Samstag, 18. Februar 2017

SOLIDARITÄT #freedenizyücel

Am Arbeitsplatz werden Galgen auf die Tische für sogenannte "Fetö"-Mitglieder und HDP-Anhänger gemalt und Herzchen für Erdogan. Das gibt nach meinem Eindruck durchaus die Mehrheitsmeinung der Türkischstämmigen in meinem Umfeld wieder. Die Gegner des türkischen Präsidenten sind dagegen (zumindest analog) sehr still. Ich rege mich auf und drohe mit einer Anzeige (die höchstwahrscheinlich im Sande verlaufen würde?). Mich ekelt vor diesen Leuten, die immer ihr Recht auf Meinungsfreiheit hierzulande einklagen (Service-Tipp: "Meinungsfreiheit" heißt nicht, das jede deine Meinung gutheißen und unwidersprochen stehen lassen muss!), aber die staatliche Unterdrückung in der Türkei  vehement verteidigen. 

Auf der Heimfahrt von der Arbeit dann die Nachricht, dass Deniz Yücel, Korrespondent der "Welt" in der Türkei, sich in Polizeigewahrsam befindet. Seit 2 Monaten habe ich das befürchtet, nachdem Ende Dezember eine Erdogan-nahe Zeitung geschrieben hatte, dass gegen Yücel ein Haftbefehl vorliege. Offensichtlich sind Bemühungen, den Bundesbürger Yücel, der - wie man in diesem Fall sagen muss: bedauerlicherweise - auch noch einen türkischen Pass besitzt, sicher nach Hause zu bringen, gescheitert. 

Heute wird der Verwalter der Autokratie in der Türkei, Ministerpräsident Yildirim, in Oberhausen für die Abschaffung der Gewaltenteilung - voraussichtlich unter dem Beifall Tausender Deutschtürken - werben. Der Rechtsstaat, der die BRD ist, kann das nicht verbieten. Vielleicht hätte die deutsche Regierung aber Herrn Yilidirim darauf hinweisen können, dass ihm als Privatmann (als der er in Oberhausen, uneingeladen durch die Regierung dieses Landes, auftritt) in Deutschland eine Vernehmung zur Spionage durch Ditib-Imame drohen könnte. Vielleicht wäre der Herr dann daheim geblieben. 

Derweil: Schweigen auf den Twitter-Kanälen vieler sonst sehr aktiver muslimischer Aktivist_inn_en türkischer Herkunft. Während Amtshandlungen und Tweets des neuen US-Präsidenten eifrig kommentiert werden, bleibt Kritik am Regime in Ankara  von dieser Seite aus. Nicht zu erwarten ist, wie schon seit Jahren, dass einige, die hierzulande und in Übersee prominent Solidarität einklagen, wenn es um die Diskriminierung von Muslim_inn_en geht, sich mit eben solcher Verve einsetzen gegen die Diskriminierung von Atheist_inn_en und Agnostiker_inne_n in muslimisch geprägten Ländern, gegen Nationalismus in der Türkei und Verschleierungszwang in Saudi-Arabien. Während der sogenannte "Muslim Ban" Donald Trumps weltweite Empörung auslöste, blieben muslimische Staatsführer seltsam still, unter ihnen auch Erdogan. Und kaum jemand wies auf die Einreiseverbote hin, die seit Jahrzehnten für israelische Bürger_innen in vielen arabischen Staaten gelten (und beispielsweise die Teilnahme israelischer Sportler_innen an internationalen Wettbewerben, die dort ausgetragen werden, verhindern). Auch wurde keine Solidarität von hiesigen Kopftuchträgerinnen mit den Schachspielerinnen erkennbar, die sich entweder dem iranischen Kopftuchzwang unterwerfen mussten oder von einer Teilnahme an der Schachweltmeisterschaft ausgeschlossen waren. Solidarität ist offenbar eine Einbahnstraße - für einige. 

Es gibt, selbstverständlich, auch viele - rühmliche - Ausnahmen. Sie alle stehen unter erheblichen Druck durch die "Community", aus der ihnen immer wieder Verrat und Schlimmeres vorgeworfen und sogar massiv gedroht wird, z.B. zuletzt Ismael Küpeli und Ali Mutlu oder Mürvet Öztürk und Turgut Yüksel. Auch außerhalb des Netzes bin ich selbst Zeugin solcher massiven Angriffe und Übergriffe geworden. 

Am Fall Deniz Yücel zeigt sich zudem auf verquere und entlarvende Weise die Nähe von AfD- und AKP-Anhängern, die den Freigeist gleichermaßen hassen, weil er keinen Respekt vor ihren heiligen Kühen (ihrem Nationalismus, ihrer Religionsinterpretation, ihrer "Ehre") zeigt. Und es wird offenbar, wo die Grenzen der Solidarität jetzt und in Zukunft zu ziehen sind.

Für mich ist klar: Ich werde mich an Aktivitäten und Petitionen nicht beteiligen, deren Protagonist_inn_en keine eindeutige Distanz zu AKP, Ditib oder Milli Görüs herstellen, die auf Kundgebungen (wie z.B. auf dem Women´s March in Washington) "Free Gaza" fordern, aber damit nicht das Terror-Regime der Hamas meinen, oder Personen zu ihren Sprecherinnen machen, die auf Twitter die Sharia in Saudia-Arabien verteidigen

Von der seltsamen und erschreckendem Solidarität von Teilen der feministischen Bewegung und der Linken mit Personen, deren Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Pressefreiheit, Religionsfreiheit, die auch Freiheit von Religion meint, bestenfalls fragwürdig ist (weil es nicht universal zu gelten scheint, sondern nur im sogenannten "Westen"), distanziere ich mich. 

Wer sich über Trump aufregt, aber zu Erdogan schweigt, entlarvt sich selbst. Denn in den USA scheint zumindest noch die Gewaltenteilung zu funktionieren, wird der Handlungsspielraum des Präsidenten, der die freie Presse verachtet, sich um Fakten nicht schert und dessen Nähe zu Rassismus und Rassisten unverkennbar ist, durch Gerichte eingeschränkt. Davon ist in der Türkei kaum mehr etwas zu sehen. 

Sie werden sich sicher gut verstehen, nehme ich an, der Herr Erdogan und der Herr Trump, wenn sie sich einmal begegnen. Die ideologischen Differenzen lassen sich vielleicht übersehen, von beiden Seiten, im Verständnis für die jeweilige Not der beiden, sich mit diesen lästigen Demokrat_inn_en, dem investigativem Journalismus, dem "Gender-Wahn" und den "Terroristen/Volksfeinden" (vulgo: Opposition) auseinandersetzen zu müssen. Die Apologeten der beiden Möchtegern-Autokraten werden sicherlich Argumente in ihrem Neusprech finden, um die Freundschaft zwischen dem islamophoben Trump und dem islamistischen Erdogan zu rechtfertigen. Darauf darf man gespannt sein. (Oder auch nicht.)


Petition für die Freilassung von Deniz Yücel: 

https://www.change.org/p/free-welt-correspondent-deniz-yücel?recruiter=70738988&utm_source=share_petition&utm_medium=facebook&utm_campaign=autopublish&utm_term=mob-xs-share_petition-no_msg

Bitte unterschreiben!

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