Sonntag, 8. Juni 2014

"NO ONE IS INNOCENT". Die besten Kriminalromane der Welt


Wenn man der Wahrheit tatsächlich treu ergeben war – wenn die Wahrheit tatsächlich das Wichtigste war – musste man zugeben, dass es keinen Sinn hatte.

Sara Gran: Claire DeWitt and the Bohemian Highway




Ist die beste Detektivin der Welt eine esoterische Soziopathin? Philip Marlowe-Typen (inklusive ihrer weiblichen Nachfolgerinnen), Whisky-Säufer,  Rotwein-Trinkerinnen, einsame Eckensteher und melancholische Teilzeitphilosophinnen im immer schon verlorenen Kampf gegen die Reichen, Schönen und Bösen dieser Welt – aufgepasst! Hier kommt Claire de Witt! Sie ist die beste Detektivin der Welt und jedenfalls schwerer gestört, hat Erfahrungen  mit harten Drogen und  ein superschlechtes Karma. Sie liest den Code aus Supermarktquittungen und befragt das I Gong – Orakel, wenn ihr sonst kein Rätsel mehr einfällt. Härter geht immer. Kaputter nimmer.

Sara Gran erfindet in den Claire DeWitt-Romanen das Genre nicht neu, sondern treibt es über seine Grenze. Die Suche nach dem ´clue´ wird in diesen Romanen auf die Spitze getrieben und herumgedreht: Im Zentrum steht nicht die Auflösung des Falles, sondern seine (Re-)Konstruktion als Zeichengewebe; überall hinterlässt das Schicksal Spuren, deren Lesbarkeit unbestreitbar ist, aber keinen Sinn produziert. Gran lässt DeWitt in die „Die Stadt der Toten“ (Original: Claire DeWitt and the City of the Dead) und „Das Ende der Welt“ (Original: Claire DeWitt and the Bohemian Highway)  eine totalitär überdeterminierte Welt wahrnehmen und ausdeuten. Oder ist es genau umgekehrt, nämlich so, dass DeWitts gestörter Blick einer bedeutungslosen Welt die Überdetermination der zwanghaften Zeicheninterpretin aufzwingt? Grans Detektivin folgt mit ihrem Verfahren, den Fall nicht zu lösen, sondern ihn sich selbst lesen zu lassen,  ihrem (fiktiven) toten Guru Jacques Silette, der das Kultbuch ´Detection´ geschrieben hat: „Karma, schrieb er, ist nicht mit einem bereits gedruckten Text zu verwechseln. Vielmehr handelt es sich um einen Haufen Wörter, die die Autorin nach Belieben anordnen kann.“

Gran  beschreibt  DeWitts  verwahrloste Kindheit und Jugend in Brooklyn, wo die Freundinnen Claire, Kelly und Tracy das geheimnisvolle Buch Silettes entdecken und zu Hobby-Detektivinnen werden. Ein verschworener Mädchenbund, der gemeinsam die Stadt, den Sex und die Verbrechen entdeckt, bis Tracy eines Tages spurlos verschwindet. Kelly wird von nun an dem Fall der Vermissten ihr Leben widmen, während Claire die Stadt verlässt und in New Orleans bei Constance Darling, einst einer Geliebten und Schülerin Silettes, in die Detektiv-Lehre geht. Alles scheint sich ineinander zu fügen und ergibt doch keinen Sinn: der geheimnisvolle Fund des Buches, Claires Wanderschaft, die geradezu zwingend zu Constance führt, Constances gewaltsamer Tod und  schließlich „The Case of the Green Parrot “, der Claire zurück nach New Orleans führt. Gran erzählt die Vorgeschichte DeWitts, ihre traumatischen Erlebnisse und gestörten Verhältnisse nicht chronologisch, sondern lässt sie als Erinnerungen und Indizien in dem neuen Fall eine rätselhafte Rolle spielen. Die Leserinnen erfahren viel über die Ich-Erzählerin DeWitt, doch jede neue Information, jedes neue Indiz löst nicht mehr Fragen, als es neue aufwirft. Auf diese Weise reproduziert die Leserin das detektivische Verfahren des Romangeschehens während der Lektüre. Auch hier, wie in der Romanhandlung, ereignen sich unwahrscheinliche Zufälle, ergeben sich ungeahnte Zusammenhänge, die einer Fügung gleichkommen und doch nie ein vollständiges, schlüssiges Bild ergeben.

DeWitt betritt die Bühne der Kriminalliteratur im Jahr 2007, anderthalb Jahre, nach dem der  im Wirbelsturm Katrina New Orleans verwüstete. Sie soll für den Neffen und Erben des wohlhabenden Anwalts Vic Willing herausfinden, wie und warum dieser während des Sturmes verschwunden ist. In „Claire DeWitt and the City of the Dead“ ermittelt die angeschlagene Detektivin, die gerade einen Nervenzusammenbruch hinter sich hat, in der verwüsteten Stadt unter Drogendealern und Obdachlosen, ebenso wie unter Immobilienhaien und den alten, besitzenden Dynastien. Gran zeichnet das Bild einer korrupten, desorganisierten und zersetzten Gesellschaft. Dabei setzt sie jedoch nicht auf Schwarz-Weiß-Malerei. Vic Willing, wird sich zeigen, war ein widerwärtiger, skrupelloser Mensch und verwandelte sich zuletzt in einen furchtlosen Retter. Gegenüber einem jungen Drogendealer, der sie umbringen will, empfindet DeWitt eine tiefe Zuneigung, die sie aber nur bedingt zeigen kann. Die beste Detektivin der Welt löst den Fall, indem sie sich auf ihre Träume, ihr Orakel, ihre Eingebungen verlässt. Alles dient ihr als „clue“ und sie hält sich an Silettes Rat: „Follow the clues.“ Und so wird auch, ohne dass Gran es auszuschreiben braucht, klar, was DeWitt immer wieder an den Rande des Zusammenbruchs treibt: Der alles zur Spur werden kann, der zu folgen ist, die bleibt notwendig rat- und rastlos. Auch daher kann es kein Happy End in New Orleans geben: Der soziale Ruin des „amerikanischen Traums“, der sich im Trauma Katrina offenbart hat, geht in Grans Roman einher mit dem Trauma einer Frau, die, weil sie ALLES deuten muss, unfähig wird, sich verständlich zu machen. Die Suche nach der Wahrheit wird als gefährlichste Sucht gezeigt: „Because this, for better or worse, is exactly where the truth lies – at the intersection, in the neighborhodd of all we have tried to forget.“

Ganz nebenbei schreibt Sara Gran ihre Romane in einer nicht nur geschlechtergerechten, sondern auch nicht-rassistischen Sprache (was allerdings nur im englischen Original ganz erkennbar ist). Erst im Vergleich mit dem üblichen Sprachgebrauch in Fiction und Non-Fiction wird deutlich, wie außergewöhnlich das immer noch ist. Wenn DeWitt einen Mann an der Bar interviewt, erzählt sie zum Beispiel, dass sie mit einen weißen Mann mittleren Alters spricht. In den allermeisten Texten, die ich kenne, bliebe dieser Hinweis aus. Die Hautfarbe würde ausschließlich Erwähnungen finden, wenn es sich um einen Nicht-Weißen handelte. Bei Gran werden dagegen ganz selbstverständlich auch die Weißen „markiert“.  Rassistische Privilegien werden auch explizit thematisiert: „In the most cities I wouldn´t have worried about it to much – we white ladies are pretty safe if we stick to our own neighborhoods, the beneficiaries of generations of racism whether we want it or not. No one is eager for the problems that come with shooting someone who might make the TV news.“ Wenn Gran DeWItt aus Silettes Buch zitieren lässt, ist geschlechtsneutral von Klienten die Rede: „The client initiates the descent into the mystery, but after that she is no longer needed; the detective proceeds of his own accord.“ Got it? An dieser Stelle werden die Klienten, von denen zunächst in der Mehrzahl die Rede war, ganz selbstverständlich im folgenden Satz als „she“ bezeichnet. Genauso wird „the detective“ hier als „he“ bezeichnet, während an einer anderen Stelle – ebenso selbstverständlich - mit „she“ fortgesetzt wird. Bei Gran ist die Verallgemeinerung nicht notwendig männlich, sondern kann weiblich oder männlich sein.*

Der zweite Roman mit Claire DeWitt als Protagonistin heißt im englischen Original „Claire DeWitt and the Bohemian Highway“ (viel schöner als der deutsche Titel: „Das Ende der Welt“). DeWitt ist zurück in San Francisco. Ihr Ex-Geliebter wird ermordet. Im Laufe der Ermittlungen verliert DeWitt zunehmend die Kontrolle über sich und den Fall. Sie deliriert im Drogenrausch und verletzt sich selbst. Erinnerungen, die sie sucht und fürchtet, plagen sie. Sie findet heraus, dass sie die große Liebe von Paul, dem Ermordeten war. Sie versucht Pauls Witwe, die sie engagiert hat, beizustehen, obwohl sie sich in deren Gegenwart unwohl fühlt. Ihr Unvermögen zu kommunizieren, wird immer offensichtlicher, je mehr sie nachhakt. Sie weiß, dass sie einen Teil der Schuld an Pauls verfehltem Leben trägt. Aber: Claire DeWitt macht keine Fehler. Sie ist die beste Detektivin der Welt. Sie ist ein Fehler, der etwas bedeutet: „Liebe. Mord. Ein gebrochenes Herz. Der Professor mit dem Leuchter im Salon. Der Detektiv mit dem Revolver in der Bar. Backstage der Gitarrist mit dem Plektron.....Endlich begegneten wir einander.“ Die Klischees und der Knacks. Indizien und Leseanleitung sind von Anfang an da: „Der Auftraggeber kennt des Rätsels Lösung schon, schrieb Jacques Silette, aber er verleugnet sein Wissen. Er engagiert die Detektivin nicht, um die Lösung zu finden. Er engagiert die Detektivin, um zu beweisen, dass es keine Lösung gibt. Was natürlich in gleichem Maß für die Detektivin zutrifft.“ Das muss jetzt nur herausgefunden werden, ein schmerzhafter Weg, denn: Es gibt keine Lösung. Nicht  im Kali Yuga: „Einer religiösen Überlieferung zufolge befinden wir uns im Kali Yuga, einer Epoche, die zwischen hunderttausend und eine Million Jahre dauert, je nachdem, wen man fragt. In den anderen Yugas waren beziehungsweise werden wir attraktiver, freundlicher, größer, außerdem bringen wir einander nicht mehr um. Der Himmel ist klar und die Sonne scheint. Im Kali Yuga hingegen sind alle Tugenden der Sünde gewichen. Es gibt keine guten Bücher mehr. Jeder heiratet die falsche Person und keine ist zufrieden mit dem, was sie hat. (...) Der Dämon Kali liebt das Gold und die Schlachthöfe. Der liebt das Glückspiel und zerstört mit Genuss. In diesem Yuga bleiben wir unwissend, bis es zu spät ist. Und ausgerechnet die Menschen, die wir am meisten lieben, verschweigen uns die Wahrheit. Wir taumeln blind durch die Wirklichkeit, mit trüben Augen und tauben Ohren. Eines Tages, in einem anderen Yuga, werden wir aufwachen und erkennen, was wir getan haben, und dann werden wir einen Strom von Tränen vergießen und uns und unsere Dummheit beweinen.“ Das steht ziemlich am Anfang. Claire tauft den Fall ihres ermordeten Liebhabers: „Der Fall des Kali Yuga.“ (Deutet das, in your face, Geschichtsphilosophinnen!)

Claire DeWItt ist die beste Detektivin der Welt. Super-Woman on the verge of a nerveous breakdown. Es geht nicht um Gerechtigkeit. Das ist etwas, lässt Gran ihre Detektivin schreiben, „für Gerichte und Richter. Silettianer machen sich nur Gedanken um die Wahrheit.“ Diese Wahrheits-Sucher sind eine furchtbare, selbstzerstörerische Sekte. Dabei hatte ihnen schon Guru Silette doch verkündet: „Es ist die Mühe nicht wert.“ Das Problem ist aber: Silettianer können keine Kosten-Nutzen-Rechnungen aufstellen. Gran nervt viele Leserinnen (schauen Sie mal auf Amazon bei den Kommentaren nach.) Für mich dagegen steht fest: Das sind die besten Kriminalromane der Welt. "NO ONE IS INNOCENT," schrieb Silette. Bleib uns auf der Spur, Claire DeWitt.

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*Wie wichtig ein solcher Sprachgebrauch ist, weil nur dadurch die Vorstellungswelt erweitert wird (entgegen der irrigen – oder gar verlogenen – Behauptung in der männlichen Form sei die weibliche „mitgedacht“), konnte ich in den vergangenen Wochen selbst wieder einmal testen, als ich das am Anfang dieses Posts stehende Rätsel verschiedenen „Klienten“ aufgab. Egal, ob männlich oder weiblich – kein/e einzige/r kam spontan auf die Lösung.



2 Kommentare:

  1. Die beste Detektivin der Welt - das muss ich sofort überprüfen.

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    1. Sie nennt sich selbst so. Als fiktive Figur. Als Spurensucher und -deuterinnen sind wir aber notwendig alle fiktiv, oder?

      Unbedingte Empfehlung! :-)

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