nur ein fremdling, sagt man mit recht, ist der mensch hier auf erden.
Göthe
Auch ich habe, wie viele andere, schockiert durch die rassistischen Morde in Hanau, gepostet: "Es waren keine Fremden." Um ein Zeichen zu setzen gegen die Wahrnehmung des Mörders und jener, die seine Gesinnungen teilen: Es sei 1. die Welt reinlich einzuteilen in "Fremde" und Zugehörige und 2. das "Fremde" und die "Fremden" seien minderwertig und nicht lebenswert. Das ist eine widerwärtige, menschenverachtende und zu bekämpfende Einstellung.
Und doch...halte ich an einer Aussage fest, die ich im vergangenen Sommer, in der Sommerfrische - noch halb im Scherz - traf:
Ich lese, weil mir „die Menschen“ fremd sind und ich hoffen darf – lesend - , dass es so bleibt.
Das "Fremde" ist jenes, was ich lesend suche, dem ich im Leben jedoch bisweilen durchaus ausweiche. Ich teile das Bedürfnis nicht, mich dem "Fremden" zu nähern oder mich ihm anzugleichen. Ich will mich nicht identifizieren und keine Nähe herstellen. Im Gegenteil. Ich will mir - lesend - selbst "fremd" werden und mir die anderen und das andere - alle "Fremde", alles "fremd" - vom Leib halten. Ich will Distanz und Distanzierung - auch von mir selbst, von der allzu schnellen Übereinstimmung mit dem ersten, scheinbar "authentischen" Gefühl, von der Vereinnahmung durch die Verständnisseeligkeit der anderen, von der immer falschen Vergemeinschaftung und Verallgemeinerung. Immer schon fühle ich mich überall unwohl, schnell, wo sich alle einig sind oder zu sein scheinen, wo Harmonie unbarmherzig herrscht, wo es, wie es so schön und ironisch heißt, "menschelt", wo man sich an den Händen fasst und "lieb" hat und sein großes "WIR" findet und bestätigt.
(Ganz wahr ist das selbstverständlich nicht, denn ich möchte auch manchmal dazugehören, dabei sein, mich anschließen. Aber im Grunde genommen stimmt es schon, dass es mir stets unheimlich wird und immer schon geworden ist, wenn das "WIR" mehr als 10 Menschen umfasst. Dass dann die Fluchtreflexe einsetzen. Dass mir der Mensch als Masse immer schon Angst macht, auch wenn sich diese für das vermeintlich "Gute" einsetzt.)
Fremd ist, sagen die Grimms, was "von fernher" komme und/oder "nicht eigen" sei. Fremde Götter, fremde Speisen, fremde Länder, fremde Sitten, fremdes Eigentum. Das "Fremde" fasziniert und stößt ab, es weckt Begehren und Unbehagen, bereichert und beunruhigt. Das "Fremde" stellt in Frage, was gegeben ist, weil es zeigt, dass es auch anders sein könnte. Ganz anders. Ganz fremd. Das "Fremde" stiftet die Möglichkeit, sich selbst fremd zu werden. Identitäten aufzulösen.
Identitäre aller Lager müssen daher seit je darauf achten, die Reaktionen auf das Fremde zu kontrollieren: Fremden Göttern sollst Du nicht dienen, fremde Männer sollen "unsere" Frauen nicht haben, fremde Heere uns nicht besetzen. Solange das gelingt, lässt sich daraus ein religiöses oder politisches Süppchen kochen. Herrschaft hat, wer bestimmt, was "fremd" ist. Je simpler und polarer, desto wirkmächtiger, weil es so noch die/der Dümmste kapiert: Was nämlich "fremd" ist und bleiben soll.
Die Gegenseite reagiert nicht selten kaum weniger schlicht: Man solle, sagen sie, jeden "als Menschen" sehen, als sei das etwas Besonderes und als hafteten dem Attribut "menschlich" nur positive Konnotationen an. (Mitnichten!) #unteilbar, heißt es, müssten "wir" sein. (Man marschiert dann, wie auch am Sonntag in Hanau wieder, unverdrossen neben den rassistischen "Grauen Wölfen" und Erdogans faschistischen Anhängern). Man will die "Fremdheit" nicht ertragen oder woanders hin verlagern. "Fremd" ist, was unserer Gesinnung widerspricht. "Wir" selber aber sind uns eins. Identisch halt. Fremdeln nicht miteinander. Wer keinen Döner mag, ist ein Fremdenfeind. Noch nie in der Shisha-Bar gewesen? Schnell mal hin. Sari anprobieren. Fez auf den Kopf. Wir lieben thailändisch inspirierte Bowls und besuchen Bauchtanz-Kurse. (Man muss da allerdings auch sehr aufpassen, wo "cultural approbation" anfängt. Das wär´ dann auch schlecht.) Jede/r soll zu uns gehören. Und wir wollen zu jedem und jeder gehören. Wir wollen aufmerksam sein und zugewandt. Dem "Fremden" gegenüber besonders und stets. Wir sind WeltbürgerInnen und wollen, dass alle es werden. Fremdheit dulden wir nicht länger. Es gibt keine Fremden. Jede/r soll willkommen sein.
Das ist mir fremd. Diese Offenheit. Ich bin eher verschlossen. Eine grummelnde Hessin. Nach außen hin eher überlaunig wirkend. (Das ist der Trick, um in öffentlichen Verkehrsmitteln auf jeden Fall Ansprachen von "Fremden" zu entgehen.) Ich verschränke gerne die Arme vorm Oberkörper und bin zufrieden, wenn es verstanden wird: Bleibt mir fremd!
Das ist - auch - eine Charakterfrage, zugegeben. Und trotzdem mache ich ein Plädoyer daraus. Gerade jetzt. Gegen die "Menschenlei". Gegen das allzu einfache "Wir". Für die Fremdheit. Dafür, mehr Fremdheit wahrzunehmen, nicht weniger. Mir ist ein jeder fremd, oft. Nicht selten bin ich es mir selbst. Fremdheit beunruhigt. Immer schon.: "Was de Bauer net kennt, frisst he net." Wo ich herkomme, waren zu Zeiten auch die schon "fremd", die auf der anderen Seite vom Fluss oder Berg gewohnt haben. Was fremd ist, ist oft unangenehm.
Fremdheit nötigt zu Zurückhaltung. Man beschwert sich nicht, auch wenn man den Borretsch nicht so mag, den die russischstämmige Gastgeberin serviert. Man zwingt sich mitzuschunkeln, obwohl man diese lauten Bräuche höchst seltsam findet. Man zückt einen Geldschein und steckt ihn der Braut ans Kleid bei der türkischen Hochzeit mit einem eher unangenehmen Gefühl. Lieber hätte man ein schön verpacktes Geschenk überreicht. Das ist nämlich oft ziemlich anstrengend, wenn man sich den "Fremden" anpasst. Das erlebt man keineswegs meistens als Bereicherung. "Fremde" nerven.
Nur wer sich selber öfter fremd wird, ist geübt darin, mit dieser Belastung umzugehen. Denn wer sich selber manchmal fremd wird, statt stets mit stabiler Identität andere zu missionieren, hat sich eingeübt in der einzigen Methode, auf die Zumutung von "Fremdheit" zu reagieren: Humor. Wer sich selber fremd werden kann, muss immer wieder mal über sich lachen. Und über seine eigene Befremdung.
Es ist ein Kennzeichen, das die Identitären aller Lager ein: Ihre selbstgewisse Humorfreiheit. So kommt es, dass sie die Fremdheit entweder nutzen, um ihre Identität und die anderer einzugrenzen und zu bekräftigen oder - im anderen Lager - Fremdheiten zu leugnen und Differenzen zu moralisieren. Sie lachen nicht über sich. Und über andere nur schadenfreudig.
Das antinomische Denken, das Fremde zu hassen oder es zu glorifizieren, lässt sich aufbrechen: Das Fremde ist komisch. So komisch, wie wir den Fremden sind. Man sollte sich viel öfter "befremdet" fühlen. Statt sich immer wieder weiszumachen, Bescheid zu wissen. Über das Fremde. Und die Fremden. Und über sich selbst.
Lasst uns statt "Interkultureller Kompetenz" Befremdung üben!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen