Donnerstag, 25. Oktober 2012

PAULINE KAEL. Die Erfindung des Kinos im Amerika der 60er Jahre



Ein Beitrag von MOREL

Kritik ist nicht immer machtloses Genörgel. Wenn die Geschichte kurz den Atem anhält, nicht weiter weiß und sich umschaut, hat auch die kleine Kritik einmal die große Chance zu Wort zu kommen. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts nutzt eine Frau diese Chance und verändert die Art, wie wir das Kino sehen. Die Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs von Pauline Kael ist es also wert erzählt zu werden.

Das Kino als kapitalintensive Kunstform ist für Frauen schwieriges Terrain. In einer patriarchalischen Gesellschaft bleibt das Kapital bei den Mächtigen, die es am liebsten nur unter ihresgleichen verleihen (für die geplatzten Schecks dürfen dann andere aufkommen). Wer einen Vorschuss auf eine teure, im Ausgang ungewisse Unternehmung fordert, benötigt Zugang zu den in der Regel männlichen Netzwerken der Macht. Frauen ist der oft verschlossen. Nur in der Frühzeit des Kinos, vor seiner bürgerlichen Promotion zur Kulturindustrie, hatten Frauen, wie in den Arbeiten von Heide Schlüpmann nachzulesen ist, gleichberechtigten Zugang zu den filmischen Produktionsmitteln. Damals, vor der Gründung der Ufa durch Deutsche Wehrmacht und Deutsche Bank (kein Witz), war das Kino einen Moment lang frei: zwischen Zirkus und Varieté. Ein Freiraum, der seitdem immer wieder mühsam erkämpft werden musste – woran dann all die Meisterwerke aus dem Zirkusmilieu erinnern von Ophüls Lola Montez bis zu den Clowns in Fellinis Gesamtwerk.

Pauline Kael war eine solche Kämpferin für die Freiheit des Kinos, geboren 1919, aufgewachsen auf einer Hühnerfarm in Kalifornien, die in der vorletzten US-Rezession zwangsversteigert wurde. Die Familie zog nach San Francisco, Kael studierte in Berkeley, schloss das Studium aber nicht ab, sondern glitt ins bohemistische Hipster- und Beatnikmilieu New Yorks ab. Drei Ehen und Scheidungen später, nach Arbeit an Theaterstücken und Experimentalfilmen, endete das Leben der Boheme nicht mit Lungenentzündung und künstlerischem  Ruhm sondern einer Tochter, die sie allein aufziehen musste. Der Traum war ausgeträumt. Als Köchin, Näherin und Werbetexterin verdiente sie nun in den 50er Jahren das Geld, das für sich und Gina brauchte. Zufällig wurde sie belauscht, als sie sich in einem Kaffee über Filme unterhielt. Ihre erste Filmkritik schrieb sie über Chaplins Spätwerk "Rampenlicht (Limelight)", den sie „slimelight“ taufte. Aber legendär wurde sie nicht mir ihren Polemiken, sondern mit ihrer Begeisterung für eine bestimmte Art von Kino, ohne Prätentionen, sondern lebendig und voller Sensationen, solche der Gewalt und der Erotik, voller Verachtung für alles Steife und Reservierte. Zum ersten Mal erklang dieser Ton in ihrer Besprechung des neorealistischen Klassikers Fahrraddiebe. Sie beschreibt ihre unmittelbare körperliche Reaktion auf den Film – etwas, das für sie typisch ist, aber bis heute im Grunde dem Ethos der meisten Filmrezensionen widerspricht, kritisches Urteil und so, Kant und die Folgen. Als sie aus dem Kino kommt laufen ihr nach dem melodramatischen Film (und einem Streit mit ihrem damaligen Liebhaber) Tränen das Gesicht herunter. Gleichzeitig hört sie, wie eine Frau zu einem Freund bemerkt, sie könne nicht verstehen, was alle an diesem Film fänden. Diese Frau und alle ihre pompösen, meist männlichen Nachfolger, sind  ab diesem Zeitpunkt die Adressaten der polemischen Sendschreiben von Pauline Kael. Wer seinen unmittelbaren Eindrücken nicht traut, auf das hört, was andere sagen und das Kino mit fremden Maßstäben mischt, bekam es in den nächsten Jahrzehnten mit ihr zu tun: der Verteidigerin des Kinos als unreiner Kunstform. Wie sie sich ihrer Tränen über das verlorene Fahrrad nicht schämte, so nervte sie zehn Jahre später der bildungsbürgerliche Dünkel gegenüber einem Publikum, das sich  an den Gewalttaten von Bonnie und Clyde erfreute. Die Wahrheit des Kinos steht in keinem Buch, sie kann von keiner Kamera erfasst und auch nicht im Kopf eines Regisseurs geplant werden: es gibt sie nur in den glücklichen Momenten, in denen ein Publikum auf einen Film unmittelbar reagiert. Diese Momente versuchte Pauline Kael in ihren Kritiken wiederzubeleben: als sinnliche Erfahrungen, die vergangen waren. I lost it at the movies hieß einer ihrer Sammelbände. Diese besondere, pop-affine Rezeptionsästhetik ist vielleicht ihr Beitrag zu einer weiblichen Geschichte der Moderne. Die Wiedererschaffung eines Kinos, von dessen Produktion Frauen ausgeschlossen sind, im Text.

Bis heute gehören diese Filmkritiken zum Besten, was in den 60er und 70er Jahren in eine Schreibmaschine gehauen wurde. Sie mochte die frühen Filme von Godard und Truffaut, verachtete aber die Autorenideologie. Ihre Filmkritiken beschrieben daher nicht künstlerische Intentionen (die es bis heute im Dutzend billiger gibt), sondern das Chaos, das sich ihrer Verwirklichung entgegenstellt: Schauspieler und Schauspielerinnen samt ihrer Ticks und Marotten, wie sie reden und sich bewegen, wie der Wind plötzlich durch die Bäume in einem Renoir-Film streicht, während ein Mädchen vergewaltigt wird. Und immer wieder: wie das Publikum reagiert auf Schocks und Komik, auf Überraschungen und die nie ausbleibende Enttäuschung darüber, dass das Licht wieder angeht. Filme waren Erlebnisse, die gefühlt und gespürt werden mussten, ansonsten wäre jede Inhaltsangabe schon eine Kritik. Indem sie so über das Kino schrieb, in einer Sprache die in der Universität aufgeschnappte Bildungsbrocken mit Slang und Poesie verband, bereitete sie den Boden für den (ästhetischen) Aufschwung des amerikanischen Kinos in den 70ern: Coppola, Scorcese und Altmann, ein Kino, das die alten Hollywood-Muster reflektierte und weiterentwickelte, die Filmstudio-Romantik mit dem dreckigen Realismus der 60er Jahre Dokumentarfilme verband. In diesen Filmen erlebte nicht nur Kael, sondern eine ganze Generation von Kinogängern, zum letzten Mal, dass Filme eine Bedeutung haben können: als Ausdruck eines nicht gelebten Lebens, einer verpassten Revolution (es war gleichzeitig eine Zeit tiefer Depression über die Machenschaften Nixons und das Blutbad in Vietnam). Historische Analyse der Aktualität und Feier des Moments - in Kaels Kritiken kam beides zusammen.

Pauline Kael ging es nicht um interesseloses Wohlgefallen an Filmen, sie hatte Interessen, die sie durchsetzen wollte. Das was der Film ihr bedeutet hatte, als sie arm, bedeutungslos und unbeachtet war, sollte er wieder erhalten. Dafür zog sie in einen Krieg, bei dem keine Gefangenen gemacht wurden. Auf den Höhepunkt ihrer Macht und ihres beträchtlichen Einflusses als Filmkritikerin des New Yorker folgte daher nicht ganz überraschend der lange Abschied: die übertriebene Kritik am vermeintlich faschistoiden Brutalismus von Don Siegel und Clint Eastwood, die letztlich verlorene Schlacht gegen das Star-Wars-Kino, das nur noch kommerziell und laut genug war, um das Knistern der Popcorntüten zu übertönen. Immer öfter verstand sie das Kino nicht mehr. Und manchmal waren die Filme, die sie mochte eher nett als bedeutend. Das Publikum, einst ihr bester Freund im Kampf gegen das Establishment, erschien ihr nun als willenlose Marionette ebendieses Establishments, auf billige Reize reagierend anstatt Filme zu erleben. Sie hatte ihre meist männlichen Jünger (die dann später so prätentiös und langweilig wurden wie die von ihr verhassten seriösen Kritiker der 60er Jahre), aber sie konnte unnachgiebig sein und machte sich viele Feinde. Renata Adler, ihre Kollegin als Filmkritikerin beim New Yorker, schrieb legendäre 8000 Wörter, um die Wertlosigkeit der späten Kritiken Kaels nachzuweisen. Aber die Zeit der großen Poprevolte war mit dem Wahlsieg Ronald Reagans eh vorbei. Der Filmschauspieler war selber Pop und machte respektlose Witze über den dritten Weltkrieg. Kiss Kiss Bang Bang – die Leute, die sich über so einen Buchtitel aufregen konnten waren inzwischen tot und vergessen. Pauline Kaels beste Kritiken bleiben lesenswert, weil sie verzeichnen, was es zu selten gibt: den Beginn von etwas Neuen.




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