Sie
lag als eine Schlange im Schneegestöber. Lag so als schönheitsgewundene Linie
schimmernd wie ein Geschmeide und wartete. Die neue Haut war ihr erwachsen,
Schuppe für Schuppe, und hatte das Muster ausgebildet, von dem sie vor langer
Zeit geträumt hatte, die helle Kreuzesform auf dunklem Grund. Wer näher käme,
wer sich hinabbeugte, der erst sähe, dass jenes Muster sich wunderbar aus einer
Vielfalt und Buntheit ergab, die von weit oben, wo der Kontrast zwischen
dunkler Linie und weißem Schnee das Auge täuschte, nicht auszumachen war. Die
S., wenn sie sich diesen Blick, wie er sich näherte, vorstellte, erschauderte,
denn es war unvermeidlich, es war gewiss, dass einem solchen Blick die Berührung
folgen würde, die sie so still und doch so gierig ersehnte. Sie war dieTreppe
hinabgeglitten, zwischen den hohen Eichen hindurch, die den hinteren Teil des
Gartens im Sommer verschatteten, aber jetzt, unbelaubt, wie in grausiger
Anklage ihre düsteren Finger gen Himmel streckten. Sie lag und wartete auf
freier Fläche zwischen den Bäumen, in der Nähe des Sees. Der Himmel so hoch und
leer über ihr. Von dort würde er
kommen: Entdeckung, Schau, Angriff, Zugriff. Ich habe deine Stimme gehört: Du bist so schön. Lange bevor ich zustoße, spürst du mein
Begehren. Ich bin dir unter die Haut gegangen. Ich bringe dich zum Blühen. Sie
ringelte sich, so sehr erregte sie die Erinnerung an diesen Traum. War es ein
Traum gewesen? Sie hatten nach ihr gesucht. Der Doktor hatte es verraten. Er
hatte es nicht zugegeben, aber seine niedergeschlagenen Augen hatten ihn verraten. Amur. Die schwarze Drachin. Pernis, mein
scharfschnabliger Räuberherr. Wie sie einander geflohen waren seit damals.
Sie war getaucht, sehr tief. Dass ich ein
Seeungeheuer bin, hattest du vergessen. Wir müssen aufpassen. Dass uns keiner auf die Spur kommt. Die Spuren, die sie im Schnee hinterlassen hatte, als
sie zum See hinunter geschlichen war, wehte der Wind in gehorsamer Eile zu. Wieso
hatte sie geglaubt, es beenden zu können. Wer
gezeichnet ist, entkommt nicht.
Die
Pfleger fanden sie im Morgengrauen, völlig unterkühlt. „Es ist ein Schub.“, sagte Dr. H.,
als er den Ärmel ihres Nachthemdes nach oben schob. „Wie konnten Sie das
übersehen.“ Hanna versuchte sich zu rechtfertigen. Doch er hatte sich
schon von ihr weggedreht. Die Patientin wurde auf die innere Station verlegt und sediert. Zu ihrer
Sicherheit blieb sie, wenn niemand bei ihr im Raum war, mit Ledergurten
ans Bett gefesselt. „Kein Risiko mehr an dieser Stelle.“, wies H. das Personal
an. „Es geht hier um mehr als die Gesundheit dieser einen Patientin.“ Dennoch er
verbrachte fast den ganzen Tag schweigend im Sessel neben dem Bett der S. Er
hätte gern ihre Hand ergriffen oder ihr über die blutig verschorfte Haut am
Unterarm, der über die Kante schlaff herabhing, gestrichen. Doch traute er sich nicht und das
war gut so.
(Fortsetzung zu der Serie: Fabelwesen)
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