Als Ida Lenko 8 Jahre und 33 Tage alt war, beschloss sie,
Mörderin zu werden. Der Bus, in dem Ida saß, hielt an der Haltestelle Ecke
Goethestraße/Benediktusweg. Ida hatte die Wange an die mit einer Eisschicht
bedeckte Fensterfront gelehnt und mummelte sich enger in ihren Schal, als die
Mitteltür sich öffnete und Samet zustieg. Ida schob das Kinn noch tiefer in die
grobe, graue Wolle und zog mit der rechten Hand ihre Mütze tiefer ins Gesicht.
Samet setzte sich neben sie, ohne sie zu erkennen. Er achtete nicht auf kleine
Mädchen (oder Buben), sondern tackerte unablässig auf seinem Handy herum.
Gewöhnlich stieg Ida am Eichendorff-Platz aus, aber sie wagte es nicht, Samets
Aufmerksamkeit durch eine Bewegung oder ein Räuspern auf sich zu lenken. Also
blieb sie sitzen und hoffte darauf, dass Samet nicht allzu viele Haltestellen
weiterfahren würde. Ida hielt dabei die ganze Zeit über die Augen krampfhaft
geöffnet, gegen den heftigen Impuls, sie für einen Augenblick ausatmend zu schießen.
Denn sie wusste, welches Bild sie hinter geschlossenen Lidern erwartete. In der
Corneliusstraße schließlich, gegenüber vom Eingang ins Barthelomäus-Zentrum,
stieg Samet aus, nicht ohne Ida achtlos mit seiner Ellenbogenspitze anzustoßen.
Ida zuckte zusammen, etwas zu heftig, und sie fürchtete schon, dass Samet
deswegen aufblicken würde, aber er war zu vertieft in seine Handykommunikation,
um sich ablenken zu lassen. Ida fuhr noch eine Haltstelle weiter, um dann
zurück zu laufen in ihr Viertel, die Wohnblocks hinter dem mit Linden gesäumten
Eichendorff-Platz. Ida zurrte ihren Ranzen fester auf ihren Rücken. Ihre
Nasenspitze war weiß vor Kälte und Hass.
Samet war frei. Samet lief herum und zockte auf seinem
Handy. Samet frass wahrscheinlich gleich Döner im DummDumm, baggerte kichernde
dumme Weiber an, die in kurzen Rücken vorbei schlenderten, und hieb seinen
Kumpeln, die sich wieder um ihn scharen würden, auf den Rücken: „Brudär,
Alter.“ Jona aber hatte, als Ida letzte Woche bei ihm gewesen war, das Gesicht mit
der versehrten Seite zur Wand gedreht und, wie seit dem Nikolaustag, kein Wort
mit ihr gesprochen, keines mit ihr und keines mit seiner Mutter, seiner
Schwester, seinem Onkel. Jona war verstummt, während Samet sich also wieder einen
schönen Tag machte.
Deshalb wollte Ida, dass Samet tot wäre und dass sie ihn
umgebracht hätte. Ida stellte sich vor, während sie die Straße hinuntertrabte,
wie sie Samet ein Messer zwischen die Rippen stieß, wie sie Samet vor die
Straßenbahn schubste, wie sie Samet mit einem Spaten erschlug. Aber Ida wusste
auch, dass nichts davon passieren würde, denn Ida begriff sehr wohl, dass sie
zu klein und zu schwach war, um Samet anzugreifen. Man müsste, dachte sie, ihn
vergiften. Das müsste ich können, dachte Ida, während sie mit dem Fahrstuhl in
den 8. Stock fuhr. Sie schloss die Wohnungstür auf. Ihre Mutter schlief noch
nach der Nachtschicht, aber Marian, der schon auf die Gesamtschule ging, saß in
der Küche und schlürfte Suppe. „Samet ist frei.“, sagte Ida und knallte ihren
Ranzen in die Ecke. Marian blickte nicht einmal auf. „Was hast du denn
gedacht?“ „Dass er im Knast verrottet, das Arschloch.“, sagte Ida.
„Jugendstrafrecht“, murmelte Marian. Ida hatte keine Ahnung, wovon er redete,
aber sie erinnerte sich, dass ihre Mutter schon direkt nach dem verheerenden
Nikolaustag gesagt hatte: „Der läuft bald wieder hier rum.“ Er hatte vergnügt
ausgesehen im Bus, fand Ida. Sie nahm sich einen Teller Suppe und setzte sich
Marian gegenüber.
Beide löffelten schweigend den Eintopf in sich hinein, den
Mama am Sonntag vorgekocht hatte. Man
müsste ihn vergiften, dachte Ida. Wenn ich das nur könnte. Und Ida beschloss zu
lernen. Wie man einen vergiftet. Am besten so, dass es niemand merkt. Ida hatte
keine Ahnung, wie und wo man so etwas lernen konnte. Aber sie war sicher, dass
sie es herausfinden würde. Selbstverständlich durfte man nicht direkt danach
fragen. Sie war ja nicht blöd. Man konnte nicht zu Frau Wagenhaupt gehen und
sagen: „Wie und wo lerne ich jemanden zu vergiften?“ Nachdem sie den
Suppenteller leer gegessen hatte, putzte Ida sich im Bad die Zähne. Im Schrank
standen die Schmerztabletten, die Mama manchmal nahm. Zu viele davon waren
giftig. Besonders für Kinder. Das hatte Mama warnend gesagt. In Arzneimitteln
ist also Gift, dachte Ida. Man müsste nur wissen, was genau drin ist und wie es
wirkt. Es gibt bestimmt ganz viele verschiedene. Wenn ich mich da auskennen
würde, dann könnte ich Samet vergiften.
Am nächsten Tag, dem 3. Februar 2008, fragte Ida nach der
Deutschstunde Frau Wagenhaupt, was man lerne müsse, um Arzneimittel zu machen.
Frau Wagenhaupt sah Ida sehr freundlich an. Sie mochte Ida, die wissbegierig
und schnell von Begriff war, eine Ausnahme unter ihren Grundschülerinnen und
–schülern, von denen viele keine 5 Minuten stillsitzen konnten. „Da muss man
Pharmazie studieren“, sagte Frau Wagenhaupt, „oder Chemie.“ Ida legte ihr Hausaufgabenheft auf den Tisch
und zog einen Stift aus der Jackentasche. „Wie schreibt man das?“, fragte sie.
Frau Wagenhaupt diktierte ihr das Wort geduldig. „Wie heißt man, wenn man das
studiert hat?“, fragte Ida. „Pharmazeutin.“, sagte Frau Wagenhaupt. „Oder
Apothekerin.“ „Aha“, sagte Ida. „Willst
du das werden?“, fragte Frau Wagenhaupt. „Ja“, sagte Ida. So ein ernsthaftes,
ehrgeiziges, kleines Ding, dachte Frau Wagenhaupt. Aber ich traue ihr das zu.
Wenn sie sich aus ihrem Milieu lösen kann. „Du kannst das schaffen, Ida“, sagte
sie zutraulich. „Du schaffst bestimmt die Empfehlung für das Gymnasium, wenn du
so weitermachst.“ Ida nickte. Sie
steckte das Hausaufgabenheft ein und bedankte sich bei Frau Wagenhaupt für die
Auskunft. Frau Wagenhaupt sah ihr wohlwollend nach, als sie den Raum verließ.
Ida googlte am Nachmittag auf Marians Laptop nach
„Pharmazie“. Das stimmte also, was Frau Wagenhaupt gesagt hatte. Das war die
Richtung. Ida rechnete: Ich bin in der 3. Klasse. Das heißt, ich muss noch 9
Jahre zur Schule gehen, mindestens, und dann studieren. Noch mal 6 Jahre. Aber
vielleicht kann ich ja schon nach 3 oder 4 Jahren genug, um Samet zu vergiften.
Es wird trotzdem schwer, dachte Ida. Denn ich muss Samet ja die ganze Zeit im
Auge behalten, damit ich weiß, wo er ist, wenn ich ihn dann vergiften kann. Ida
kniff die Augen zusammen. Das würde sie schon schaffen. Wie sagte Mama immer:
„Ida hat Durchhaltevermögen.“ Marian nannte das „starsinnig“. Das war Ida. Sie
war schüchtern und ängstlich, sie traute sich nicht Samet oder irgendwem was
ins Gesicht zu sagen, und das war auch vernünftig, denn Ida war selbst für ihr
Alter klein und schmächtig. Aber Ida war auch geduldig und nachtragend und
starsinnig. Wie Marian sagte. Ida würde das durchziehen. Lernen und fleißig
sein, Samet im Auge behalten, und aufs Gymnasium gehen, dabei Samet im Auge
behalten und studieren, immer Samet im Auge behalten, bis sie ihn vergiften konnte.
Und Ida schaffte das, wie sich zeigen sollte, auch wenn dann
alles ganz anders kam und Samet nicht der erste wurde, den sie vergiftete.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen