Ein Beitrag von Morel
„Über Pop-Musik“ ist eine Philosophie der Popmusik. Die begeisterte
Aufnahme durch das Feuilleton täuschte allerdings darüber hinweg, dass sich kaum jemand mit dem Inhalt des
nicht gerade schmalen Werks auseinandersetzen mochte. Neben Erinnerungen an die
ersten Schallplatten oder CDs, feierten die ausschließlich männlichen Rezensenten
einmal mehr die Erringung der Diskurshoheit im Style-War mit dem klassischen
Feuilleton: „Schatz, Sie spielen unser Lied jetzt auch im
Heidegger-Seminar“. Doch das Feuilleton hätte etwas von Diederichsen lernen können, anstatt sich einmal mehr selbst zu feiern, nämlich was sein Gegenstand überhaupt ist. Dazu wäre aber, statt Reflexen, Reflexion nötig gewesen.
Diederichsen geht von
einer Erkenntnis aus, die schon viele unserer Eltern nach kurzer Exkursion ins
ehemalige Kinderzimmer gewonnen hatten: Popmusik ist gar keine Musik. Das ist
ein wenig verkürzt, sie ist für Diederichsen immer auch mehr als Musik, daher der
Bindestrich in seinem Titel. Pop entsteht weder im Studio noch auf der Bühne, sondern in genau dem Kinderzimmer, das die
Erwachsenen dann irgendwann nicht mehr betreten durften. Was heißt das? Philosophiegeschichtlich beschränkt sich Diederichsen auf zwei Gewährsmänner: der späte Roland Barthes und ein vielleicht etwas gegen den
Strich gelesener Adorno. Es ist ein fußnotenarmes Buch. Von Barthes übernimmt er das Punctum, worunter das Zufällige einer Photographie zu verstehen ist, das
unmittelbar trifft, eine Kleinigkeit, an der wir immer wieder hängenbleiben. Für Diederichsen gibt es auch in der Popmusik, im
Unterschied zur notierten, klassischen Musik, ein Element des Zufälligen, das ihr Publikum in den Bann schlägt: es hängt wie bei der
Photographie mit ihrer Reproduzierbarkeit zusammen, der Aufzeichnung und
Wiedergabe durch Apparate, die auch Spuren aufnehmen, die nicht zur Musik gehören und sich nicht einfach nachspielen lassen. So hörte ich mit 15 in irgendwelchen Neal-Young-Gitarrengewittern
immer an derselben Stelle, wie mein Name gerufen wurde.
Entscheidend ist nur:
diese zufälligen Momente können nicht produziert werden, weshalb kontrollsüchtige Produzenten wie Phil Spector oder Joe Meek (dem
Diederichsen einen schönen Exkurs widmet) im
Laufe des Berufslebens zunehmend der Exzentrik und dem Wahnsinn verfielen. Der
Gegenstand Pop-Musik, so die zentrale These, ist nicht wie die klassische Musik
einem Subjekt unterworfen (das sich zuvor durch Übungen diszipliniert hat), sondern entsteht zerstreut
zwischen Produzenten und Konsumenten. In einer Art Medienverbund, der Poster,
TV-Aufzeichnungen, Plattenhüllen, Songtexte, Geräusche, Rhythmen und Harmonien umfasst. Diese aus den
Kinderzimmern entwichenen Geister waren schwer zu beherrschen und zu
manipulieren, wie die reichen Industriegesellschaften der 60er Jahre schnell
bemerken sollten. Heute ist das anders, weshalb ein zarter Hauch von
Melancholie Diederichsens ansonsten robust fröhliche Wissenschaft durchzieht.
Und damit hat auch Adorno
seinen Auftritt, der diesen Verbund kritisch als Manipulation analysiert hat.
Einer der einschlägigen Texte ist hier der unter dem schönen Pseudonym Hector Rottweiler geschriebene Essay „Über Jazz“, in dem viel Unschönes über diese einstige Tanzmusik
zu lesen war. Die Kritik, die dann ab den 60ern bis in die 80er (in denen wir
viel über Adornos Tiraden lachen mussten) an diesem
Text zu lesen war, ging meistens davon aus, dass Adorno eben keine Ahnung vom
Jazz habe, weder Louis Armstrong noch später Charlie Parker oder John Coltrane gehört habe, sondern nur kommerzielle Tanzmusik. Aber Adorno
mochte nun einmal weder Free Jazz noch die Beatles hören. Diederichsen setzt nun völlig anders an. Für ihn trifft Adorno einen Punkt, den die meisten
Jazzexperten verfehlen, wenn er den Jazz als soziales Phänomen analysiert, das von beschädigten Subjekten gespielt wird, die Freiheit nur im
Rahmen vorgegebener Themen erfahren können. Damit aber wiederholt der Jazz, was Arbeiterinnen
und Angestellte alltäglich erleben (so wie
schon der Film in den Analysen Benjamins), geht aber gleichzeitig darüber hinaus. Während die von Adorno geforderte autonome Musik dies nur
negativ abbildet, als Leerstelle. Dass der Jazz nur mit Themen, Klischees
arbeitet ist so gesehen kein Mangel, sondern Voraussetzung seines Erfolgs in
einer Gesellschaft, die individuelle Autonomie nicht mehr zulässt. Diese Konsequenz konnte Adorno nicht ziehen, wenn er
das Paradies seiner privilegierten Kindheit nicht aufgeben wollte.
Vom Jazz ist es nicht mehr
so weit zur Pop-Musik, in der die beschädigten Subjekte dann nicht mehr unter rassistischer
Ausgrenzung oder wirtschaftlicher Unterdrückung leiden, sondern Jugendliche in einer von Arbeit auf
Konsum umgestellten Gesellschaft sind. Der Gegenstand von Pop-Musik entsteht
nun genau in diesem Konsum, weshalb Diederichsen wenig mit der altlinken
Konsumkritik anfangen kann. In „Über
Pop-Musik“ geht es daher in der Folge auf abstraktem
Niveau um die Pose, den Song, die Rhythmen. Diederichsen hat in seiner Jugend
gerne den stalinistischen Kunstkritiker gegeben, der apodiktisch den Daumen
hebt oder senkt. In seinem Spätwerk ist er davon weit
entfernt. Nicht frei von Ironie bemerkt er, dass der Gegenstand seiner Theorie
mit seiner Lebenszeit zusammenfällt. Natürlich finden hier die Freundinnen und Freunde der Empirie
den Ansatzpunkt für Kritik – wo bleiben bitteschön Heavy Metal, Schlager und brasilianischer Bossa Nova.
Aber „Über Pop-Musik“ ist kein Lexikon, sondern ein Werkzeugkasten.
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