Montag, 28. April 2014

DIE GEBURT DES POPS AUS DEM GEIST DES KINDERZIMMERS. Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik

Ein Beitrag von Morel




„Über Pop-Musik ist eine Philosophie der Popmusik. Die begeisterte Aufnahme durch das Feuilleton täuschte allerdings darüber hinweg, dass sich kaum jemand mit dem Inhalt des nicht gerade schmalen Werks auseinandersetzen mochte. Neben Erinnerungen an die ersten Schallplatten oder CDs, feierten die ausschließlich männlichen Rezensenten einmal mehr die Erringung der Diskurshoheit im Style-War mit dem klassischen Feuilleton: Schatz, Sie spielen unser Lied jetzt auch im Heidegger-Seminar. Doch das Feuilleton hätte etwas von Diederichsen lernen können, anstatt sich einmal mehr selbst zu feiern, nämlich was sein Gegenstand überhaupt ist. Dazu wäre aber, statt Reflexen, Reflexion nötig gewesen.

Diederichsen geht von einer Erkenntnis aus, die schon viele unserer Eltern nach kurzer Exkursion ins ehemalige Kinderzimmer gewonnen hatten: Popmusik ist gar keine Musik. Das ist ein wenig verkürzt, sie ist für Diederichsen immer auch mehr als Musik, daher der Bindestrich in seinem Titel. Pop entsteht weder im Studio noch auf der Bühne, sondern in genau dem Kinderzimmer, das die Erwachsenen dann irgendwann nicht mehr betreten durften. Was heißt das? Philosophiegeschichtlich beschränkt sich Diederichsen auf zwei Gewährsmänner: der späte Roland Barthes und ein vielleicht etwas gegen den Strich gelesener Adorno. Es ist ein fußnotenarmes Buch. Von Barthes übernimmt er das Punctum, worunter das Zufällige einer Photographie zu verstehen ist, das unmittelbar trifft, eine Kleinigkeit, an der wir immer wieder hängenbleiben. Für Diederichsen gibt es auch in der Popmusik, im Unterschied zur notierten, klassischen Musik, ein Element des Zufälligen, das ihr Publikum in den Bann schlägt: es hängt wie bei der Photographie mit ihrer Reproduzierbarkeit zusammen, der Aufzeichnung und Wiedergabe durch Apparate, die auch Spuren aufnehmen, die nicht zur Musik gehören und sich nicht einfach nachspielen lassen. So hörte ich mit 15 in irgendwelchen Neal-Young-Gitarrengewittern immer an derselben Stelle, wie mein Name gerufen wurde.

Entscheidend ist nur: diese zufälligen Momente können nicht produziert werden, weshalb kontrollsüchtige Produzenten wie Phil Spector oder Joe Meek (dem Diederichsen einen schönen Exkurs widmet) im Laufe des Berufslebens zunehmend der Exzentrik und dem Wahnsinn verfielen. Der Gegenstand Pop-Musik, so die zentrale These, ist nicht wie die klassische Musik einem Subjekt unterworfen (das sich zuvor durch Übungen diszipliniert hat), sondern entsteht zerstreut zwischen Produzenten und Konsumenten. In einer Art Medienverbund, der Poster, TV-Aufzeichnungen, Plattenhüllen, Songtexte, Geräusche, Rhythmen und Harmonien umfasst. Diese aus den Kinderzimmern entwichenen Geister waren schwer zu beherrschen und zu manipulieren, wie die reichen Industriegesellschaften der 60er Jahre schnell bemerken sollten. Heute ist das anders, weshalb ein zarter Hauch von Melancholie Diederichsens ansonsten robust fröhliche Wissenschaft durchzieht.

Und damit hat auch Adorno seinen Auftritt, der diesen Verbund kritisch als Manipulation analysiert hat. Einer der einschlägigen Texte ist hier der unter dem schönen Pseudonym Hector Rottweiler geschriebene Essay „Über Jazz, in dem viel Unschönes über diese einstige Tanzmusik zu lesen war. Die Kritik, die dann ab den 60ern bis in die 80er (in denen wir viel über Adornos Tiraden lachen mussten) an diesem Text zu lesen war, ging meistens davon aus, dass Adorno eben keine Ahnung vom Jazz habe, weder Louis Armstrong noch später Charlie Parker oder John Coltrane gehört habe, sondern nur kommerzielle Tanzmusik. Aber Adorno mochte nun einmal weder Free Jazz noch die Beatles hören. Diederichsen setzt nun völlig anders an. Für ihn trifft Adorno einen Punkt, den die meisten Jazzexperten verfehlen, wenn er den Jazz als soziales Phänomen analysiert, das von beschädigten Subjekten gespielt wird, die Freiheit nur im Rahmen vorgegebener Themen erfahren können. Damit aber wiederholt der Jazz, was Arbeiterinnen und Angestellte alltäglich erleben (so wie schon der Film in den Analysen Benjamins), geht aber gleichzeitig darüber hinaus. Während die von Adorno geforderte autonome Musik dies nur negativ abbildet, als Leerstelle. Dass der Jazz nur mit Themen, Klischees arbeitet ist so gesehen kein Mangel, sondern Voraussetzung seines Erfolgs in einer Gesellschaft, die individuelle Autonomie nicht mehr zulässt. Diese Konsequenz konnte Adorno nicht ziehen, wenn er das Paradies seiner privilegierten Kindheit nicht aufgeben wollte.


Vom Jazz ist es nicht mehr so weit zur Pop-Musik, in der die beschädigten Subjekte dann nicht mehr unter rassistischer Ausgrenzung oder wirtschaftlicher Unterdrückung leiden, sondern Jugendliche in einer von Arbeit auf Konsum umgestellten Gesellschaft sind. Der Gegenstand von Pop-Musik entsteht nun genau in diesem Konsum, weshalb Diederichsen wenig mit der altlinken Konsumkritik anfangen kann. In „Über Pop-Musik geht es daher in der Folge auf abstraktem Niveau um die Pose, den Song, die Rhythmen. Diederichsen hat in seiner Jugend gerne den stalinistischen Kunstkritiker gegeben, der apodiktisch den Daumen hebt oder senkt. In seinem Spätwerk ist er davon weit entfernt. Nicht frei von Ironie bemerkt er, dass der Gegenstand seiner Theorie mit seiner Lebenszeit zusammenfällt. Natürlich finden hier die Freundinnen und Freunde der Empirie den Ansatzpunkt für Kritik wo bleiben bitteschön Heavy Metal, Schlager und brasilianischer Bossa Nova. Aber „Über Pop-Musik ist kein Lexikon, sondern ein Werkzeugkasten.

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