Wenn man der Wahrheit tatsächlich treu
ergeben war – wenn die Wahrheit tatsächlich das Wichtigste war – musste man
zugeben, dass es keinen Sinn hatte.
Sara Gran: Claire DeWitt and the
Bohemian Highway
Ist
die beste Detektivin der Welt eine esoterische Soziopathin? Philip Marlowe-Typen (inklusive ihrer weiblichen
Nachfolgerinnen), Whisky-Säufer, Rotwein-Trinkerinnen, einsame
Eckensteher und melancholische Teilzeitphilosophinnen im immer schon verlorenen
Kampf gegen die Reichen, Schönen und Bösen dieser Welt – aufgepasst! Hier
kommt Claire de Witt! Sie ist die beste Detektivin der Welt und jedenfalls schwerer
gestört, hat Erfahrungen mit harten Drogen und ein superschlechtes Karma. Sie liest den Code aus Supermarktquittungen und befragt
das I Gong – Orakel, wenn ihr sonst kein Rätsel mehr einfällt. Härter geht
immer. Kaputter nimmer.
Sara
Gran erfindet in den Claire DeWitt-Romanen das Genre nicht neu, sondern treibt
es über seine Grenze. Die Suche nach dem ´clue´ wird in diesen Romanen auf die
Spitze getrieben und herumgedreht: Im Zentrum steht nicht die Auflösung des
Falles, sondern seine (Re-)Konstruktion als Zeichengewebe; überall hinterlässt
das Schicksal Spuren, deren Lesbarkeit unbestreitbar ist, aber keinen Sinn
produziert. Gran lässt DeWitt in die „Die Stadt der Toten“ (Original: Claire DeWitt and the City of the
Dead) und „Das Ende der Welt“ (Original: Claire DeWitt and the Bohemian Highway) eine totalitär überdeterminierte Welt wahrnehmen und
ausdeuten. Oder ist es genau umgekehrt, nämlich so, dass DeWitts gestörter Blick einer bedeutungslosen Welt die
Überdetermination der zwanghaften Zeicheninterpretin aufzwingt? Grans
Detektivin folgt mit ihrem Verfahren, den Fall nicht zu lösen, sondern ihn sich
selbst lesen zu lassen, ihrem
(fiktiven) toten Guru Jacques Silette, der das Kultbuch ´Detection´ geschrieben
hat: „Karma, schrieb er, ist nicht mit
einem bereits gedruckten Text zu verwechseln. Vielmehr handelt es sich um einen
Haufen Wörter, die die Autorin nach Belieben anordnen kann.“
Gran beschreibt DeWitts verwahrloste Kindheit und Jugend in Brooklyn, wo die
Freundinnen Claire, Kelly und Tracy das geheimnisvolle Buch Silettes entdecken
und zu Hobby-Detektivinnen werden. Ein verschworener Mädchenbund, der gemeinsam
die Stadt, den Sex und die Verbrechen entdeckt, bis Tracy eines Tages spurlos
verschwindet. Kelly wird von nun an dem Fall der Vermissten ihr Leben widmen,
während Claire die Stadt verlässt und in New Orleans bei Constance Darling,
einst einer Geliebten und Schülerin Silettes, in die Detektiv-Lehre geht. Alles
scheint sich ineinander zu fügen und ergibt doch keinen Sinn: der
geheimnisvolle Fund des Buches, Claires Wanderschaft, die geradezu zwingend zu
Constance führt, Constances gewaltsamer Tod und schließlich „The Case
of the Green Parrot “, der Claire zurück nach New Orleans führt. Gran
erzählt die Vorgeschichte DeWitts, ihre traumatischen Erlebnisse und gestörten
Verhältnisse nicht chronologisch, sondern lässt sie als Erinnerungen und
Indizien in dem neuen Fall eine rätselhafte Rolle spielen. Die Leserinnen
erfahren viel über die Ich-Erzählerin DeWitt, doch jede neue Information, jedes
neue Indiz löst nicht mehr Fragen, als es neue aufwirft. Auf diese Weise
reproduziert die Leserin das detektivische Verfahren des Romangeschehens
während der Lektüre. Auch hier, wie in der Romanhandlung, ereignen sich
unwahrscheinliche Zufälle, ergeben sich ungeahnte Zusammenhänge, die einer
Fügung gleichkommen und doch nie ein vollständiges, schlüssiges Bild ergeben.
DeWitt
betritt die Bühne der Kriminalliteratur im Jahr 2007, anderthalb Jahre, nach
dem der im Wirbelsturm Katrina New
Orleans verwüstete. Sie soll für den Neffen und Erben des wohlhabenden Anwalts
Vic Willing herausfinden, wie und warum dieser während des Sturmes verschwunden
ist. In „Claire DeWitt and the City of
the Dead“ ermittelt die angeschlagene Detektivin, die gerade einen
Nervenzusammenbruch hinter sich hat, in der verwüsteten Stadt unter
Drogendealern und Obdachlosen, ebenso wie unter Immobilienhaien und den alten, besitzenden
Dynastien. Gran zeichnet das Bild einer korrupten, desorganisierten und
zersetzten Gesellschaft. Dabei setzt sie jedoch nicht auf Schwarz-Weiß-Malerei.
Vic Willing, wird sich zeigen, war ein widerwärtiger, skrupelloser Mensch und
verwandelte sich zuletzt in einen furchtlosen Retter. Gegenüber einem jungen
Drogendealer, der sie umbringen will, empfindet DeWitt eine tiefe Zuneigung,
die sie aber nur bedingt zeigen kann. Die beste Detektivin der Welt löst den
Fall, indem sie sich auf ihre Träume, ihr Orakel, ihre Eingebungen verlässt.
Alles dient ihr als „clue“ und sie hält sich an Silettes Rat: „Follow the clues.“ Und so wird auch,
ohne dass Gran es auszuschreiben braucht, klar, was DeWitt immer wieder an den
Rande des Zusammenbruchs treibt: Der alles zur Spur werden kann, der zu folgen
ist, die bleibt notwendig rat- und rastlos. Auch daher kann es kein Happy End
in New Orleans geben: Der soziale Ruin des „amerikanischen Traums“, der sich im
Trauma Katrina offenbart hat, geht in Grans Roman einher mit dem Trauma einer
Frau, die, weil sie ALLES deuten muss, unfähig wird, sich verständlich zu
machen. Die Suche nach der Wahrheit wird als gefährlichste Sucht gezeigt: „Because this, for better or worse, is
exactly where the truth lies – at the intersection, in the neighborhodd of all
we have tried to forget.“
Ganz
nebenbei schreibt Sara Gran ihre Romane in einer nicht nur
geschlechtergerechten, sondern auch nicht-rassistischen Sprache (was allerdings
nur im englischen Original ganz erkennbar ist). Erst im Vergleich mit dem
üblichen Sprachgebrauch in Fiction und Non-Fiction wird deutlich, wie
außergewöhnlich das immer noch ist. Wenn DeWitt einen Mann an der Bar
interviewt, erzählt sie zum Beispiel, dass sie mit einen weißen Mann mittleren
Alters spricht. In den allermeisten Texten, die ich kenne, bliebe dieser Hinweis
aus. Die Hautfarbe würde ausschließlich Erwähnungen finden, wenn es sich um
einen Nicht-Weißen handelte. Bei Gran werden dagegen ganz selbstverständlich
auch die Weißen „markiert“. Rassistische Privilegien werden auch explizit thematisiert: „In the most cities I wouldn´t have worried
about it to much – we white ladies are pretty safe if we stick to our own
neighborhoods, the beneficiaries of generations of racism whether we want it or
not. No one is eager for the problems that come with shooting someone who might
make the TV news.“ Wenn Gran DeWItt aus Silettes Buch zitieren lässt, ist
geschlechtsneutral von Klienten die Rede: „The client initiates the descent
into the mystery, but after that she is no longer needed; the detective
proceeds of his own accord.“ Got it? An dieser Stelle werden die Klienten, von
denen zunächst in der Mehrzahl die Rede war, ganz selbstverständlich im
folgenden Satz als „she“ bezeichnet. Genauso wird „the detective“ hier als „he“
bezeichnet, während an einer anderen Stelle – ebenso selbstverständlich - mit
„she“ fortgesetzt wird. Bei Gran ist die Verallgemeinerung nicht notwendig
männlich, sondern kann weiblich oder männlich sein.*
Der
zweite Roman mit Claire DeWitt als Protagonistin heißt im englischen Original „Claire DeWitt and the Bohemian Highway“
(viel schöner als der deutsche Titel: „Das Ende der Welt“). DeWitt ist zurück
in San Francisco. Ihr Ex-Geliebter
wird ermordet. Im Laufe der Ermittlungen verliert DeWitt zunehmend die
Kontrolle über sich und den Fall. Sie deliriert im Drogenrausch und verletzt
sich selbst. Erinnerungen, die sie sucht und fürchtet, plagen sie. Sie findet
heraus, dass sie die große Liebe von Paul, dem Ermordeten war. Sie versucht
Pauls Witwe, die sie engagiert hat, beizustehen, obwohl sie sich in deren
Gegenwart unwohl fühlt. Ihr Unvermögen zu kommunizieren, wird immer
offensichtlicher, je mehr sie nachhakt. Sie weiß, dass sie einen Teil der
Schuld an Pauls verfehltem Leben trägt. Aber: Claire DeWitt macht keine Fehler.
Sie ist die beste Detektivin der Welt. Sie ist ein Fehler, der etwas bedeutet:
„Liebe. Mord. Ein gebrochenes Herz. Der
Professor mit dem Leuchter im Salon. Der Detektiv mit dem Revolver in der Bar.
Backstage der Gitarrist mit dem Plektron.....Endlich begegneten wir einander.“
Die Klischees und der Knacks. Indizien und Leseanleitung sind von Anfang an da:
„Der Auftraggeber kennt des Rätsels
Lösung schon, schrieb Jacques Silette, aber er verleugnet sein Wissen. Er
engagiert die Detektivin nicht, um die Lösung zu finden. Er engagiert die Detektivin,
um zu beweisen, dass es keine Lösung gibt. Was natürlich in gleichem Maß für
die Detektivin zutrifft.“ Das muss jetzt nur herausgefunden werden, ein
schmerzhafter Weg, denn: Es gibt keine Lösung. Nicht im Kali Yuga: „Einer
religiösen Überlieferung zufolge befinden wir uns im Kali Yuga, einer Epoche,
die zwischen hunderttausend und eine Million Jahre dauert, je nachdem, wen man
fragt. In den anderen Yugas waren beziehungsweise werden wir attraktiver,
freundlicher, größer, außerdem bringen wir einander nicht mehr um. Der Himmel
ist klar und die Sonne scheint. Im Kali Yuga hingegen sind alle Tugenden der
Sünde gewichen. Es gibt keine guten Bücher mehr. Jeder heiratet die falsche Person
und keine ist zufrieden mit dem, was sie hat. (...) Der Dämon Kali liebt das
Gold und die Schlachthöfe. Der liebt das Glückspiel und zerstört mit Genuss. In
diesem Yuga bleiben wir unwissend, bis es zu spät ist. Und ausgerechnet die
Menschen, die wir am meisten lieben, verschweigen uns die Wahrheit. Wir taumeln
blind durch die Wirklichkeit, mit trüben Augen und tauben Ohren. Eines Tages,
in einem anderen Yuga, werden wir aufwachen und erkennen, was wir getan haben,
und dann werden wir einen Strom von Tränen vergießen und uns und unsere
Dummheit beweinen.“ Das steht ziemlich am Anfang. Claire tauft den Fall
ihres ermordeten Liebhabers: „Der Fall des
Kali Yuga.“ (Deutet das, in your face, Geschichtsphilosophinnen!)
Claire
DeWItt ist die beste Detektivin der Welt. Super-Woman on the verge of a
nerveous breakdown. Es geht nicht um Gerechtigkeit. Das ist etwas, lässt Gran
ihre Detektivin schreiben, „für Gerichte
und Richter. Silettianer machen sich nur Gedanken um die Wahrheit.“ Diese
Wahrheits-Sucher sind eine furchtbare, selbstzerstörerische Sekte. Dabei hatte
ihnen schon Guru Silette doch verkündet: „Es
ist die Mühe nicht wert.“ Das Problem ist aber: Silettianer können keine
Kosten-Nutzen-Rechnungen aufstellen. Gran nervt viele Leserinnen (schauen Sie
mal auf Amazon bei den Kommentaren nach.) Für mich dagegen steht fest: Das sind
die besten Kriminalromane der Welt. "NO ONE IS INNOCENT," schrieb Silette. Bleib uns auf der Spur, Claire DeWitt.
SaraGran: Claire DeWitt and the City of the Dead, Kindle Edition (englisch), € 2,78
SaraGran: Claire DeWitt and the Bohemian Highway, Kindle Edition (englisch), € 3,90
*Wie
wichtig ein solcher Sprachgebrauch ist, weil nur dadurch die Vorstellungswelt
erweitert wird (entgegen der irrigen – oder gar verlogenen – Behauptung in der
männlichen Form sei die weibliche „mitgedacht“), konnte ich in den
vergangenen Wochen selbst wieder einmal testen, als ich das am Anfang dieses Posts stehende Rätsel verschiedenen „Klienten“ aufgab. Egal, ob männlich oder
weiblich – kein/e einzige/r kam spontan auf die Lösung.
Die beste Detektivin der Welt - das muss ich sofort überprüfen.
AntwortenLöschenSie nennt sich selbst so. Als fiktive Figur. Als Spurensucher und -deuterinnen sind wir aber notwendig alle fiktiv, oder?
LöschenUnbedingte Empfehlung! :-)