Samstag, 19. September 2015

SPÄTVORSTELLUNG. Andere Orte - eine Ausstellung zum Wechselspiel von Filmen und Videospielen

Ein Beitrag von Morel



Im Vorraum zur Ausstellung des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt über die Wechselbeziehung von Filmen und Videospielen sind in einer Dauerschleife auf einem Monitor Arbeiten des schottischen Videokünstlers Andy Kelly zu sehen. Other Places zeigt: leere Städte, romantische Natur, Mond über Inseln, apokalyptische Ruinen. Die Kamera bewegt sich durch diese Räume, langsam schreitend, begleitet von Musik, die etwas anzukündigen scheint, was nie eintritt. Es handelt sich um Aufnahmen, die Videospielen wie Grand Theft Auto V mit Hilfe spezieller Aufzeichnungsprogramme entnommen wurden. Kulissen für Filme, die nie gedreht wurden. Es ist das was übrig bleibt, wenn man dem Video das Spiel entzieht.

Chocks

Im 20. Jahrhundert gab es immer wieder Hoffnungen auf die emanzipatorische, revolutionäre Kraft der Massenmedien. In seinem berühmten Aufsatz zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit hebt Walter Benjamin die taktile Qualität des Films im Verhältnis zu Gemälden hervor: "Das Gemälde lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie ins Auge gefasst, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden...In der Tat wird der Assoziationsablauf dessen, der diese Bilder betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will." Ironischerweise passen diese Worte einige Jahrzehnte und ausgebliebene Revolutionen später immer noch gut auf das neueste Mitglied im Medienverbund. Denn wo könnte man seine Geistesgegenwart besser testen (dass er ästhetische Leistungen testierbar mache, für Benjamin ist das eine weitere Qualität des Films) als an einer Spielkonsole. Während das Filmpublikum nur erschrickt, muss im Spiel sofort reagiert werden, sonst ist es aus. Dagegen kann der Film, vielleicht durch Gewöhnung an seine Sprache, inzwischen auch so kontemplativ wirken wie Kellys Other Places.

Die Ausstellung, aber mehr noch der sie begleitende, hervorragende Katalog werfen ästhetische Fragen auf,  die in Deutschland zumindest nicht allzu häufig an Videospiele gestellt werden (auch wenn sie als Wirtschaftsfaktor inzwischen ernst genommen werden). Das Museum of Modern Art in New York hat 2012 die ersten Spiele in seine Sammlung aufgenommen. In einem kleinen Rundgang, gestaltet in Anlehnung an den Kultfilm Tron von 1982, können klassische Videospiele ausprobiert und mit Filmausschnitten verglichen werden. Wer aber die von den Ausstellungsmachern Andreas Rauscher und Wolfger Stumpfer durchaus intendierten Fragestellungen nachvollziehen will, sollte zuvor den umfangreichen Katalog studieren (insbesondere, wenn er wie ich Kinosäle besser kennt als Spielkonsolen).

Filmreif?

Britta Neitzel erinnert im ersten Beitrag zurecht an den Beginn des Kinos als Jahrmarktsattraktion. Es konnte diesen Ruf, trotz der zahlreichen Hochkultur-Referenzen insbesondere in den deutschen Stummfilmen, nie ganz los werden. Der Grund hierfür ist natürlich die bürgerliche Verortung der Kunst in Sphären jenseits von ökonomischer Verwertung, während Film und automatisierte Spiele eine gemeinsame Entstehungsgeschichte in Zusammenhang mit der Industrialisierung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen aufweisen: "Mechanisierung von Bewegungsabläufen, Entstehung von Freizeit und kommerzialisierten Unterhaltungsangeboten" (soweit Neitzel). In vielen Beiträgen des Katalogs und den hochinteressanten Interviews Rauschers mit Videospiel- und Filmregisseuren geht es nun um die Abgrenzung der Games von den ästhetischen Standards der klassischen Filmgeschichte (Spielberg, Hitchcock etc.). "Ich wäre so gerne wie du" heißt der Beitrag von Petra Fröhlich über die Sehnsucht nach "filmreifen" Spielen. Diese wird dann im letzten Beitrag von Steven Poole recht harsch zurückgewiesen - es habe keinen Sinn auf den "Citizen Kane" der Videospiele zu warten, da der Preis für das "Filmische" von Spielen ihre ästhetische Verkommenheit sei, der Bruch mit ihrer eigenen Ästhetik. 


Am aufschlussreichsten mit Blick auf die Ästhetik von Videospielen sind für mich Rauschers Ausführungen zur "ludischen Leinwand". Für ihn ist die Mise-en-Scéne das entscheidende Verbindungselement zwischen Film und Videospiel. Der Begriff stammt vom französischen Filmtheoretiker André Bazin und wendet sich gegen das von Benjamin gefeierte Kino der Montage. Stattdessen soll der Film eine Wirklichkeitsillusion erzeugen - durch lange, gegliederte Einstellungen, die das Drama ins Filmbild versetzen. Berühmteste Referenzszene hierzu, natürlich aus Citizen Kane: die Kamera fährt durch Kanes Lagerraum, vorbei an allen Kunstschätzen Alteuropas um schließlich das berühmte Wort Rosebud (das letzte Wort des sterbenden Kanes) auf einem Schlitten zu entdecken. Das "Geheimnis" Kanes kann also nur vom Publikum im Kinosaal enthüllt werden - den Protagonisten des Films entgeht es, da der Schlitten im Moment seiner Entdeckung durch uns ins Feuer geworfen wird. Der Begriff "narrative Architektur" (Henry Jenkins) passt auch auf diese letzte Szene eines berühmten Films. Ein weiterer Aspekt von Videospielen knüpft implizit an die Diskussion um Montage und Mise-en-Scéne an: während die meisten Videospiele bestimmte Reaktionen voraussetzen, damit es weitergeht, eröffnen neuere Games Freiraum für moralische und ästhetische Entscheidungen. In einer Führung, an der wir teilnehmen konnten, erwähnte Rauscher Kriegsspiele, in denen die Spieler vor Dilemmas gestellt wurden, die sie ohne ethische Grenzverletzungen nicht lösen konnten. Gegen die Manipulation (durch Montage im Film, durch Reiz-Reaktionsschema im Game) also das freie Schweifen durch narrative Architekturen und unentschiedene Situationen. Vielleicht ist das nur eine Möglichkeit für die Weiterentwicklung von Videospielen - und wahrscheinlich für männliche Nutzer (siehe den Beitrag von Nina Kiel zu Stereotypen im Video- und Computerspiel) die uninteressanteste. Dem Filmmuseum ist für eine Ausstellung zu danken, die relevante Fragen aufwirft.

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