Der Strand in Kühlungsborn leerte sich gestern um halb vier; offensichtlich war die Anziehungskraft des nationalen Männerfussballteams doch immer noch stark. Ich will das nicht kritisieren. Jede Gesellschaft braucht einigende Rituale. Wer das zu leugnen versucht oder gar bekämpft, grenzt auf dümmliche Weise Mehrheiten aus seiner Rechthaber-Minderheit aus, leider nicht einmal folgenlos. Denn Ermahnungen gegen fahnenseligen Überschwang, wie von Claudia Roth vorgebracht, erzeugen jenen bösen Trotz, der letztlich den vielerseits konstatierten und beklagten Rechtsruck verstärkt. (Ja, psst, ich kenne Eure Einwände gegen diese Deutung, Eure traurige Gewissheit, dass all diese Familienväter im Deutschlandtrikot, die ihre Töchter auf den Schultern zum Public Viewing tragen, ohnehin menschenfeindliche Faschisten sind, gegen die Ihr unverdrossen Euren heroischen Widerstand leistet, umzingelt in jenem Feindesland, das Ihr herabwürdigend ´Schland nennt, an dessen Institutionen, Rechtssysteme und Staatsvertreter sich aber seltsamer Weise stets alle Eure Forderungen und Klagen richten, aber ich, eben, teile diese Sicht nicht, keineswegs, sondern erachte sie als spiegelbildlich menschenfeindlich zu jenem von rechts gepflegten Rassismus, sorry, Leute!)
Mir allerdings ist der Männerfussball in den letzten Jahren egal geworden. Dabei habe ich das Spiel einmal geliebt. Aber Fifa, Uefa, DFB, Hooligans und öffentlich-rechtliches mediales Getöse haben in den letzten Jahren einfach so arg überzogen, dass mir der Spaß daran vergangen ist. Nur noch aus der Distanz verfolge ich das Geschehen und stelle mir die Frage, ob es jene von verschiedenen (männlichen, linksintellektuellen) Publizisten immer wieder beschworene Verbindung zwischen nationalem Fußball und nationaler Politik doch "irgendwie" (50 Cent in die Kaffeekasse) gibt: Werden Jogi Löw und Angela Merkel gleichzeitig stürzen?
Lustig für mich ist es zu sehen, wie in meiner Timeline die unverbrüchlichsten Linken sich wie eine Eins hinter Merkel, der Kanzlerin der "marktgerechten Demokratie", versammeln und sich kaum etwas sehnlicher wünschen als eine Fortsetzung von deren asymmetrischen Demobilisation. Mangels eines revolutionären Subjekts erscheint auch dem eingefleischtesten Marxisten offenbar die Einschläferung der Massen noch als das probateste Mittel. Leider verderben sie dann regelmäßig den Effekt, den ihre Protagonistin zu erzielen versucht, durch jene maximal zweieinhalb Tage dauernden Empörungsexzesse, während derer sie Dreiviertel der Bevölkerung bzw. deren politische Vertreter zu Rechtsextremisten erklären und "Wehret den Anfängen!" rufen. Dabei verkennen sie auf dramatische Weise, dass gerade falls ihre Diagnose stimmt (nämlich dass wir berechtigte Angst vor einer Machtübernahme von Rechts haben müssen, mit allen Folgen für den - leider auch von linker Seite immer wieder geschmähten - demokratischen Rechtsstaat), Bündnisse gegen Rechts von Nöten sind, die auch liberale und konservative Demokratinnen und Demokraten mit einschließen.
Wer ernsthaft glaubt, dass fast alle anderen (europaweit) faschistisch und/oder rassistisch sind, dem bleibt ja letztlich nur, die Koffer zu packen (offen indes die Frage nach dem Reiseziel). Alle anderen müssen Strategien entwickeln, um verfestigte Rechtsradikale auszugrenzen, ohne zugleich alle jene, die möglicherweise eine andere Migrationspolitik wollen als man selbst oder kulturelle Andersartigkeit nicht per se als Bereicherung, sondern auch als Stressfaktor erfahren, zu diesen in die Ecke zu drängen. Es zeugt nämlich nicht unbedingt von überlegener Moralität und Humanität sich für im Mittelmeer in Seenot Geratene als zwingend zuständig zu erklären, während man die in Not Lebenden jenseits des Äquators oder im Jemen zumindest weniger vehement als die "seinen" reklamiert. Wer "sichere Fluchtwege" nicht nur fordern, sondern ermöglichen will, wird erklären müssen, für wen sie eröffnet werden sollen und damit zugleich, für wen nicht, denn jenseits der Frage nach Geldreserven gibt es begrenzte Transportressourcen, Versorgungs- und Integrationskapazitäten, die nicht einfach kurzfristig dazu "gekauft" werden können, weil sie schlicht derzeit nicht vorhanden sind (Flugzeuge, Boote, Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, angemessene Unterkünfte etc.pp.) Das Asylrecht kann keine gute und humane Einwanderungspolitik ersetzen, die schmerzhafte Entscheidungen verlangt, statt des schlichten "Open your borders, Europe".
Ich habe hohen Respekt vor all jenen, die mitwirken, damit die Integration von Eingewanderten gelingt, vor jenen, die Verantwortung für Minderjährige übernehmen, die Arbeitsplätze bereitstellen und Menschen zu Ausbildung und Schulabschlüssen verhelfen. Weniger Respekt habe ich dagegen vor jenen überheblichen Moralist_innen, die stets Forderungen erheben, sich selbst aber bestenfalls kurzfristig bei angenehmen Events wie interkulturellen Festen oder gemeinsamem Kochen (mit handverlesenen, überdurchschnittlich gebildeten Zugewanderten, meistens überproportional vielen Frauen) blicken lassen, aber sich den täglichen Schwierigkeiten beim Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen und Gewohnheiten gern hurtig entziehen. Dass ein übergroßer Prozentsatz der Zugewanderten junge Männer sind, erschwert nicht nur die Integration hierzulande, sondern erzeugt bei mir zusätzlich erhebliche Zweifel daran, ob die gegenwärtige Form der Organisation bzw. Nicht-Organisation von Zuwanderung tatsächlich geeignet ist, den Bedürftigsten und Gefährdesten zu helfen. Gleichzeitig macht es mich wahnsinnig wütend, in meinem unmittelbaren Umfeld zu erleben, wie wenig von staatlicher Seite Integrationsleistungen von Zugewanderten anerkannt und honoriert werden (in dem Fall, auf den ich anspiele, geht es um eine junge Frau und deren Familie aus Afghanistan, die alle berufstätig sind oder mit großen Erfolgsaussichten weiterführende Schulen besuchen und dennoch keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erhalten).
Hier an der Ostsee in Kühlungsborn nahmen die Trikotträger und Fahnenschwenker das Ausscheiden der deutschen Mannschaft achselzuckend hin. "Die Leistung" hat eben nicht gestimmt. Die hier das Bild prägenden "biodeutschen Normalos", die Familien mit Kleinkindern, die älteren Paare in der Sommerfrische reagierten überwiegend kühl und abgeklärt. Das Wetter ist herrlich sommerlich, der Strand bleibt sauber, denn Müll wird wie selbstverständlich von allen in Mülltonnen entsorgt. Man trägt keine Ghettoblaster spazieren, um die Nachbarschaft zu beschallen und fährt keine tiefer gelegten Autos, mit denen man geräuschvoll durchstartet. Es wird nicht leidenschaftlich herumgebrüllt oder hemmungslos gegrillt und aus Aludosen gesoffen. Es ist, trotz gut gefüllter Promenade, recht still und beschaulich. Menschen mit Behinderung sind hier überdurchschnittlich sichtbar, weil ihnen Raum geschaffen und gelassen wird, beinahe beiläufig. Wer wie ich alltags im großstädtischen Rhein-Main-Gebiet lebt, erfährt diese hier, aber dort eben nicht, selbstverständliche Rücksichtnahme und vorsorgliche Distanziertheit gegenüber den Mitmenschen als ungeheuer stressmindernd und entlastend. Ist es ganz unwahrscheinlich, dass dieses Verhalten und diese Wahrnehmung auch mit der relativ hohen Homogenität des hiesigen Publikums zusammenhängt?
Diversität ist anstrengend. Vielfalt kann schrecklich nerven. Es geht aber kein Weg dran vorbei. Der Slogan der US-amerikanischen Faschisten "Kill all Normies" sollte daher nachdenklich stimmen: Der erklärte Hass von Rechten (wie einigen Linken) gilt eben vor allem der "Normalität", der relativen Zufriedenheit derjenigen, die Verantwortung übernehmen, ihr Können und Wissen in Dienst stellen. Breivik und Amri töteten bewusst solche Menschen, "Normies" eben.
Ein Ansatz, der solche Menschen unter Generalverdacht stellt, wenn oder weil sie "privilegiert" sind oder scheinen (z.B. weiß oder männlich sind) liefert diesem Hass Nahrung. Es ist nämlich kein Zufall, dass die Anführer der rechten Bewegungen so über die Maßen unattraktive, weiße Männer sind - klein oder dicklich, monströse Frisuren und häßliche Schnauzbärte, sich überschlagende Stimmen, schwacher Intellekt, mäßiger Wortschatz, fragwürdige Bildung (Putin, Orban Trump, Erdogan). "Normale" Menschen, die sich ihrer Schwächen bewusst sind und ihre Stärken verantwortlich nutzen, können die Leistungen anderer anerkennen, weil sie ihre eigenen richtig einschätzen. Der radikale Populist dagegen bedient das Ressentiment der Minderleister, die sich wenig anstrengen und immer Schuldige dafür suchen, wenn sie etwas nicht umsonst (also: bloß wegen ihrer Männlichkeit, Weißheit, Gläubigkeit oder so) kriegen. Die schätzen an ihren "neuen" Führern gerade, dass diese eben solche desinteressierten und unsympathischen Deppen sind, wie sie selbst, bloß mächtig und/oder reich.
Ich glaube, dass es ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen diese antisozialen, rücksichtslosen, selbstgerechten Verweigerer von Leistung und Dienstbarkeit, Verantwortung und Disziplin geben muss. Eine Linke, die solche Begriffe immer nur bekämpft, stellt sich gegen jene "normalen" Menschen, die sich mühen, gute Mütter und Väter zu sein, Kaputtes zu Reparieren, ein Zuhause zu schaffen, Heimat für viele zu gestalten. (Die SPD leidet bis heute verdient darunter, dass sie ihrer Stammwählerschaft mit den sogenannten Hartz-IV-Gesetzen genau jene Gleichgültigkeit gegenüber deren Anstrengungen demonstriert hat.) Denn es sind auch die, denen der Hass der Rechten (der Einheimischen wie der importierten Islamisten) gilt: Jene Menschen, für die Özil und Gündogan selbstverständlich deutsche Nationalspieler sind, die sich aber gerade deswegen über das Erdogan-Foto ärgern, jene, die sich über die Einladung zur Hochzeit ihres schwulen Neffen genauso freuen, wie über die zu derjenigen ihrer heterosexuellen Großnichte, die stolz sind, dass die aus Serbien stammenden Nachbarn ihnen genug vertrauen, um sie als Babysitter für die kleine Tochter einzusetzen, die lässig in der U-Bahn aufstehen, wenn der Schaffner sich rassistisch gegenüber einem Schwarzen verhält und ihn in den Senkel stellen, die sich zusammentun, um den Rollator der alten Frau mit Kopftuch aus dem Bus zu hieven - und die es dennoch oder gerade deswegen verunsichert, wenn Kriminelle scheinbar nicht abgeschoben werden können, wenn Menschen mit zig verschiedenen Identitäten bei verschiedensten Behörden registriert sind oder sie vor der Islamisten-Moschee um die Ecke vom Gehweg geschubst werden (meinem Vater so passiert in Frankfurt/Main).
Es ist in einer sich selbst zur Elite ernennenden asozialen Geldmacher-Clique gelungen, den Leistungsbegriff von jedem Bezug auf gesellschaftliche Verantwortung zu entkleiden, ihn gleichzusetzen mit Erwerb und Vermögen. Teile der Linken sind darauf hereingefallen oder haben darauf hereinfallen wollen: Wer sich für sich selbst verantwortlich fühlt, wer soviel leistet, wie er/sie kann, wer sich kümmert und sorgt, der/die taugt ja nicht als Klientel fürsorglicher Paternalisierung. Was nicht gelungen ist, so glaube ich zumindest, ist der Mehrheit den Respekt für "echte" Leistungen abzugewöhnen: die "Normies" achten Menschen, die für andere Sorge tragen, Mütter, Väter, Großeltern, Freunde und Freundinnen, die einander helfen und sich kümmern, die Beziehungen pflegen und an ihnen festhalten, auch wenn es mal schwierig wird. Die "Normies" sind in diesem Sinne zutiefst konservativ und sie fühlen sich nicht zu Unrecht von einem politischen Establishment verraten, dem es nur noch darum zu gehen scheint, Interessenvertretung der Kapitalbesitzer oder (in geringerer Zahl) der tatsächlichen oder selbsterklärten "diskriminierten" Hilfeempfänger zu sein.
Ob Merkel Löw folgt? Ich weiß es nicht. Ich habe sie lange Zeit für ihre Kaltschnäuzigkeit und ihren Machtwillen bewundert, für ihr pragmatisches Geschick, sich gegen männliche Machtmenschen durchzusetzen. Inzwischen entsetzt mich im Rückblick, wie sehr diese Politik die Fundamente der parlamentarischen Demokratie untergraben hat, indem politische Entscheidungen und Kehrtwenden nicht im Bundestag erstritten, sondern in Talkshows verkündet wurden. Merkel (und "wir", eine moralisierende, aber praktikable Lösungen verweigernde Linke, die sich nur noch um Minderheiten gesorgt, aber den "Normies" Verachtung gezeigt hat) haben unseren Anteil daran, dass die Rechte so erstarken konnte. So zumindest sehe ich es heute.
Ich bin entspannt. Ganz gegen diese politische Diagnose. Der Sommerwind, die See, die Dominanz einer Normalität, von der mir durchaus bewusst ist, wie sehr sie auch Ausgrenzungen geschuldet ist und die mich dennoch für kurze Zeit so sehr entlastet, fühlen sich gut an, weich und gelassen. Das wird nicht vorhalten. Geschichte wird gemacht. Jetzt. Leider auch von uns, die wir uns aus ihr stehlen wollten.
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