Die
Rapunzel-Sabine tauchte nach über 20 Jahren wieder in einer Facebook-Gruppe auf. Nach ihrem Profilbild hätte keine sie erkannt. Es war
unscharf und im Gegenlicht aufgenommen, eine etwas mollige Frau in einem zu
engen, silbrigen Spaghetti-Träger-Top, von dem die Bohnenstangen-Sabine, die sich jetzt Sabia nannte, jeder
Frau über fünfundvierzig, die nicht regelmäßiges Hantel-Training machte, abraten würde, falls die sie sich jemals die Mühe gegeben
hätte, anderen Frauen Ratschläge zu ihrem Outfit zu erteilen.
Die
Facebook-Gruppe hatte der Norbert gegründet, aber vielleicht hatte er es auf
Anraten oder gar Befehl von Claus getan. „Wir aus der Milchau“ hatte der
Norbert die Gruppe genannt, aber praktisch jeden und jede eingeladen, die er
kannte, also zum Beispiel auch alle die gar nicht aus Haselberg kamen, sondern
nur mit ihm in der Kreisstadt aufs Gymnasium gegangen waren. Die Gruppe war
offen und die Mitgliedschaft schnell gewachsen. Die kleine Sabine war natürlich
von Anfang an dabei gewesen, schließlich war sie die Frau vom Norbert und als
„Mädchen für alles“ in seinem Reisebüro direkt gegenüber dem Rathaus saß sie im
Zentrum von Klatsch und Tratsch. Schon nach wenigen Wochen hatte die Gruppe
fast 1000 Mitglieder, was vor allem dem Claus zu verdanken war, der zu den
ersten zehn gehörte, die der Norbert eingeladen hatte. Böse Zungen behaupteten,
dass der Claus den Norbert instruiert habe, die Gruppe als ein
Wahlkampfplattform für ihn zu installieren. Wenn das stimmte, war es jedenfalls
geschickt gemacht. Erstens war der Claus, als der Norbert die Gruppe gründete,
gar nicht im Wahlkampf gewesen, sondern mitten in einer Legislaturperiode. Und
zweitens wurde auf der Plattform am Anfang gar nicht über Lokalpolitik
gepostet, sondern bloß alte Fotos aus der Milchau oder neue Fotos von der Umgehungsstaße, der das High End, die altersschwache Disko am Ortseingang, im vergangenen Sommer zum Opfer gefallen war. Der Claus
likte die alten Fotos, wenn er jemanden darauf erkannte und hielt sich
ansonsten zurück. Trotzdem traten viele nur seinetwegen der Gruppe bei, weil sie es als Gelegenheit ansahen, öffentlich
anzuzeigen, dass sie den Claus sozusagen „privat“ und „von früher“ kannten
und also einen Draht zu ihm hatten, was, wie viele sagten, „jedenfalls nie
schaden konnte“.
Und
plötzlich war da die Rapunzel-Sabine aufgetaucht. Wie aus dem Nichts. Die
Bohnenstangen-Sabine war von der kleinen Sabine, mit der sie nach wie vor
Weihnachts- und Urlaubspostkarten tauschte, natürlich sofort eingeladen worden.
Aber die Adresse oder Mail von der Rapunzel-Sabine hatte keine und es hatte
auch keine nach ihr auf Facebook gesucht. Jedenfalls hätte keine das zugegeben.
Trotzdem erhielt der Norbert als Administrator der Gruppe etwa ein Vierteljahr
nach ihrer Gründung eine Anfrage von der Rapunzel-Sabine und schaltete sie
sofort frei. Da sprach aus seiner Sicht nichts dagegen und auch die kleine
Sabine war ganz aufgeregt, als er ihr davon erzählte. „Schau an. Die
Rapunzel-Sabine. Die gibt´s auch noch.“, freute sie sich und schickte der
Rapunzel-Sabine sofort eine Freundschaftanfrage. Sie musste zwei Tage warten,
bis die Rapunzel-Sabine die Anfrage annahm, sagte sich aber, dass die
vielleicht nicht so oft im Netz war. Die kleine Sabine dagegen hatte in einem
Fenster immer die Facebook-Seite offen, wenn sie im Reisebüro war und ansonsten
war sie mit ihrem Smartphone online. Aber es gibt ja, sagte sich die kleine
Sabine, in „unserer Generation“ nicht wenige, die den neuen
Kommunikationsmöglichkeiten skeptisch oder sogar ablehnend gegenüberstehen. Die
kleine Sabine hielt sich viel darauf zugute, dass sie in der Hinsicht ganz
offen war. Sie postete fröhlich und ein bisschen angeberisch Urlaubsfotos von sich, dem Norbert und
den Kindern. Wo sie nicht überall gewesen waren....Es gab da eine App, mit der
man das eintragen und die Fotos verlinken konnte, damit hatte sich die kleine Sabine
mal ein ganzes Wochenende befasst und Fotos und Urlaubsorte zurück bis in die
90er Jahre gepostet und verlinkt. Jedes Mal war aufgepoppt: Sabine ist in...New
York, Shanghai, Malediven, Costa Rica, London, Paris, Vorarlberg, Rio de
Janeiro, Thailand, Neuseeland...und ihre „Freunde“ hatte geliket und gescherzt:
„Hoppst von einem Ort zum anderen?“ und sie hatte geantwortet: „Das war 1996“. Das hatte sie gemacht, bis ihre älteste Tochter, die schon nicht mehr
zu Hause wohnte, ihr eine verärgerte PM geschickt und sie gebeten hatte,
wenigstens sie nicht mehr auf den Fotos zu verlinken. „Das ist so peinlich,
Mama.“ Seitdem war die kleine Sabine ein bisschen vorsichtiger geworden,
stellte aber immer noch mal gern ein Bild von sich ein, wenn sie mit dem
Norbert einen der tollen Kurztrips unternahm, die ihnen die
Pauschalreise-Anbieter regelmäßig kostenlos oder zu günstigsten Konditionen zur
Verfügung stellten. „Super-Feriendorf-Anlage im Burgenland.“, postete sie dann
und sagte ein bisschen entschuldigend zum Norbert: „Als Werbung.“
Die
kleine Sabine klickte sich in einer ruhigen Phase im Reisebüro durch die
Facebook-Seite von der Rapunzel-Sabine. Die trug also immer noch ihren
Mädchennamen. Bei „Beziehung“ hatte sie nichts angegeben und auch sonst war die
Seite ziemlich unergiebig: Es gab nur das unscharfe Profil-Bild, sonst keine
Fotos. Als Wohnort war „Frankfurt“ eingetragen. „Gar nicht weit weg“, dachte
die kleine Sabine. Die Rapunzel-Sabine hatte 23 Freunde. Die meisten von denen
hatten Blumen- oder Tier-Bilder für ihr Profil gewählt und gaben auf der
allgemein zugänglichen Seite nichts über sich preis. Was die Rapunzel-Sabine
jetzt arbeitete oder sonst so machte, konnte die kleine Sabine auf Facebook nicht herausfinden. Die Rapunzel-Sabine hatte bloß zwei Youtube-Videos gepostet: eine Live-Aufnahme
von „Do you really want to hurt me“ von Culture Club und die See-Szene mit
Colin Firth als Mr. Darcy. Das war´s. Die kleine Sabine war enttäuscht.
Andererseits verspürte sie auch eine gewisse Schadenfreude. Die Rapunzel-Sabine
war schließlich damals unter den drei Sabinen die schönste und klügste gewesen. Aber
das hatte sich offenbar nicht ausgezahlt. Kaum Kontakte, nix Interessantes los
bei der. Oder sie gehörte zu denjenigen, die sich auf Facebook rar machten und
ihre deutschen Ressentiments dagegen pflegten. Die kleine Sabine verzog die
Lippen: Das war so provinziell, fand sie. „In anderen Ländern...“, mit dieser
Phrase begann die kleine Sabine viele Sätze und langweilte ihre Zuhörerschaft,
indem sie ihre vorgebliche Weltläufigkeit und Vorurteilsfreiheit zur Schau
stellte. Durch die trostlose Facebook-Seite von der Rapunzel-Sabine fühlte sich
die kleine Sabine sehr ermuntert, der eine persönliche Nachricht zu schicken:
„Toll, dass du da bist. Wie geht´s dir denn? Wir haben uns ja ewig (!!!) nicht
gesehen. Melde dich doch mal. Frankfurt ist gar nicht weit. Da können wir uns mal treffen. Ich würde mich sehr freuen! LG Sabine B. (jetzt B., haha,
früher D.)“
Die
Rapunzel-Sabine antwortete erstmal nicht. Aber der Norbert bekam einen Anruf
vom Claus, noch am selben Abend, an dem die Rapunzel-Sabine der Gruppe
beigetreten war. „Was ist denn das mit der Rapunzel-Sabine? Wie kommt die in
die Gruppe?“ „Wahnsinn“, freute sich der Norbert, „oder? Dass es die noch
gibt.“ Aber der Claus war schlechter Laune, der Norbert merkte es schnell an
diesem bellenden Ton: „Hast du die eingeladen?“ „Wie denn?“, fragte der Norbert
zurück, „wir haben doch ewig nix mehr von der gehört. Seit sie damals...“ „Ich
hätte auch lieber nix mehr von ihr gehört.“, sagte der Claus und legte auf. Der
Norbert legte das Handy perplex auf den Tisch. Dass der Claus so reagierte
wegen der Rapunzel-Sabine...Der kleinen Sabine, seiner Frau, erzählte er nichts
von dem Gespräch. Irgendwie hatte er ein komisches Gefühl.
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