Während wir unsere Rollkoffer die High Street von Winchester hinunter ziehen, atme ich tief durch. So fühlt sich Ankommen an. Die Straßen sind voll, aber nicht überfüllt, es wird geredet, aber nicht geschrieen, gelaufen, aber nicht gerannt; wir sind draußen, raus aus London, big city, bunt, schrill, vielfältig- also alles, was erwünscht ist durch die "offene Gesellschaft", der sich verpflichtet fühlen soll, wer nicht als Rassist_in gelten will, einerseits, anderseits aber auch: teuer, elitär, abstoßend gegenüber all jenen, die sich das Hektische, Globale und Exotische nicht leisten können oder wollen, die alt sind, krank sind, scheu sind, verklemmt sind, traditionell gebunden sind. Allseits geforderte "Offenheit" , so habe ich - wieder einmal erfahren, fast körperlich - kostet was: Stressresistenz, Angstüberwindung, innere Abhärtung gegen die Zumutungen der Andersartigkeit (vulgo: jene arrogante Gleichgültigkeit, von der schon Simmel im Angesicht der Großstädte des 20. Jahrhunderts schrieb) und vor allem, allem - Geld, Geld, Geld.
London war großartig. Und widerlich. Wir sahen am ersten Abend in Theaterdistrict nahe des Leicester Square das Musical "Girl from the North Country". Aus der U-Bahn-Station heraus kommend, fühlten wir uns im ersten Höllenkreis: Gedrängel, Geschrei, Geschubse, Gesaufe; Alt-Sachsenhausen an einem Samstagabend hoch 10. Dennoch oder deswegen gilt ein Theatererfolg in UK erst etwas, wenn die Inszenierung es hierher schafft, in den Theater District Londons. Drinnen im Noel Coward-Theater ist dann auch alles wieder ganz anders: zivilisierte Mittelklassemenschen, die sich flüsternd unterhalten. Ich bin kein Musical-Fan. Dieses Stück von Conor McPherson mit Songs von Bob Dylan jedoch schaffte es, mich fast bis zu Tränen zu rühren. Auch Morel ging es nicht anders Bei ihm jedoch wundert das weniger, verehrt er doch Bob Dylan auf beinahe religiöse Weise. Ich war skeptisch, trotz der guten Kritiken, die McPherson Inszenierung erhalten hatte. Denn ich verehre den Barden aus Minnesota so wenig wie irgendeinen. Aber ich erfuhr an diesem Abend, was ich schon geahnt hatte: Dass Dylans Songs weit über ihre pophistorische Bedeutung hinaus tragfähig sind, dass sie Gefühle und Gedanken weit jenseits ihrer biographischen und historischen Verortung transzendieren können, zeitlos gültig und zugleich konkret erfahrbar werdend. Allerdings, so glaube ich, nur dann, wenn sie durch Musiker_innen und Sänger_innen vorgetragen werden, deren Können das des Songwriters übersteigt. So wie an jenem Abend in London, als Sheila Atim "Tight connection to my heart/Have you seen my Love" auf eine Weise sang, wie ich es nie zuvor gehört hatte, oder Sam Reid und Claudia Jolly "I want you" vortrugen, das es einer das Herz brechen konnte. McPherson hatte von Dylan das Einverständnis erhalten, sich aus dessen Songbook frei zu bedienen (man kann vermuten, dass dies von Dylan - leider - keine Geste der Anerkennung ist, sondern bloß der Gleichgültigkeit) und er wählte nicht das Offensichtliche, sondern Songs, die im Kontext der Geschichte, die er erzählt, gänzlich neuen und unerwarteten Sinn entfalten. Die Erzählung ist vor Dylans Lebenszeit angesiedelt, auf diese Weise vollständig befreit von allen biographischen Zusammenhängen, wie McPherson im Programmheft betont. Allerdings wird ein geografisch-historischer Bezug hergestellt: Die Geschichte spielt in Duluth, Minnosata an den Großen Seen, dort wo Dylan aufwuchs.
Zur Zeit der Depression führt Nick Laine (Game-of-Thrones-Darsteller Ciaran Hinds) dort ein heruntergekommenes Gasthaus, das mit Hypotheken belastet ist. Seine Frau Elizabeth (die grandiose, kleine Shirley Henderson) leidet unter einer psychischen Erkrankung, die sie regredieren lässt. Sohn Gene imaginiert sich eine Karriere als Schriftsteller, Ziehtochter Marianne ist schwanger und will den Vater des Kindes nicht nennen. Verzweifelt kämpft Nick gegen die drohende Obdachlosigkeit seiner Familie. Dass Marianne schwarz ist, von ihren Eltern im Gasthaus einfach zurückgelassen, verkompliziert die Situation noch. Außerdem leben im Gasthaus der Bankrotteur Burke mit seiner Frau und dem zurückgebliebenen erwachsenen Sohn. Eines Abends treffen ein Bibelverkäufer und ein schwarzer Ex-Boxer im Gasthaus ein und verändern die Dynamik zwischen den Bewohnern. Am Ende verlassen alle Nicks Gasthaus und ziehen weiter, in ungewisse und prekäre Lebensverhältnisse. "Girl from North Country" erzählt von den Sehnsüchten verarmter und bedrängter Menschen in einem durch Rassismus und Sexismus geprägten Umfeld. Und Dylans Songs, vorgetragen von einem hervorragenden Ensemble und einer brillanten, im Hintergrund der Bühne spielenden Band werden nicht als Illustration zu den Geschichten der Figuren eingesetzt, sondern bisweilen als Kontrapunkte, Erweiterungen, Dehnungen; sie eröffnen das Sehnsuchtspotential dieser Figuren, das in der erzählten historischen Situation keinen Platz hat, aber ihn hier erhält. In diesem Sinne, der völlig kitschfrei ist, kann man McPherson Stück als romantisch bezeichnen.
Zur Zeit der Depression führt Nick Laine (Game-of-Thrones-Darsteller Ciaran Hinds) dort ein heruntergekommenes Gasthaus, das mit Hypotheken belastet ist. Seine Frau Elizabeth (die grandiose, kleine Shirley Henderson) leidet unter einer psychischen Erkrankung, die sie regredieren lässt. Sohn Gene imaginiert sich eine Karriere als Schriftsteller, Ziehtochter Marianne ist schwanger und will den Vater des Kindes nicht nennen. Verzweifelt kämpft Nick gegen die drohende Obdachlosigkeit seiner Familie. Dass Marianne schwarz ist, von ihren Eltern im Gasthaus einfach zurückgelassen, verkompliziert die Situation noch. Außerdem leben im Gasthaus der Bankrotteur Burke mit seiner Frau und dem zurückgebliebenen erwachsenen Sohn. Eines Abends treffen ein Bibelverkäufer und ein schwarzer Ex-Boxer im Gasthaus ein und verändern die Dynamik zwischen den Bewohnern. Am Ende verlassen alle Nicks Gasthaus und ziehen weiter, in ungewisse und prekäre Lebensverhältnisse. "Girl from North Country" erzählt von den Sehnsüchten verarmter und bedrängter Menschen in einem durch Rassismus und Sexismus geprägten Umfeld. Und Dylans Songs, vorgetragen von einem hervorragenden Ensemble und einer brillanten, im Hintergrund der Bühne spielenden Band werden nicht als Illustration zu den Geschichten der Figuren eingesetzt, sondern bisweilen als Kontrapunkte, Erweiterungen, Dehnungen; sie eröffnen das Sehnsuchtspotential dieser Figuren, das in der erzählten historischen Situation keinen Platz hat, aber ihn hier erhält. In diesem Sinne, der völlig kitschfrei ist, kann man McPherson Stück als romantisch bezeichnen.
Das Noel-Coward-Theater, in dem Schauspieler-Legenden wie Cary Grant, Vivian Leigh, Laurence Olivier aufgetreten sind, bot dem Stück, dessen letzte Aufführung wir am 24. März besuchten, einen wunderschönen Rahmen. Ärgerlich allerdings, dass man meinte, am Eingang jenes Schild als "Trigger-Warnung" aufstellen zu müssen:
Ein neues "Juste Milieu", das sich hartnäckig weigert, seine eigene zentralistische Machtposition anzuerkennen, sondern sich albern retro-oppositionell gebärdet, verlangt unnachgiebig die Berücksichtigung aller seiner Prüderien in der Öffentlichkeit. Was es mit großer Geste tabuisiert, wird ihm desto härter als Trotzreaktion all jener entgegenschlagen, die sich nicht in seiner Mitte verorten können oder wollen, die auf ihrem Eigensinn, ihrer Sexualität, ihren Normen und Traditionen beharren und dabei von jenem Milieu noch nicht als paternalistisch zu betreuende Exoten entdeckt worden sind.
Kew Gardens besuchten wir am Sonntag, wie zahllose britische Familien mit ihren kleinen Kindern auch. Zwischen den Narzissenteppichen trotzte ein kleiner Batman, der später unter den "not so vegetarian vegetables", den entzückenden Killer-Pflanzen, aber wieder ganz zufrieden wirkte. Am Eingang zur Bahnstation brannte ein Van aus, was die englischen Sonntagsspaziergängerinnen gelassen zur Kenntnis nahmen. Vergeblich suchte Morel später in den Londoner Gazetten nach einer Erwähnung des Vorfalls. In Chiswick suchten wir fast vergeblich nach Hogarth´ House, das eingeklemmt zwischen zeitgenössisch hässlichen Appartementbauten und einer 6spurigen Stadtautobahn nur schwer zu entdecken ist. Dass der Maler und Grafiker vom Erkerfenster des Hauses einmal auf weite Felder hinaussah, ist kaum mehr vorstellbar. Aber er hätte es sicher vermocht, auch dieser Situation eine satirische Pointe zu entlocken.
Chiswick, so schien uns, ist der Prenzlauer Berg Londons, nur dass die Schraube noch ein wenig überdrehter angezogen wirkt. Während Viertel wie Chelsea, wo einst Mick Jagger tobte, Vivienne Westwood provozierte und die Hippies die Straßen bevölkerten, jenseits des Sloane Squares, wo die üblichen Edel-Marke-Boutiquen ein kaufkräftiges, aber uninspiriertes Publikum anlocken, wie tot wirkt, vermutlich, weil viele der ausrenovierten Backsteingebäude allenfalls noch als Zweit-, Dritt- oder Viertwohnsitz genutzt werden, haben sich die wohlsituierten Doppelverdiener mit Kinderwunsch nach Chiswick (oder in ähnliche Stadtteile) zurückziehen müssen, wo eine Familienwohnung allerdings auch nicht unter 800.000 Pfund zu haben ist, inklusive Risse in der Decke und Schimmelflecken überall. Man, so stellen wir uns vor, plagt sich also in der City in einem 50-Stunden-oder -mehr-Job (beide Eltern, ein Gehalt allein finanziert so ein Leben nicht), hetzt sich ab, um die Kinder irgendwo abzuholen, wo sie tagsüber betreut werden, richtet sich prächtige Küchen ein, die man fast nie nutzt, achtet auf organische Klamotten, kauft den Kindern Bio-Eisund fliegt um die Welt, geschäftlich wie privat. In Chiswick, selbstverständlich, ist man liberal, liebt das Exotische, vor allem kulinarisch und modisch. Die offene Gesellschaft kostet Nerven und Lebenszeit, sie hinterlässt einen gigantischen ökologischen Fußabdruck und tiefe Ringe unter den Augen. Derweil müssen die Putzkräfte, die die halbherzig renovierten Reihenhäuser in Schuss halten, wahrscheinlich drei Stunden mit dem Bus unterwegs sein am Abend in ihre weit außerhalb gelegenen noch schäbigeren Quartiere.
"A hidden gem" im hektischen London ist die grandiose Wallace Collection, der wir einen ganzen langen Vormittag widmeten. Wie im John Sloane Museum wird hier eine Sammlung präsentiert, die bis zum heutigen Tag den Eigensinn jener ausstrahlt, die sie zusammentrugen. Statt auf weißen Wänden Einzelstücken einen übertriebenen Platz einzuräumen, der ihre Bedeutung überhöht (und sie nicht selten sogar parodiert), findet sich hier ein Zusammenspiel von Möbeln, Sammelvitrinen und eng gehängten Bildern (Schwerpunkte bilden die italienische, französische und niederländische Malerei des 17.- 19. Jahrhunderts). In jeden Raum führt eine kurze Beschreibung über seine Geschichte und Ausstattung ein, Sitzgelegenheiten überall laden dazu ein, die ausführlichen Beschreibungen zur Provenienz und zum Kontext der verschiedenen Artefakte, die in Foldern dargelegt werden, gründlich zu studieren. Don´t miss it.
Wir hatten interessante Tage in London. "Man kann", so schrieb ich 2010 in diesem Blog, London nicht lieben. Wenigstens ich kann es nicht. Aber ich liebte vieles in London." So bleibt es.
Nun genießen wir den langsameren, gediegeneren Rhythmus, mit dem uns Winchester in Hampshire empfangen hat. See you soon.
Verwandte Links
St. Pancras (2010)
Unterwelt (2010)
Oxford Street (2010)
Über Schönheit: Sehen und gesehen werden (2010)
Rude Britain (2010)
"Taming the Screw" in Coram´s Field (2010)
Abschied von London (2010)
und:
die Serie über die Graphiken von William Hogarth; alles unter dem Label:
Hogarth
Ein neues "Juste Milieu", das sich hartnäckig weigert, seine eigene zentralistische Machtposition anzuerkennen, sondern sich albern retro-oppositionell gebärdet, verlangt unnachgiebig die Berücksichtigung aller seiner Prüderien in der Öffentlichkeit. Was es mit großer Geste tabuisiert, wird ihm desto härter als Trotzreaktion all jener entgegenschlagen, die sich nicht in seiner Mitte verorten können oder wollen, die auf ihrem Eigensinn, ihrer Sexualität, ihren Normen und Traditionen beharren und dabei von jenem Milieu noch nicht als paternalistisch zu betreuende Exoten entdeckt worden sind.
Kew Gardens besuchten wir am Sonntag, wie zahllose britische Familien mit ihren kleinen Kindern auch. Zwischen den Narzissenteppichen trotzte ein kleiner Batman, der später unter den "not so vegetarian vegetables", den entzückenden Killer-Pflanzen, aber wieder ganz zufrieden wirkte. Am Eingang zur Bahnstation brannte ein Van aus, was die englischen Sonntagsspaziergängerinnen gelassen zur Kenntnis nahmen. Vergeblich suchte Morel später in den Londoner Gazetten nach einer Erwähnung des Vorfalls. In Chiswick suchten wir fast vergeblich nach Hogarth´ House, das eingeklemmt zwischen zeitgenössisch hässlichen Appartementbauten und einer 6spurigen Stadtautobahn nur schwer zu entdecken ist. Dass der Maler und Grafiker vom Erkerfenster des Hauses einmal auf weite Felder hinaussah, ist kaum mehr vorstellbar. Aber er hätte es sicher vermocht, auch dieser Situation eine satirische Pointe zu entlocken.
Natürliche Naturfreunde. Harrods Schaufenster |
Wallace Collection London |
Wir hatten interessante Tage in London. "Man kann", so schrieb ich 2010 in diesem Blog, London nicht lieben. Wenigstens ich kann es nicht. Aber ich liebte vieles in London." So bleibt es.
Nun genießen wir den langsameren, gediegeneren Rhythmus, mit dem uns Winchester in Hampshire empfangen hat. See you soon.
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Über Schönheit: Sehen und gesehen werden (2010)
Rude Britain (2010)
"Taming the Screw" in Coram´s Field (2010)
Abschied von London (2010)
und:
die Serie über die Graphiken von William Hogarth; alles unter dem Label:
Hogarth
Lustig, ich war auch neulich in Chiswick und mochte auch diesen gutbürgerlichen Vorstadtcharme. Aber ihr wart nicht in Chiswick House, dieser Ikone des Neopalladianismus und früher Gartenkunst???
AntwortenLöschenhttp://thinglabs.de/2017/10/chiswick-house/
Grüße
Stefan
Ja, eigentümlicher Zufall. Nein, Chiswick House haben wir nicht gesehen. Wir waren erschöpft vom Überqueren der 6spurigen Stadtautobahn vor Hogarth´House. :-)
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