Samstag, 9. Februar 2013

Vor dem TUNNEL


Ich werde sie bald schicken müssen. Sie wächst schnell und es wird mehr nicht lange dauern, bis sie zu groß wird für den Tunnel. Wenn ich sie anschaue, wie sie im Schlaf die Unterlippe vorschiebt, versuche ich mir vorzustellen, wie ich ohne sie leben werde. Ich werde wieder frei sein. Ich könnte sogar noch einmal ein Kind empfangen. Viele machen es so. Wir wissen wenig, im Grunde genommen nichts darüber, was jenseits des Tunnels ist. Aber es kann nicht schlechter sein als das hier. Jedenfalls reden wir uns das ein. Wir sehen den Tunnel als eine Chance und uns in der Pflicht, den rechten Zeitpunkt nicht zu verpassen, um unsere Mädchen hindurch zuschicken. Es muss schwer sein, mit der Schuld zu leben, wenn man den Moment versäumt hat. Nebenan wohnt eine Frau mit zwei Töchtern, die eindeutig längst zu groß sind für den Transfer. Wenn wir uns im Treppenhaus begegnen, weiche ich ihrem Blick aus. Die Kinder drängen sich dicht an sie. Es liegt etwas Verhärmtes um ihren Mund. Sie trägt eine Last, die ich mir nicht vorstellen mag. Aber da ist auch etwas Trotziges an ihr, wie sie die Mädchen um die Schultern fasst oder ihnen übers Haar streicht und mich dabei aus den Augenwinkeln beobachtet. Sie kleidet sie mit großer Sorgfalt, das bemerke ich schon. Oft höre ich ihre Nähmaschine am Abend rattern, wenn meine Kleine längst schläft. Manchmal spielen die großen Mädchen im Hof mit einem Ball. Sobald sich jedoch eine von uns anderen beschwert, denn wir sind den Lärm von aufwachsenden Kindern nicht mehr gewohnt, verschwinden die beiden ohne Widerworte in ihrer Wohnung.

Alles ist grau in unserer Welt: die Wohntürme, die Hinterhöfe, die Unterröcke, die Schürzen, die Blusen, die Straßenzüge, selbst der Grünstreifen in der Mitte der Fahrbahn trägt ein Silbergrün, wie ein distinguierter Herr an den Schläfen. Ich kenne die Namen der Farben, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, woher ich sie weiß. Die Frau von nebenan ist mutig, dass sie ihren Töchtern von Zeit zu Zeit diese bunten Schleifen ins Haar bindet: rot, gelb, violett. Es muss einmal eine Welt gegeben haben, in der diese Farben häufiger vorkamen. Aber davon weiß ich nichts mehr. Jenseits des Tunnels, daran glaube ich fest, existiert diese Welt weiter: eine Explosion wilder Farben, so grell und herrlich, dass unsere entwöhnten Augen sie nicht einmal mehr ertragen könnten. Man muss eben früh genug dort hinkommen. Im Grunde sind diese Gedanken müßig, denn niemand Ausgewachsenes wird jemals durch den Tunnel auf die andere Seite gelangen, so viel steht fest.

Wie sollte ich meiner Kleinen mein Leben unter diesen sonderbaren Umständen erklären? Was hätte ich ihr zu sagen, wenn sie mich einmal fragen könnte, was mich bewogen habe, sie zu empfangen, sie zu gebären, um sie durch diesen Tunnel zu entlassen aus meiner Welt und meinem Leben? Ich hätte keine Antworten. Wir reden hier nie darüber, wir Frauen. Manche leben einfach weiter wie vorher, wenn sie die ihre an den Tunneleingang gebracht haben. Es gibt einige, die immer wieder diesen Weg nehmen. Eine nach der anderen gebären sie, päppeln sie auf und senden sie dann in jene fabelhafte, bunte Welt jenseits des Tunnels. Das sind die fröhlichsten unter uns. Sie lächeln wissend, wenn doch einmal eine Zweifel andeutet. Wozu? Es wird alles gut werden. Wir erfüllen unsere Pflicht und geben unser Bestes. Unser Bestes sind unsere Töchter. So sagen sie. Einige dieser schlanken, hochgewachsenen Frauen mit den glatten Stirnen und den strahlenden Augen haben Führungsrollen übernommen. Ihre Bewegungen sind elegant, fließend, geschickt. Auch ihre Geburten, so nehme ich an, verlaufen angenehm, schicklich und sauber, denn ich habe niemals die Erlaubnis erhalten, dabei zu sein.

Soweit werde ich es niemals bringen. Mir fehlt diese Selbstverständlichkeit, trotz aller Bemühungen kann ich die Fragen nicht vollständig zum Verstummen bringen, die mein unvollkommenes Bewusstsein stellt. „Nie waren wir freier als hier“, sagt Martha. Martha ist geschaffen dafür, die Zweifel zu zerstreuen. Wenn Martha zu Besuch kommt und meine Kleine auf den Schoß nimmt, spüre ich, dass alles gut wird. „Du musst nichts tun. Begreifst du, welch ungeheures Privileg du genießt? Deine Tage verbringst du wie im ewigen Urlaub. Für alles ist gesorgt, Marie. Wenn du den Markt aufsuchst, findest du alles, was du brauchst: Gemüse, Fleisch, Brot, Früchte, Stoffe, Mützen, bequemes Schuhwerk, elegante Kleider. Du brauchst nur zuzugreifen. Deine Wohnung ist immer warm und gemütlich. Wenn es regnet, findest du an jeder Ecke Unterschlupf. Du brauchst dich nie zu beeilen. Es gibt nichts zu tun. Niemand zwingt dich zu irgendetwas. Alles ist umsonst.“ Ich lausche diesem Wort nach: Umsonst. Ich weiß nicht, was es bedeutet. Es erinnert mich an etwas, aber ich bekomme es nicht zu fassen. Ich wage es nicht, Martha danach zu fragen. Es wäre nur ein Beweis für meine Unzulänglichkeit, denke ich. Dafür, dass ich trotz allem noch immer nicht wirklich dazu gehöre.

Meine Kleine schläft. Manchmal murmelt sie im Schlaf. Ich beuge mich zu ihr hinab und bilde mir ein, sie flüstere: „Mama.“ Das ist selbstverständlich Unfug. Wir sind frei, aber es gilt als unschicklich, einer der unseren dieses Wort aufzudrängen. Sie nennt mich Marie. Wie sich selbst. Alle unsere Töchter tragen unsere Namen weiter. Das wird nur für solche wie meine Nachbarin zum Problem. Sie flüstert die Namen ihrer Töchter leise; nie ruft sie laut nach ihnen. Das wäre uns allen auch sehr unangenehm. Aber ich habe es dennoch gehört, im Lift und im Treppenhaus, wie sie Li und Lu zu ihnen sagt. Sie müssen noch viele Jahre überstehen in dieser Ächtung, durchs Treppenhaus huschen, den Blick gesenkt sich an den anderen Frauen vorbeidrücken, bis sie endlich selbst herangewachsen sein werden, mit festen kleinen Brüsten unter ihren Blusen und langen, schlanken Beinen unter den Röcken. Auch dann, so denke ich, werden sie es schwer haben, denn keine wird diese Erinnerungen mit ihnen teilen: die graue Mutter in den grauen Wänden, das triste Leben, die ängstlichen Blicke. Sie tut nicht recht, meine Nachbarin. Aber Martha sagt: „Wir sind frei. Auch sie.“ Dabei verzieht sie jedoch angeekelt den Mund.

Ich streiche meiner Kleinen über das goldene Haar. Das Haar meiner Kleinen und die Schleifen in den Zöpfen von Li und Lu sind die einzigen Farben in meinem Leben. Meine Kleine hat etwas Besseres verdient. Ich bin frei genug, denke ich. Ich werde Martha nicht enttäuschen. Ich werde die Kleine schicken. Zum Eingang des Tunnels sind es nur drei Straßenecken. Wenn es regnet, können die Kleine und ich uns auf dem Weg überall unterstellen. Ich schaue aus dem Fenster. Am Himmel leuchten die Sterne, aber auch ihr Glanz ist silbergrau. Kein Wölkchen am Horizont. Es wird nicht regnen morgen. Ich werde die Kleine zum Tunnel bringen. Übermorgen. Vielleicht. 

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