Ein Beitrag von Morel
Ellar Coltrane in Richard Linklaters: BOYHOOD |
In
alten Hollywoodfilmen gab es eine mir sehr liebe Konvention, das Vergehen von
Zeit darzustellen. Eben geht etwas zu Ende, vielleicht eine Liebe oder der
Krieg, dann sehen wir einen Abrisskalender und der Wind oder andere Kräfte
beginnen die einzelnen Kalenderblätter abzureißen. Und ein nächstes Kapitel im
Film unseres Lebens beginnt. Dagegen klingelt in unserem Alltag kein Glöckchen,
wenn etwas Neues beginnt - erst im Nachhinein erkennen wir die entscheidenden
Momente unseres Lebens.
In
Richard Linklaters neuem Film Boyhood
gibt es keine Abrisskalender. Obwohl hier das Heranwachsen eines Jungen zu
einem Mann in mehreren Abschnitten erzählt wird, zeichnet den Film eine
magische Kontinuität aus, die auf das Wagnis seiner Entstehung zurückzuführen
ist. Linklater hat 12 Jahre mit den selben Schauspielerinnen und Schauspielern
jedes Jahr einen Teil seiner Geschichte aufgenommen. Die Kamera zeichnet, wie
im experimentellen US-Kino, Effekte auf, die nicht gespielt werden können: wie
Körper und Gesichter sich unter dem Einfluss von Zeit verändern. Doch geht es
nicht um Dokumentation. Linklater will erzählen, nicht nur zeigen.
Faszinierend
(und für Eltern sogar erschütternd) ist es in so kurzer Zeit das Älter werden
von Kindern beobachten zu dürfen. Neben dem von Ellar Coltrane gespielten Mason
sehen wir auch der von Linklaters Tochter Lorelei gespielt Samantha dabei zu,
wie sie Jahr für Jahr ihren Charakter entwickelt. Ihre geschiedenen Eltern,
gespielt von Ethan Hawke und der zu lange nicht im Kino gesehenen Patricia
Arquette, nehmen dabei nur indirekt Einfluss. Die Kinder und das unterscheidet Boyhood etwa von Truffauts Filmen aus
einer anderen Zeit stehen hier, wie die meisten Kinder unserer Tage, von der
Herausforderung ihren eigenen Weg nicht gegen Widerstände zu finden, sondern
unter einer Vielzahl von Möglichkeiten auszuwählen. Gegen alle Versuche von
Erziehung als Prägung ist Linklater zutiefst skeptisch. Es gibt sie auch in
diesem Film, die gutmeinenden Lehrer und die autoritären Väter, die Regeln
durchsetzen möchten, an die sie sich selber nicht halten. Während er älter
wird, lässt Mason das alles hinter sich zurück. Die von seiner Mutter, einer
Lehrerin, vor Collegestudenten kritisierten Lehren des Behaviorismus dementiert
er in seinem Zögern, seiner Verschlossenheit und dann dem Mut zu Neuem. Der Film ist ein optimistisches Dementi
jeder Form von Determinismus. Am Ende ist die überforderte Liebe der Eltern zu
ihren Kindern, das einzige, was wirklich zählt. Sie versuchen beide mit Mason
und seiner Schwester zu reden, aber die eigentlichen Botschaften lassen sich
nicht aussprechen. Als Mason Sr. Mason Jr. zum 16. Geburtstag mit einer selbst
zusammengestellten Compilation der besten Songs von den Soloalben der vier
ehemaligen Beatles aus den 70ern beschenkt , ist das ein hilfloser Versuch den
Schmerz der Trennung zu dementieren. Aber die Familie bleibt ebenso gespalten
und unvollkommen, wie die Beatles nicht mehr zusammenkamen. Nur ist die
Unvollkommenheit zwar ein Unglück, aber kein Trauma.
Der
Film erzählt in Szenen, kleinen Fragmenten des Lebens, in denen selten etwas
Dramatisches passiert von einer behüteten Mittelschichtskindheit in Texas. Es
ist immer nur ein Schnitt, der zwischen den Jahren liegt und trotz seiner Dauer
von fast drei Stunden verfliegt der Film. Eigentlich sind es drei Filme. Im
ersten wird die Geschichte einer gewöhnlichen, linksliberalen Familie im Texas
der Nullerjahre unseres Jahrhunderts erzählt. Die scheiternden Versuche, der
Mutter, eine neue Familie zu gründen, die Freuden der Kindheit, die Ängste der
Pubertät, das Glück der Freiheit, seinen eigenen Weg gehen zu dürfen. Der
zweite Film handelt davon, wie aus einem Jungen ein Mann wird. Schon in einer
frühen Szene sehen wir Mason mit einem Freund die Frauen in Wäschekatalogen
vergleichen. Der Sexismus ist in diesem Milieu immer (noch) eine Möglichkeit
des Weltzugangs. Ältere Mitschüler und Verwandte geben jungen Männern immer
gerne Ratschläge, wie sie mit Frauen umzuspringen haben. Aber auch hier glaubt
Linklater nicht an Determinismus. Mason wählt etwas anderes, die Häme über
seine blau lackierten Fingernägel ignoriert er noch nicht einmal. Wie seine
Mutter und wie sein Vater zeichnet ihn etwas Störrisches aus, das sich nicht
ausspricht, sondern nur zeigt. Der Mann, zu dem er heranwächst, will mehr als
Sex von einer Frau. Der dritte Film ist eine Philosophie der Zeit. Manche Künstler
glauben an Orte, andere eher an Momente. Wer viel reist, häufig umzieht, um
neue Erfahrungen zu machen, gehört zur ersten Sorte. Wer sich viel erinnert,
eher zur zweiten. In einem Interview zu Boyhood
sagte Linklater, der Film sollte sich anfühlen wie eine Erinnerung. Aber wie fühlt
sich eine Erinnerung an? Boyhood
sucht Momente der Dauer in einem Leben, das sich unaufhörlich verändert:
Verlust, Schrecken, Glück, alles dauert nur einen Moment und wird vom nächsten
abgelöst. Nur als erinnerte bleiben die Momente erhalten. Die Erwachsenen in
dem Film erfasst daher manchmal die Melancholie, für die Kinder und
Jugendlichen ist diese Unstetigkeit
aber ein Glück. Und mit Boyhood
hat Richard Linklater beides gefilmt.
***
Der schönste und beste Film des Jahres bisher war Richard Linklaters "Boyhood" für mich. Wir, Morel und ich, haben ihn als Eltern gesehen. Ich hoffe unsere Söhne, Amazing (20) und Mastermind (18) werden ihn sich auch noch einmal anschauen, gemeinsam vielleicht, und uns von ihren Erfahrungen damit erzählen. Wir sind Eltern von Jungen. Weiße, liberale Mittelschicht. Nicht US-amerikanisch, allerdings. (Keine Opas, die zum Geburtstag Gewehre schenken, zum Beispiel.) Viel Identifikationspotential, deshalb. Die Kinder, die wir beim Erwachsenwerden begleiteten, mussten sich - wie Mason Jr. - mit Erwartungen an Männlichkeit auseinandersetzen. Ein weiblich wahrgenommenes Menschenkind erlebte in unserem Umfeld etwas anderes. In anderen Umfeldern werden auch männliche Kinder anders erwachsen. Linklaters Film wird kein bisschen weniger gut durch die Einsicht, dass er nichts zeigt, was allgemeingültig ist.
***
"Boyhood" spielt in Texas. Verdammt großes Land. Gewaltige Differenzen, die aus der Ferne nicht sichtbar werden: Houston, Austin, Amarillo. Heute zufällig im Radio: Ein Feature über Robert Ellis, einen jungen Singer-Songwriter, den es von Houston nach Nashville zog. South-Nashville. Gefällt mir, was der macht:
Steady as the rising sun
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