"Nato muss sich rüsten", titelt heute die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, den Nato-Generalsekretür Rasmussen zitierend. Die vom "Westen" anerkannte, aber ungewählte ukrainische Regierung geht mit Waffengewalt gegen die bewaffneten Separatisten im Osten des Landes vor, die die Bevölkerung mit Straßensperren tyrannisieren und Menschen, die die Einheit der Ukraine befürworten, foltern und ermorden. In der Hafenstadt Odessa, die für ihre Vielfalt bekannt war, werfen nationalistische Fußball-Hooligans Molotowcocktails und Dutzende sterben in den Flammen. Ein Staat bricht zusammen. "Der Westen" und Russland bezichtigen sich gegenseitig, mitverantwortlich für die Gewalttaten zu sein.
Medien machen Meinung, wenige nur klären über Fakten auf. Um das Handeln und Fühlen der Menschen in der Ukraine zu verstehen, so glaube ich, müssten "wir", damit meine ich Menschen, die im Westen leben und aufgewachsen sind, mehr wissen über die widersprüchlichen und oft mit Angst und Hass besetzten Erinnerungen der Ukrainerinnen und Ukrainer. Stimmen, die ohne eigene Machtinteressen um Verständnis und Verständigung werben, sind so rar wie notwendig. Eine dieser Stimmen, auf die "wir" jetzt hören sollten, ist diejenige von Swetlana Alexijewitsch. Im Interview mit der Deutschen Welle sagte sie im April: "Als ich sah, wie mutig die Ukrainer waren, wie junge Leute, ihre Leben geopfert haben, hatte ich ein zwiespältiges Gefühl. Mich erfüllte es mit Stolz, aber der Preis schien mir unangemessen hoch. Ich bin für den langsamen Weg, für die Entwicklung der Zivilgesellschaft. Die Menschen haben es immer eilig. Mir scheint, wenn es um historische Veränderungen geht, sollte man sich nicht beeilen. Insbesondere nicht im postsowjetischen Raum."
Parallel zur Zuspitzung der Lage in der Ukraine in dieser Woche habe ich Alexijewitschs schon 1985 erschienenes Buch "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" gelesen. Viele Male musste ich es beiseite legen, weil mir die Tränen über die Wangen liefen. Das geschieht mir sonst fast nie, eher noch im Angesicht bestimmter Bilder, kaum einmal beim Lesen. Doch was diese Frauen, die sowjetischen Veteraninnen des 2. Weltkrieges, zu erzählen haben, ist erschütternd. Sie haben den grauenhaften Erinnerungen an den Krieg, so stellt Alexijewitsch fest, viel weniger Heldenerzählungen und ideologische Überzeugungen entgegenzusetzen als die Männer. In den Erzählungen der Frauen wird das Erinnerte nicht "eingeordnet" in die große Meta-Erzählung vom siegreichen "vaterländischen Krieg". Was bleibt ist das Leid, der Schmerz, die Schuld - und das kleine Glück über einen Blumenstrauß, der Geschmack eines Brotes, eine zögerliche, zärtliche Geste.
Ich erinnere mich daran, als 17jährige Erich Maria Remarques "Im Westen nicht Neues" gelesen zu haben. Auch dieser Roman erschütterte mich, aber die Lektüre trieb keine Tränen hervor, obwohl ich damals noch dichter am Wasser gebaut war. Swetlana Alexijewitschs Erinnerungs- und Interviewbuch wirkt vielleicht deshalb stärker auf mich, weil sie keine lineare, chronologische Erzählung formt, weil die Erinnerungen vielfältig und widersprüchlich bleiben, weil die Frauen weder auf der Metaebene der Geschichte noch auf der Mikroebene des eigenen Lebens dem Erinnerten eine Sinnstiftung geben. Weil es kein "Ende" gibt, nicht einmal eines "mit Schrecken". Weil diese Frauen weitergelebt haben mit diesen Erinnerungen, geschwiegen und ausgehalten, gelacht, geweint, Kinder geboren und Enkelkinder mit aufgezogen, ihr Erleben, ihre Ängste und Traumata weitergeben, oft schweigend, unterbewusst.
Die Frauen, mit denen Swetlana Alexijetwisch spricht, waren blutjung, als der Krieg begann, halbe Kinder noch, 15, 16, 17 Jahre alt. Einige logen über ihr Alter, um das Vaterland, wie es ihnen die stalinistische Propaganda nahelegte, zu verteidigen. Alexijewitsch beobachtet: "Ich würde sie nicht als Generation des Krieges bezeichnen, sondern als Generation des Glaubens." Sie zogen als Gläubige in den Krieg, beseelt von ihrer Überzeugung auf der "richtigen" Seite zu stehen, waren glücklich, kämpfen zu können, statt passiv zu erleiden. Was sie erlebten, prägte sie für immer, aber sie sollten darüber schweigen. Denn in der großen Erzählung über den vaterländischen Krieg sollten die Stimmen der Frauen nach dem Sieg kein Gehör finden. Nach dem Krieg, so erlebten es viele dieser Frauen, so erzählen es auch die Männer, deren Kameradinnen sie gewesen waren, begegnete man den kampferprobten Veteraninnen mit Misstrauen und Abscheu. Während Männer als Helden zurückkehrten und ihre Männlichkeit durch die Kriegserfahrung gewann, wurden die Veteraninnen als "unweiblich" angesehen: "Mit so einer Frau wäre ich vielleicht auf Erkundung gegangen, aber ich hätte sie niemals geheiratet.", sagt einer und ein anderer: "Nach dem Krieg waren diese Frauen furchtbar schutzlos. Zum Beispiel meine Frau. Sie ist eine kluge Frau, aber von den Soldatenmädchen hat sie eine schlechte Meinung."
Swetlana Alexijewitsch will Geschichten hörbar machen, die noch nicht gehört worden sind: Eine weibliche Geschichte des Krieges. "Wenn die Frauen erzählen, finden wir nie oder fast nie, was wir sonst ohne Ende hören oder schon nicht mehr hören, sondern überhören: Wie die einen heroisch die anderen töteten und siegten. Oder unterlagen. Nichts über Technik oder die Generäle. Die Erzählungen der Frauen sind anders, sie erzählen anderes." Im Vorwort ihres Buches berichtet Alexijewitsch, mit wie viel Misstrauen ihrer Recherche die männlich dominierte Zensur begegnete: Warum wolle sie die Geschichte der Frauen wissen? Es gebe doch schon genug Literatur der Männer über den Krieg. Die Männer, so erzählt Alexijewitsch, hätten befürchtet, "die Frauen könnten ´einen falschen Krieg erzählen´." Und der Zensor wirft ihr vor, mit ihrem "primitiven Naturalismus" erniedrige sie die Frau. Alexijewitsch hält an ihrem selbst gestellten Auftrag fest: "Stimmt, ich liebe keine großen Ideen, ich liebe den kleinen Menschen. Und außerdem liebe ich das Leben."
In der Neuauflage setzt sich Swetlana Alexijewitch aber auch mit dem Zensor in sich selbst auseinander. Sie untersucht, welche Interviewpassagen sie weg ließ für die Buchausgabe und sie stellt fest, dass auch sie versuchte, dem Grauen auszuweichen, das Schlimmste nicht festzuhalten: die Mutter, die ihr Kind ertränkt, um es am Schreien zu hindern, damit sie und die Ihren nicht von den Deutschen in ihrem Versteck entdeckt werden und sich später aufhängt, die Schwangere, die mit einem Sprenggürtel um die Hüften durch Stalingrad läuft, die Verstümmelungen und Morde aus Hass und Rache. In der Neuauflage hat sie versucht, sich auch diesen Erinnerungen zu stellen. Aber sie erzählt auch davon, wie in Gefechtspausen Blumen gepflückt, wie zärtliche Gesten ausgetauscht werden und sich Liebende finden.
"Wenn man den Krieg mit unseren Augen sieht, mit Frauenaugen...Aus Weibersicht...Dann ist er schlimmer als schlimm. Darum fragt uns auch keiner.", sagt eine. Und eine andere erzählt von einem Dorf in der Ukraine, das ihre Einheit befreit, von Menschen, die nichts mehr hatten als ein paar Melonen, mit denen sie die Befreierinnen begrüßten. Bilder stehen einer lebenslang vor dem inneren Auge, wie sie widersprüchlicher nicht sein könnten: "Das Getreide stand in dem Jahr traumhaft hoch. Grünes Gras, Sonne - und überall Tote, überall Blut..." Auch im Krieg machen die Frauen die Arbeit, die immer getan werden muss: "Da wird nicht nur geschossen und getötet, bombardiert und in die Luft gejagt, in den Nahkampf gezogen - dort wird auch Wäsche gewaschen, Essen gekocht, Brot gebacken, werden Kessel gescheuert, Autos repariert, wird Post ausgetragen und Tabak geliefert." Verwundeten Soldaten ohne Arme müssen gerade rekrutierte Acht-Klässlerinnen beim Pinkeln in die "Ente" helfen, auf dem Schlachtfeld mit den Zähnen einen abgerissenen Arm wegbeißen, um den Getroffenen zu retten, Bäume fällen, bis sie Blasen an den Händen haben, Liebesbriefe schreiben, in zerbombte Waggons kletterten, in denen nur noch "menschliches Hackfleisch" vorzufinden ist. Sie haben Angst, nach Hause zurück zu kehren, weil sie nicht mehr die sind, die dort erwartet werden.
Swetlana Alexijewitschs Buch endet mit Stalingrad. Mit einem geretteten, einem gehassten Deutschen, dem es beide Beine weggerissen hat. Und der Unfähigkeit ihn zu töten. Mit einem Blick in den Himmel: "Nach dem Krieg hatte ich lange Angst vor dem Himmel, ich wagte nicht einmal, zum Himmel aufzuschauen. Ich hatte Angst vor dem Anblick umgepflügter Erde... Aber die Dohlen, die spazierten bereits seelenruhig darüber. Die Vögel vergaßen den Krieg schnell..."
Es sind diese Stimmen, die wir jetzt hören müssen, damit unsere Gegenwart nicht, wie einige es schon wieder beschwören, zur Vorkriegszeit geworden sein wird.
Swetlana Alexijewitsch: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Hanser € 21,90
Kindle Edition, € 16,99
Die Frauen, mit denen Swetlana Alexijetwisch spricht, waren blutjung, als der Krieg begann, halbe Kinder noch, 15, 16, 17 Jahre alt. Einige logen über ihr Alter, um das Vaterland, wie es ihnen die stalinistische Propaganda nahelegte, zu verteidigen. Alexijewitsch beobachtet: "Ich würde sie nicht als Generation des Krieges bezeichnen, sondern als Generation des Glaubens." Sie zogen als Gläubige in den Krieg, beseelt von ihrer Überzeugung auf der "richtigen" Seite zu stehen, waren glücklich, kämpfen zu können, statt passiv zu erleiden. Was sie erlebten, prägte sie für immer, aber sie sollten darüber schweigen. Denn in der großen Erzählung über den vaterländischen Krieg sollten die Stimmen der Frauen nach dem Sieg kein Gehör finden. Nach dem Krieg, so erlebten es viele dieser Frauen, so erzählen es auch die Männer, deren Kameradinnen sie gewesen waren, begegnete man den kampferprobten Veteraninnen mit Misstrauen und Abscheu. Während Männer als Helden zurückkehrten und ihre Männlichkeit durch die Kriegserfahrung gewann, wurden die Veteraninnen als "unweiblich" angesehen: "Mit so einer Frau wäre ich vielleicht auf Erkundung gegangen, aber ich hätte sie niemals geheiratet.", sagt einer und ein anderer: "Nach dem Krieg waren diese Frauen furchtbar schutzlos. Zum Beispiel meine Frau. Sie ist eine kluge Frau, aber von den Soldatenmädchen hat sie eine schlechte Meinung."
Swetlana Alexijewitsch will Geschichten hörbar machen, die noch nicht gehört worden sind: Eine weibliche Geschichte des Krieges. "Wenn die Frauen erzählen, finden wir nie oder fast nie, was wir sonst ohne Ende hören oder schon nicht mehr hören, sondern überhören: Wie die einen heroisch die anderen töteten und siegten. Oder unterlagen. Nichts über Technik oder die Generäle. Die Erzählungen der Frauen sind anders, sie erzählen anderes." Im Vorwort ihres Buches berichtet Alexijewitsch, mit wie viel Misstrauen ihrer Recherche die männlich dominierte Zensur begegnete: Warum wolle sie die Geschichte der Frauen wissen? Es gebe doch schon genug Literatur der Männer über den Krieg. Die Männer, so erzählt Alexijewitsch, hätten befürchtet, "die Frauen könnten ´einen falschen Krieg erzählen´." Und der Zensor wirft ihr vor, mit ihrem "primitiven Naturalismus" erniedrige sie die Frau. Alexijewitsch hält an ihrem selbst gestellten Auftrag fest: "Stimmt, ich liebe keine großen Ideen, ich liebe den kleinen Menschen. Und außerdem liebe ich das Leben."
In der Neuauflage setzt sich Swetlana Alexijewitch aber auch mit dem Zensor in sich selbst auseinander. Sie untersucht, welche Interviewpassagen sie weg ließ für die Buchausgabe und sie stellt fest, dass auch sie versuchte, dem Grauen auszuweichen, das Schlimmste nicht festzuhalten: die Mutter, die ihr Kind ertränkt, um es am Schreien zu hindern, damit sie und die Ihren nicht von den Deutschen in ihrem Versteck entdeckt werden und sich später aufhängt, die Schwangere, die mit einem Sprenggürtel um die Hüften durch Stalingrad läuft, die Verstümmelungen und Morde aus Hass und Rache. In der Neuauflage hat sie versucht, sich auch diesen Erinnerungen zu stellen. Aber sie erzählt auch davon, wie in Gefechtspausen Blumen gepflückt, wie zärtliche Gesten ausgetauscht werden und sich Liebende finden.
"Wenn man den Krieg mit unseren Augen sieht, mit Frauenaugen...Aus Weibersicht...Dann ist er schlimmer als schlimm. Darum fragt uns auch keiner.", sagt eine. Und eine andere erzählt von einem Dorf in der Ukraine, das ihre Einheit befreit, von Menschen, die nichts mehr hatten als ein paar Melonen, mit denen sie die Befreierinnen begrüßten. Bilder stehen einer lebenslang vor dem inneren Auge, wie sie widersprüchlicher nicht sein könnten: "Das Getreide stand in dem Jahr traumhaft hoch. Grünes Gras, Sonne - und überall Tote, überall Blut..." Auch im Krieg machen die Frauen die Arbeit, die immer getan werden muss: "Da wird nicht nur geschossen und getötet, bombardiert und in die Luft gejagt, in den Nahkampf gezogen - dort wird auch Wäsche gewaschen, Essen gekocht, Brot gebacken, werden Kessel gescheuert, Autos repariert, wird Post ausgetragen und Tabak geliefert." Verwundeten Soldaten ohne Arme müssen gerade rekrutierte Acht-Klässlerinnen beim Pinkeln in die "Ente" helfen, auf dem Schlachtfeld mit den Zähnen einen abgerissenen Arm wegbeißen, um den Getroffenen zu retten, Bäume fällen, bis sie Blasen an den Händen haben, Liebesbriefe schreiben, in zerbombte Waggons kletterten, in denen nur noch "menschliches Hackfleisch" vorzufinden ist. Sie haben Angst, nach Hause zurück zu kehren, weil sie nicht mehr die sind, die dort erwartet werden.
Swetlana Alexijewitschs Buch endet mit Stalingrad. Mit einem geretteten, einem gehassten Deutschen, dem es beide Beine weggerissen hat. Und der Unfähigkeit ihn zu töten. Mit einem Blick in den Himmel: "Nach dem Krieg hatte ich lange Angst vor dem Himmel, ich wagte nicht einmal, zum Himmel aufzuschauen. Ich hatte Angst vor dem Anblick umgepflügter Erde... Aber die Dohlen, die spazierten bereits seelenruhig darüber. Die Vögel vergaßen den Krieg schnell..."
Es sind diese Stimmen, die wir jetzt hören müssen, damit unsere Gegenwart nicht, wie einige es schon wieder beschwören, zur Vorkriegszeit geworden sein wird.
Swetlana Alexijewitsch: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Hanser € 21,90
Kindle Edition, € 16,99
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