heim des Sprechers wird allerdings die 20% Quote für Autorinnen nur sehr knapp erreicht.) Stimmt: Es gibt Literatur, solche und solche. Wer ein Buch nicht gelesen hat, kann nicht wissen, was es taugt. Man wählt, bevor man von Qualität sprechen kann. Aus der großen Fülle. Nach Kriterien, die notwendig vorläufige sind und oberflächliche. Was ich in den letzten Wochen ausgewählt und gelesen habe, bot mir genug „Qualität“. Mehr (Qualität und Quantität) hätte ich nicht schaffen können. Darunter waren zum Beispiel: Margriet de Moors „Der Maler und das Mädchen“, Marlene Streeruwitz: „Die Schmerzmacherin“ oder Hilary Mantels „Wolf Hall“. Ich habe in diesem Sommer aber auch Werke männlicher Autoren gelesen, darunter Peter H. Gogolins „Calvinos Hotel“ und Leander Sukovs „Warten auf Ahab“. Auf meinem Stapel noch ungelesener Bücher (in Wahrheit stapelt sich fast nichts mehr, sondern ist auf den Kindle geladen) liegen gegenwärtig: Jhumpa Lahiris „Unaccostemed Earth“, Hilary Mantels „Bring up the Bodies“, Audre Lordes „Zami A New Spelling of My Name“, Anita Augustins „Der Zwerg reinigt den Kittel“. Sofi Oksanens „Fegefeuer“ und Jackie Kays „Reality, Reality“. Aber auch: Kurt Tucholskys „Briefe an Mary“ und David Grossmanns „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“. Für den Herbst ist vorgesorgt.
Bei der Auswahl meiner Lektüre bin ich frei wie jedermann und jede Frau. Für die Besprechungen im Blog achte ich aber darauf, dass höchstens 50% der Bücher, die hier empfohlen werden, von Männern sind. Den Grund dafür habe ich schon früher einmal erklärt. Ein Blogger schrieb mir auf diesen Post: "Virtuelle Gender-Identitäten" in einer Mail, er gebe sich als junge Frau aus, weil dies seine Chancen auf dem Markt erhöhe: “denn der Literaturbetrieb ist männlich und reagiert auf Frauen." Daraufhin habe ich mal gezählt, wie das Verhältnis der Besprechungen von Neuerscheinungen weiblicher und männlicher Autor_innen in den großen Feuilletons tatsächlich ist. Es ist stabil: 20% weibliche Autorinnen zu 80% Autoren - in scharfem Kontrast also zur gefühlten Benachteiligung (proportional zur gefühlten eigenen Bedeutsamkeit?) des erwähnten Bloggers. In Wahrheit und Zahlen funktioniert das Boys-Netzwerk ganz gut, eben nur nicht für jeden. Da aber aus Zurücksetzung bekanntlich immer die größte Kunst entsteht, will ich in meinem Blog auch Männern eine Chance auf Qualitätssteigerung eröffnen, indem ihre Werke nur noch quotiert (Skandal! – höchstens 50%) zur Besprechung zugelassen werden.
Das (deine Positiv-Kriterien) schreit nach Christa Reinig ;-). Hast Du mal "Frau im Brunnen" gelesen (mein Lieblingsbuch von ihr)?
AntwortenLöschenLeider noch nicht. Es ist auch - wie ich grad gesehen habe - nur noch antiquarisch zu kriegen. Versuche ich jedenfalls! Danke für den Tipp!
LöschenDie Frauen-Quote ist der größte Blödsinn. Meinen Sie irgendeine Autorin will über die Quote ins Feuilleton? In Ihrem Blog, den eh keiner liest, können Sie so einen Quatsch ja machen. Zum Glück aber nur da! Es gibt nämlich nur Autoren, die es können, und Dilettanten!
AntwortenLöschenWerter Anonymous, lesen lernen! Es geht hier um eine Männer-Quote, gelle? Aber so ebbes könne Se sich net vorstelle, stimmt´s?
LöschenZum "Dilettantism der Weiber" hatten Goethe und Schiller auch schon einiges Dummes zu sagen, die alten Schwerenöter, nicht wahr? Und wie wahr! Die beiden sich dabei selbst entblößt haben. Dafür sei denen und Ihnen mein herzlicher Dank!
Hat der das so geschrieben? (Das Zitat im Titel?) Das ist in dem speziellen Fall schon oberdreist. Lässt sich übrigens weiter als Jung-Autorin feiern, der oder das Blogger. Geil. Dann kommt im neuen Jahr die "Enthüllung". Aber das ist ´türlich kein PR-Gag. Sondern ganz große Literatur. Wie damals der Quatsch über den erblindeten Borges. Da war das auch Literatur. Hihi!
AntwortenLöschenUm d e n Blogger geht und ging´s mir nicht. Das war nur ein Ausgangspunkt für meine Zählung - und die Reflexion darüber, warum und wie sich meine eigene Lektüreauswahl (und eben auch bezogen auf das Geschlecht der Autor:innen) so sehr verändert hat.
LöschenBy the way: Ich fand den Text über Borges, soweit ich mich noch erinnere, damals nicht dumm. Wenn ich mich nicht sehr täusche, haben Sie sich aber schon öfter in dieser Weise darüber geäußert. Mich erstaunt es immer sehr, warum Leute Blogs wieder und wieder lesen, deren Autor:innen sie für dumm halten. Mehr noch erstaunt es mich, warum Leute in Blogs kommentieren, deren Texte aus ihrer Sicht Ausdruck dieser diagnostizierten Dummheit sind. Trösten Sie sich indes: Sie sind mit dieser absonderlichen und aus meiner bescheidenen Perspektive auch wenig gesunden Haltung nicht allein. Es gibt viele Ihresgleichen und auch dieser Blog wird regelmäßig von solchen Lesern aufgesucht, die mich, die Betreiberin, erklärtermaßen für eine Idiotin halten. Warum so jemand seine kostbare, geistreicher zu verbringende Zeit mit dem Lesen meines Blogs vergeudet, bleibt mir ein Rätsel.
Ich lese nicht in Blogs von Autor_Inn_en, die ich für dumm, uninteressant und/oder sehr unsympathisch halte. Die Auswahl ist ja schließlich groß genug. Das empfehle ich Ihnen auch. Es spart Zeit und hebt die Laune!
Zahlen statt Geschwalle: In diesem Blog wurden bisher 76 Bücher empfohlen (zählt man Morels 5teilige Serie zu Antony Powells: Dance to the music of time als einen Beitrag und zieht einige Sammelempfehlungen zu Weihnachten etc. ab). Von denen wurden 36 von Autorinnen verfasst und 40 von Autoren. Von den Empfehlungen der Bücher von Autorinnen stammen 32 von mir und 4 von Morel. Von den 40 Empfehlungen zu Büchern von Autoren sind 23 von Morel und 17 von mir.
AntwortenLöschenMorels Quote ist - davon bin ich nach Recherchen im Netz und im Freundeskreis überzeugt - "unter Männern" normal. Morel wenigstens gibt zu, dass seine Auswahl mit seinem Geschlecht und seinem Geschmack zu tun hat. Nicht wenige Männer behaupten steif (hihi) und fest es gehe ihnen allein um "Qualität". Die finden sie bei weiblichen Autorinnen leider nicht, was? Es ist zudem schade, wie viele Frauen auf dieses Geschwätz reinfallen und sich damit abspeisen lassen. Und wie große Anstrengungen sie immer noch machen, in die Männer-Wichtig-Runden aufgenommen und in denen gehört zu werden.
Ich ziehe aus dieser ganz persönlichen Zählung weitere Schlüsse: Noch immer lasse ich mich zu oft auf einen männlichen Blick auf die Welt ein. Das wäre dann o.k., wenn es auf Wechselseitigkeit beruhen würde. Das ist aber weder im persönlichen Nahbereich noch gesellschaftlich auch nur annähernd der Fall. Ich will nicht mehr wütend sein. Ich will mich genauso rechtfertigungsfrei mit dem beschäftigen können, was mich angeht, wie die Herrschaften. Und das ist nun mal das, was Frauen wissen, denken, schreiben. Ob Männer das "relevant" oder sonst was finden, ist mir egal. Männerphantasien will ich nicht mal mehr "dekonstruktiv" auseinander nehmen, so was von langweilig sind die mir.
Anna sagt:
AntwortenLöschenVielen Dank dafür – und für die Empfehlungen. "Wolf Hall" fand ich genial, davon abgesehen, dass noch mal wie viele Charaktere "Thomas" hießen? ;-) Trotzdem: grandios!
Ja, das kann eine ganz schön durcheinander bringen. Die hießen tatsächlich alles Thomas. Nicht nur im Roman, sondern im "richtigen" Leben. Aber man muss ohnehin höllisch konzentriert lesen, finde ich, so komplex ist das erzählt. Ich bin schon sehr gespannt auf die Fortsetzung, die kürzlich erschienen ist.
LöschenSeit ich gelesen habe "irgendwann beginnen alle Kinder sich für ihren Penis zu interessieren" - Buch, Autor weiß ich leider nicht, versuche ich auch meine Männerquote zu senken. Da kann so ein blog nur helfen :-) also danke.
AntwortenLöschenKrass. Aber ich behaupte: Lies es 10 Männern vor und fünf werden gar nicht kapieren, wie krass das ist. (Sondern sagen: "Stimmt doch.") ;-)
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