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Montag, 1. September 2014

HIMMELREICHS UND WIRKLICHKEIT (aus: Sternchen und Schnuppe. Familienroman der Zukunft. Entwurf)

"Die Schauplätze unserer Geschichte wirken, als hätte sie ein Location-Scout für eine Vorabendserie des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ausgesucht: Küchen, Parks, AutosFlughafenhallen, Hotel-Bars. Fehlt nur noch ein Krankenhaus-Flur."
Schnuppe lachte, ein wenig gequält.
"Es ist passend. Zeigt, wie sehr wir uns bemühen, nicht originell zu sein. Fast schon verzweifelt."
Sternchen griff nach seiner Hand, löste sie vom Glas, strich sie sanft aus auf dem Teakholz des Tresens. Er wollte sich nicht weich machen lassen, nicht einmal von Sternchen, aber er fühlte sich zu schwach für Widerstand. Die Begegnung mit dieser Frau hatte ihm seine Abhängigkeit von Sternchen vor Augen geführt. Wie sollte er je einem anderen Menschen erklären, was ihm an seiner Mutter, vielmehr an der Frau, die in der Geburtsurkunde als seine Mutter eingetragen war, aber ihn nicht geboren hatte, fehlte? Es gab ja genug andere Adoptivkinder, die damit besser klar kamen. Sternchen und er kannten viele. Hatten sie bewusst gesucht und kennengelernt; damals ganz am Anfang ihres Exils, in Köln, waren sie einer Selbsthilfegruppe für Adoptivkinder beigetreten. 

Das war auch so ein Fehler gewesen. Nicht nur, aber auch, dass sie immer zusammen aufgetreten waren. Keines von ihnen hatte je außerberuflich versucht, sich alleine zu stellen. Wie lächerlich, dass sie ihren Liebeleien den Anstrich der Partnersuche gegeben hatten. Und die getrennten Wohnungen. Wem wollten sie damit etwas vormachen? Marie etwa, die sie seit Jahren nicht gesehen und nicht erwartet hatten? Oder Adam, der sie nicht suchte, sondern floh? Denjenigen, denen sie Gefühle vorgaukelten, die sie nicht einmal für einander hatten? Sich selbst und einander? 

Er wäre am liebsten raus gerannt, raus aus der Bar, dem Hotel, der Stadt, weg, weg, von Marie Himmelreich und Stella Himmelreich und am meisten und weitesten weg von sich selbst: Samuel Himmelreich. Ein Himmel voller Arschlöcher. Er hasste diese Wortspielereien mit ihrem Nachnamen, zu denen sich selbst flüchtige Bekannte bemüßigt fühlten und die auch sein eigenes Gehirn widerwillig produzierte. Ein Familienname, den Adam und Marie ausgesucht hatten. Oder jemand anderes für sie. In wessen Namen hatten Adam und Marie gehandelt? Schnuppe entzog Sternchen seine Hand und krampfte sie um das Glas. 

"Lass mich saufen."
Sternchen zog einen Flunsch. Aber nur ein bisschen. 
"Ich sehe das nicht als Zeichen unserer Verzweiflung. Wir machen das Beste draus. Das Beste, das wir sein können, ist unauffällig."
Schnuppe stöhnte: "Das Beste ist, den Klischees zu entsprechen, die man uns beigebracht hat, Schwesterchen. Wir könnten uns alles aussuchen."
"Der Griff nach den Sternen."
"Und sieh, was wir gewählt haben: Geschwisterlichkeit, Küchenlieben, Yoga, Tanzen."
"Und? Warum sagst du das in so abwertendem Ton? Wir könnten auch Polygamisten sein, Rennfahrer, Immobilienmaklerinnen oder Drogenhändler."
"Physiknobelpreisträgerinnen, Superstars, Philosophinnen."
"Das ist Unsinn. Warum sollten wir mehr oder weniger die Wahl haben als alle anderen?"
"Weil wir uns nicht kennen. Weil sie uns erfunden und zusammengefügt haben: Adam und Marie."
"Das glaube ich nicht. Sie haben uns in Sicherheit gebracht, denke ich. Vor denen."

Schnuppe zögerte. Als er herunter gekommen war mit dem Fahrstuhl, hatte er sich noch selbst versprochen, Sternchen nichts zu sagen. Wozu sie mit diesem neuen sinnlosen Rätsel konfrontieren? 
"Sie sagte etwas, als ich sie in ihr Zimmer hoch brachte."
Sternchen legte ihm den Arm um die Schultern.
"Warum hat sie diese Macht über dich? Warum traust du ihr nicht, aber saugst doch jedes Wort auf, das sie spricht?"
"Weil sie uns geschaffen hat. Und weiß wozu."
Sternchen runzelte skeptisch die Stirn.
"Das wage ich zu bezweifeln."
"Dann kennt uns niemand."
Sternchen lächelte ihn an.
"Und damit wären wir nicht allein, weißt du? Die meisten Menschen glauben das von sich. Mindestens seit der Postmoderne oder so. Sie kennen sich selbst nicht und sind stolz darauf."
Schnuppe nahm einen kräftigen Schluck aus einem Glas.
"Was ich hasse ist die Art, wie du ´Weißt du´ sagst. Obwohl du genauso wenig Ahnung hast wie ich."
"Ich bin eben genauso stolz auf mein Halb- und Nichtwissen wie andere fiktive Charaktere auf ihre Nicht-Identität.", lachte Sternchen.
Schnuppe stöhnte. "Du nervst. Ich lese keine Romane und genau darum. Ich fühle mich schon unwirklich genug, ohne durch dich oder sonst wen in diese Wirklichkeitsverleugnungsschleifen gezogen zu werden."
"Schönes Wort. Aber zurück auf Anfang: Was hat sie gesagt?"
"Ich wusste, dass du fragen würdest. Obwohl du behauptest, dass du mit ihr fertig bist."
" Es beschäftigt dich. Und deshalb mich."
"Sie hat gesagt: ´In Wirklichkeit heiße ich Lilith.´."
Sternchen verschluckte sich beinahe an ihrer eigenen Spucke.
Lilith. Ausgerechnet. Lilith. Sie hatte es drauf, die Marie. Himmelreich. Assoziationen. Sie hatten immer mit Assoziationen und Mythen gespielt. Selbst die NASA benutzte gerne mythologische Namen für ihre Sonden. Was konnte sie als Lilith auskundschaften, was ihr als Marie verborgen blieb? Oder was bildete sie sich ein, herauskriegen zu können?
Es war, als könne Schnuppe ihre Gedanken lesen.
"Was ist, wenn sie wirklich so heißt?"
Nach dieser Vorlage konnte es Sternchen einfach nicht lassen, ihn noch einmal hochzunehmen:
"Schnuppe, mein Armer, hast du es immer noch nicht kapiert: Es gibt keine Wirklichkeit, nur Bewusstseinszustände."

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Was bisher geschah: STERNCHEN UND SCHNUPPE. Familienroman der Zukunft

Mittwoch, 25. September 2013

ANKUNFT (aus: STERNCHEN UND SCHNUPPE. Ein Familienroman aus der Zukunft)

"Da wird sie rauskommen." 
Sternchen und Schnuppe saßen vor einer der breiten Schiebetüren im Terminal B, die sich gelegentlich automatisch öffnete, um die Reisenden auszuspeien mit ihren Rollkoffern, schwarze noch in der Überzahl, aber immer öfter auch bunte dazwischen, eingefasst auch mit gestreiften Gurten oder wild beklebt mit Abziehbildern von Ferienorten. Braungebrannte Menschen aus dem Süden, noch in Bermuda-Shorts und mit Sonnenbrillen, zogen die Koffer hinter sich her, das Urlaubsgefühl krampfhaft konservierend. Daher auch die lauten Stimmen und das schallende Gelächter, wenn sie von ihren Abholern in Empfang genommen wurden. Eine letzte Nachahmung der Feierlaune am Ballermann, bevor der Alltag sie wieder hatte.
"Wenn sie kommt."
"Du glaubst, das war nur ein Warnschuss. Ein Test. Sie kommt gar nicht."
Sternchen wollte das nur zu gerne glauben.
"Nein. Sie kommt."
"Aber warum?"
"Weil sie am Ende doch zu schwach ist. Wie alle anderen auch. Wie wir. Wer kann schon gehen, ohne sich umzudrehen?"
"Denkst du an Orpheus?"
"Nein. Orpheus wendet sich aus Liebe. Das ist nicht ihr Motiv. Wenigstens das wissen wir genau."
Sternchen schluckte. 
"Aber sie könnte doch..."
Schnuppe drückte Sternchens Arm so fest, dass es weh tat.
"Du musst damit aufhören. Von ihr haben wir nichts zu erwarten. Nicht einmal die Wahrheit. Aber wir können sie benutzen. Vielleicht. Um es herauszukriegen. Woher wir kommen. Und wozu."
Sternchen machte sich los und stand auf. 
"Ich will das nicht. Ich will das nicht wissen. Lass uns gehen."
Schnuppe sah an Sternchen vorbei.
"Zu spät. Da ist sie."
Sternchen drehte sich herum.
Das war sie. Die Mutter. Die sie nicht war. Sie lächelte. Sie sah aus wie immer. Wie ein Filmstar auf Reisen. Perfekt gestylt. Mondän. Bigger than life. Sie war so schön und so unecht. Sternchen zensierte sich in Gedanken selbst. Es gibt nichts Echtes. 
Küsschen links in die Luft. Küsschen rechts in die Luft. Zweimal. Spanisch. Oder so. Sternchen und Schnuppe war es sowieso egal. Sie verzogen die Gesichter.
"Da seid ihr. Meine Schönen!" Sie übergab Schnuppe den Haltegriff ihres Rollkoffers. Glänzendes Metallic-Rot. Passend zum Lippenstift. Und zu ihren Strümpfen. Was für eine Frau. Ein Eyecatcher. 
Sie schwiegen auf dem Weg zum Parkhaus. So klug war sie, dachte Sternchen. Jede andere hätte jetzt überstürzte Konversation gemacht. Seichtes Geschwätz, um die Peinlichkeit zu übertünchen. Sie nicht. Sie schwieg, als sei gar nichts Peinliches dabei. Als gäbe es nichts Dringendes zu besprechen, nach all den Jahren, nach einer Trennung, die dramatischer nicht hätte sein können. 
"Ich bin nicht eure Mutter. Nicht eure leibliche Mutter. Und er war nicht euer Vater." 
War er nicht. Wir also sind adoptiert, hatten sie gedacht. Mit Nachforschungen gedroht. 
"Ihr könnt nicht zu den Behörden gehen", hatte die Frau erklärt, die nicht ihre Mutter war. "Weil es uns nicht gibt. Keinen von uns. Alles ist gefälscht." 
Sie hatte für Ruhe gesorgt und ein letztes Gespräch am Esstisch: Dass ihr Verschwinden, gleich dem des Vaters, der keiner war, von langer Hand vorbereitet sei. Ihre Existenzen in Dateien der Behörden gut vernetzt und dokumentiert. Nur dass nichts davon einer Überprüfung standhalten würde. "Ihr könnt hingehen. Nachforschungen fordern." Das bliebe aber zweifellos ohne Erfolg. Dafür sei vor langer Zeit gesorgt worden. Sie wären dann  nicht mehr vorhanden, sozusagen. Elternlos sowieso. Sternchen und Schnuppe. "Wie vom Himmel gefallen." Sie hatte durchaus boshaft dazu gelacht. Der Running Gag des Vaters, der so nett gelungen hatte, so harmlos, so liebevoll. 
Sie hatten sich entschieden. Gegen das Gefühl. Für einander. Als Brüderchen und Schwesterchen. Seitdem. Immerdar. Wie im Märchen. Nur dass die böse Stiefmutter keine war, nur so aussah, so wunderschön.
Schnuppe schloss den Wagen auf. Sie nahm wie selbstverständlich vorne auf dem Beifahrersitz Platz. Schnuppe hielt Sternchen den Schlüssel hin: "Willst du...?" Sie schüttelte den Kopf. Sie setzte sich auf die Rückbank, direkt hinter die Frau. Sie presste sich so eng gegen die Tür, dass kein Blickkontakt im Rückspiegel möglich war. Um Sternchen anzuschauen, hätte die Frau sich heftig verrenken müssen. Fluchtreflexe. 
"Hier wird immer gebaut.", sagte die Frau, als sie am Flughafen vorbeifuhren.
Schnuppe nickte. 
Die Frau schwieg. Sternchen lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Schnuppe sah stur nach vorn. 
"Ich hoffe, ihr habt ein Gästezimmer.", sagte die Frau, als Schnuppe die Ausfahrt nahm. Ihre Stimme war jetzt ein bisschen zu hoch. Ob sie doch ein Herz hatte?
"Du wohnst bei keinem von uns. Wir haben dir ein Zimmer im Hessischen Hof gebucht."
Darauf antwortete sie erstmal nicht. War sie irritiert? Sie ließ sich nichts anmerken. Dann sagte sie etwas, was Schnuppe und Sternchen überraschte:
"Das kann ich mir nicht leisten."
Schnuppe räusperte sich. Sternchen hob den Kopf. Was sollte das heißen? Dass die Frau Geld hatte, einen Auftrag, ein System, das hinter ihr stand, schier endlose Ressourcen, das war doch ausgemacht gewesen. 
"Ich habe auf diesen Namen keinen Kredit mehr."
"Warum hast du nichts Bares mitgebracht, wenn das so ist?", Sternchen war sauer. Hatte diese Frau ernsthaft gedacht, sie könne sich bei ihr oder Schnuppe einquartieren. Happy Family spielen. Oder was?
"Ich bin im Moment etwas abgeschnitten von meinen Quellen." Sie klang nicht hilflos. Sie gab sich Mühe, unverfroren und forsch zu bleiben. Aber Schnuppe und Sternchen hatten es gecheckt: Das war es also. Sie wollte bei ihnen unterkriechen.
Schnuppe drehte sich ein wenig zu Sternchen herum, suchte ihren Blick.
"Zwei Tage", sagte er dann. "Du kannst zwei Tage im Hotel bleiben. Das zahle ich. Und dann siehst du weiter. Wie auch immer. Aber nicht bei uns. Nicht mit uns."
Die Frau schien zu nicken.
Das kann ja heiter werden, dachte Sternchen. Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.


Mittwoch, 14. August 2013

ANFLUG (aus: STERNCHEN UND SCHNUPPE. Familienroman aus der Zukunft)




Der Flug erschien ihr endlos. Lili bildete sich ein, dass der Flieger nun schon zum sechsten oder siebten Mal dieselbe Schleife über das Maintal flog. Mein Wille geschehe...., murmelte sie. Wir wollten Schicksal spielen. So schön waren wir, stolze Gebirgsadler, die aus der Höhe herabstießen in eleganten Kreisbewegungen, um die alten Muster auseinanderzubrechen und zu neuen Formen zusammenzuwürfeln. Wie wir uns selbst bejubelten. Denn sie wissen nicht, was sie tun...Lilis Lächeln war ohne Milde. Es wäre gut gewesen, wenn sie sich überschätzt hätten. Stattdessen hatten sie getan, was sie konnten und das war nicht wenig gewesen.

Was wollte sie? Warum hatte sie sich zuletzt doch zu diesem Treffen entschlossen? Kein Tumor zerfraß ihre Eingeweide, kein Herzstillstand, keine Lebensmittelvergiftung hatte sie – beinahe – zu Tode erschreckt. Den Entschluss hatte sie plötzlich gefasst, ohne jeden Anlass. Oder vielleicht war er über die Jahre in ihr gereift. Dein Gewissen. Ein Wort, das Adam oft in den Mund genommen hatte. Sie mied es, wie der Teufel das Weihwasser. (Der Vergleich war gut.) Sie hatte sich nicht schlaflos durch die Nächte gequält, keine innere Stimme hatte ihr befohlen: „Du musst es ihnen sagen.“ Sie war sich auch immer noch nicht sicher, während die Maschine aus Mallorca über dem Fraport kreiste, was sie den beiden tatsächlich verraten würde. Sie ahnten etwas. Kinder spüren das. „Auch diese Kinder?“, hatte Adam gefragt und die Augenbrauen hoch gezogen, auf diese typische Adam-Weise, die sie schon immer rasend gemacht hatte. Wie gut, dass wir niemals ein Liebespaar waren. Nur Eltern. Wir haben Eltern gespielt. Vater. Mutter. Sohn. Tochter. Schnuppe und Sternchen. Sie konnte nicht verhindern, beim Gedanken an die beiden Kosenamen die Lippen verächtlich zu schürzen. So was dachte Adam sich aus. Wie vom Himmel gefallen. Wünsch dir was. Und trotzdem: Adam und sie waren Risiken eingegangen, um diesen Kindern ein normales Familienleben zu ermöglichen. Was ist schon normal? Sie haben es immer gespürt. Dass etwas nicht stimmt. Mit ihnen. Mit uns. Am Ende hatte Adam genug. Oder wollte nicht länger die Verantwortung übernehmen. Für das, was sich anbahnte, schon so lange angebahnt hatte. Sie hatte es kommen sehen wie er und doch hatten sie niemals darüber gesprochen. Das war nicht im Plan gewesen. Was ist so schlimm daran? Lass sie doch. Sie sind nicht blutsverwandt. Da hatte Adam zugeschlagen. Und war gegangen. Seither hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Adam war verschwunden. Als habe die Hölle ihn verschluckt. Ob sie ihn gefunden hatten? Ob er zu denen zurückgegangen war? Gab es die Einheit noch? Lili wusste es nicht und wollte es auch nicht wissen. Low profile. Sie vermisste ihn nicht. Machte sie sich weis. Es gab möglicherweise gar niemanden mehr, der es noch wusste. Es war nicht geschehen, wenn sie es nicht aussprach. Nur ein Gedanken-Experiment. Fiktionen. Schnuppe und Sternchen. Wie vom Himmel gefallen.

Das Flugzeug setzte zur Landung an. Lili hatte nicht einmal bemerkt, wie es in den letzten Minuten an Höhe verloren hatte. Sie atmete tief aus und normalisierte ihren Herzschlag, wie sie es gelernt hatte. Die Ruhe zu bewahren ist das Wichtigste. Nur wer seinen eigenen Körper kontrolliert, beherrscht die Situation. Lili stopfte ihre Handtasche immer neben sich in den Sitz. Schmal genug war sie ja. Niemals würde sie sich von ihren Papieren trennen, von den Pässen nicht und vor allem nicht von der Urkunde, die sie dabei hatte, eine geschickte Fälschung, die sie vielleicht zum Einsatz bringen würde, vielleicht auch nicht. Zielsicher zog sie das Dokument aus der Tasche, das sie gleich vorweisen musste. Einen Perso der Bundesrepublik Deutschland auf den Namen Marie Himmelreich. Das war der Name, unter dem Sternchen und Schnuppe die Frau kannten, die sie für ihre Mutter hielten. 


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Das Projekt "STERNCHEN UND SCHNIPP  wächst. Und ist darum jetzt auch (mit neuem Untertitel) in der Cloud in richtiger Reihenfolge eingestellt.
STERNCHEN UND SCHNUPPE. Familienroman der Zukunft
Dort finden sich auch weitere längere Erzählungen, die im Blog als Serien erschienen sind und weiter erscheinen:
FABELWESEN. Erotische Fiktionen
AUTO. Logik.Lüge.Libido. Biographische Fiktionen
GESCHICHTEN VON FRAU K. 
DER ANDERE/DIE ANDERE. Eine Wintererzählung 
BAADER, ENSSLIN UND DIE ZWERGWERFER. Eine phantastisch-philosophische Moritat
FRAUENSACHEN. Vier Frauen, Sex und der Tod
PANI TAU
WILDERMUTHS ELBIN
(Falls jemandem der Lesestoff mal ausgeht...)
Rausgenommen aus der Cloud habe ich das Fragment von PUNK PYGMALION. Der Roman befindet sich nämlich in der Überarbeitung für eine Druckfassung. 

Dienstag, 2. Juli 2013

COUNT DOWN (aus: STERNCHEN UND SCHNUPPE. Familienroman der Zukunft)

"Diese Frau", dachte Sternchen. Statt "Mama". Wir haben keine Mutter. Unsere Mutter hat uns um unseren Vater betrogen. Aber vielleicht war auch das gelogen. Niemand konnte ihr trauen. Wir am allerwenigsten, denn uns hat sie lieben lassen, mit uns ist sie über den Boden gerobbt, uns hat sie im Bett geknuddelt, uns hat sie die Haare gestrubbelt. Wir waren ihr verfallen, lange bevor wir denken konnten: "Schöne Mama." Denn schön war sie auch. Ein Bild von einer Frau und Mutter. Wir standen ihr gut zu Gesicht. Sternchen strich sich die Haare aus der Stirn. 

"Ich will sie nicht sehen." 
Schnuppe und sie waren in einem Leihwagen auf dem Weg zum Fraport. 
"Das fällt dir früh ein."
"Und du?"
"Ich wollte von Anfang an nicht. Ich wünschte, diese Frau hielte sich aus unserem Leben heraus."
"Unsere Mutter."
"Um diesen Namen hat sie sich selbst gebracht."
"Konntest du dir jemals vorstellen, wie sie uns geboren hat?"
"Das tat sie nicht."
"Wir könnten uns irren. Wir könnten alles falsch verstanden haben. Wenn das ein Science fiction-Roman wäre."
Schnuppe lachte. 
"Ein sehr altmodischer. Ein traditioneller Familien-Roman mit Scifi-Einschlag, oder was?"
"Wollen wir umkehren?"
"Wir ziehen das jetzt durch."
"Sie wird nichts sagen. Sie wird so tun, als sei alles in Ordnung."

Sie schwiegen. Schnuppe und Sternchen auf dem Weg zum Rendezvous mit ihrer Mutter, die sie Jahre lang nicht gesehen hatten. Beide spürten im Unterleib das hässliche Gefühl, das sich ausbreitete, wenn Magen und Darm rebellierten. Sie hätten Ausreden erfinden können. Aber sie hatten zu lange gewartet, um noch einen Rückzieher zu machen, eines auf des anderen Reaktion. Wie viel Mut brauchten sie, um diese Frau zu treffen? Wir wollen sie schuldig sprechen, um unsere eigenen Taten zu vergessen. Er ging nicht, weil sie es verriet. Er ging, weil er uns beobachtet hatte. Er wagte es, sie zur Rede zu stellen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Und wir auch nicht. Keiner von uns hatte geahnt, dass er allein zusammenhielt, was für uns ´Familie´  ist. War. Familie war. Waren wir einmal eine Familie? Mama, Papa, Schnuppe und Sternchen. Eine Fiktion. Wir wissen nur noch nicht, wer sie erfunden hat. Er oder sie? Wir? Eine andere? Wer steckt hinter unserem Leben?

"Was ist", unterbrach Sternchen das Schweigen, "wenn es uns gar nicht gibt?"
Schnuppe schnaubte.
"Ich meine, nicht so, wie wir uns kennen. Wenn wir nur eine Erfindung sind. Die sie gebraucht haben."
Schnuppe rieb sich das Kinn.
"Ich glaube nicht an Verschwörungstheorien. Ich glaube an den sinnlosen Zufall. Und daran, dass wir zu weit gegangen sind. Und seither bezahlen. Ich glaube an die Schuld."
Sternchen schwieg. Sie glaubte das nicht. Das trennte sie. Aber sie konnte sich eine Trennung von Schnuppe nicht leisten. Und umgekehrt. Darin zumindest waren sie sich einig und sicher. 

Schnuppe fuhr den Wagen ins Parkhaus. Sie nahmen einen Fahrstuhl in die Halle A. Auf dem großen Display fanden sie den Flug aus Mallorca schnell. Er war bereits gelandet. Sternchen griff nach Schnuppes Hand. "Es ist soweit."

Freitag, 10. Mai 2013

BELÄSTIGUNG (aus: STERNCHEN UND SCHNUPPE. Familienroman der Zukunft)


Als Schnuppe ihr sagte, sie solle das Licht runter dimmen, wusste Sternchen, dass auch er den Anruf erhalten hatte. Darüber würden sie reden müssen. Aber noch nicht, weil es so offensichtlich war, wie Schnuppe ihr auswich. Er hatte sie nicht ein einziges Mal angesehen, seit sie in die Küche gekommen war. Sie hatten zusammen Gemüse für den Wok geschnippelt, aber Schnuppe hatte es geschafft, Sternchens Augenpaar auszuweichen, als sie ihn gefragt hatte, ob sie die roten Paprika schneiden solle oder als sie den Kühlschrank geöffnet hatte, sich ein Bier rausgenommen und ihm auch eines gereicht oder als sie ihn gefragt hatte: „Reis- oder Eiernudeln?“ Jetzt saßen sie am Tisch, den großen Wok in der Mitte zwischen sich, im Dämmerlicht. Den Kopf hielt Schnuppe tief über den Teller gebeugt und hob ihn auch nicht, als er fragte:
„Neues von deinem Alex?“
„Das ist nicht mein Alex.“
„´tschuldigung. Ist der Spanner wieder aufgetaucht?“
„Was denkst du? So schnell kann er nicht aufgeben.“
„Total verschossen in dich, der arme alte Mann.“
Sternchen verzog den Mund.
„Der interessiert sich doch gar nicht für mich. Der ist gekränkt und will sich rächen. Es passt nicht in sein ambitioniertes Selbstbild, wenn eine kleine Yoga-Maus wie ich ihn zurückweist.“
Schnuppe lachte.
„Süße Yoga-Maus.“
„Er war im Studio.“
Schnuppe ließ die Gabel fallen.
„Das geht jetzt aber zu weit. Dass er dich bis zur Arbeit verfolgt.“
„Na ja, er hätte sich ja für einen Kurs anmelden können.“ Sternchen lachte. „Wenn er Yoga nicht so bekloppt fände, wie er nicht aufhören kann, mir per Mail mitzuteilen. Eine Agentin des kapitalistischen Programms zur Selbstoptimierung der gehirnamputierten Massen hat er mich genannt. Mit ein bisschen Verrenkung plus Esoterik die Ichschwächen ausnutzend, um den Kitsch als eine Parodie der Katharsis zu verbreiten. Oder so ähnlich. Das ist doch niedlich.“
„Dabei könnte es ihm gut tun. Ziemlich steif in den Hüften wirkte der auf mich. Und haltlos. Im Rückgrat.“
„Der Geist braucht keinen schönen Körper. Außer wenn es eine Frau ist, die man ficken will. Da soll der schöne Geist sich in schönen Kurven manifestieren.“
„Und dann stößt er auf so ein geistloses Geschöpf wie dich.“
Sternchen drohte Schnuppe mit der Gabel.
„Ich verbinde mich täglich mit der höheren Macht.“
Schnuppe schnaubte.
„Und was wollte er da bei euch?“
„Seinen Sermon noch mal und immer wieder an die Frau bringen. Es war aber Nicole, die ihn in Empfang genommen hat.“
Schnuppe war begeistert.
„Genau die Richtige.“
„Sie hat Mantras für ihn gesungen. Zur Beruhigung. Er ist beinahe durchgedreht. Das war ja alles genau, wie er es sich vorgestellt hat. Die Hirnlosigkeit. Der Eskapismus. Die Wischiwaschi-Freundlichkeit. Das Om.“
Schnuppe musste trotz seiner inneren Anspannung schallend lachend.
„Und dann?“
„Kam, was er nicht erwartet hatte. Kolja.“
Schnuppe schluckte. Er war am Anfang sehr verliebt in den gut aussehenden Riesen gewesen.
„Kolja stand in der Tür und sah ihn einfach nur an. Auf Kolja-Weise. So sanft, so kraftvoll. Der schrie weiter. Bis er merkte, dass er angeschaut wurde. Von oben bis unten. Von unten nach oben. Wie Kolja um den rum ging. So besorgt den Kopf schüttelte. Da war er still.“
„Wo warst du denn die ganze Zeit?“
„Im Übungsraum. Zu überhören war er ja nicht. Ich dachte, Nicole wird schon mit ihm fertig. Aber als er so plötzlich stumm wurde, ging ich raus.“
„Und?“
„Kolja stellte sich ganz dicht vor ihn und blickte ihm tief in die Augen, leckte sich die Lippen und legte ihm dann sacht die Hände auf die Schultern.“
„Sexual harrassment.“, murmelte Schnuppe.
„Ach, komm schon.“, Sternchen wollte sich die Story nicht verderben lassen. „Er sagte, nein, eher flüsterte Kolja: ´Du könntest ein ganz Süßer werden, wenn du ein bisschen mehr Haltung hättest. In meinem Kurs trainiere ich dir in 8 Wochen einen unübertroffenen Knackarsch an.“
Schnuppe verdrehte die Augen.
„Ich weiß. Ich weiß. Geht gar nicht. Kolja ist ein Arsch. Trotzdem war es befriedigend zu sehen, wie ein Arsch auf den anderen trifft. Und ehrlich gesagt: Meine Sympathien sind nicht ganz gerecht verteilt.“
„Kolja ist ein Macker-Typ und ein Drecksack, ganz egal, ob er schwul ist oder nicht.“
Längst hatte der schöne Kolja seine Anziehungskraft auf Schnuppe eingebüßt. Dazu hatte ein einziger Abend im Whiskey A-Go-Go genügt. Er war schön anzuschauen, aber sobald er den Mund aufmachte, kräuselten sich einem die Zehennägel.
„Da hat Alex das Weite gesucht, vermute ich. Dem schwitzt die Stock-Hetero-Orientierung doch aus allen Poren.“
Sternchen kicherte. „Aber hallo. Der war weg wie nix.“
„Wann war das?“
„Vorgestern. Er wartete dann noch vor dem Studio im Auto. Aber ich habe mich von Kolja heimfahren lassen und mich ziemlich euphorisch vor dem Haus von ihm verabschiedet. Seitdem hat er sich weder blicken lassen, noch etwas geschickt. Nur meinen Blog klickt er weiter an.“
Schnuppe schüttelte sich. „Du hast dich von Kolja anfassen lassen?“
„Der will doch nix von mir. Wie du ganz genau weißt. Das war nur für den Spanner.“
„Trotzdem: Eklig.“
„Vielleicht stelle ich noch ein Foto von Kolja auf meinen Blog. Um den endlich auch da los zu werden. Ich merk´, wie mich das stört, obwohl er ja gar nichts macht. Es stört mich einfach zu wissen, dass er sich immer noch an mich ranhängt.“
„Wenn du das machst, sind wir geschiedene Leute, Sternchen. Das geht gar nicht. Kolja.“
„Als Traummann?“ Sternchen gefielt die Idee. „Ich müsste ihn natürlich für ein Foto inszenieren. Sich vorbeugen lassen. In einem engen Hemd, so dass die Muskeln in den Oberarme  angedeutet werden. Die Arme verschränkt. Den Kopf etwas gesenkt.“
„Wie ein Bulle im Angriffmodus?“
„Nein, mehr ´brooding´. ´Brooding Darcy´.“
„Kolja? No way. Was soll denn da grübeln? Ein bisschen Hirnmasse ist schon nötig.“
„Du bist gemein. So schlimm ist er gar nicht. Auch wenn du dich in ihm getäuscht hast.“
„Ein Macker.“
„Ok. Ok. Meine Nachsicht hat bestimmt damit zu tun, dass mich sein Mackertum nicht trifft. Nicht betrifft. Dass ich nicht in sein Beuteschema falle. Wie du.“
Sternchen suchte Schnuppes Blick. Zum ersten Mal an diesem Abend wich er ihr nicht aus. Sie sahen sich lange an. Schweigend. Das vermiedene Gespräch, das sie mit dem Unsinn über den Spanner und den Macker zugedeckt hatte, trugen sie als Augenblick aus, hellwach, messerscharf, schmerzfrei. Oder sie bildeten sich wechselseitig ein, sie hätten sich in diesen Blicken verständigt. Sie waren sich so sicher. Oder sie hofften beide, es zu sein. Mehr noch fürchteten sie es. Schnuppe atmete tief durch.
„Sie hat dich also auch angerufen.“
„Ja.“
„Dass sie kommt. Nächste Woche.“
„Ja.“
„Und?“
„Wir werden sehen.“
Schnuppe nickte. Sie würden sehen. Sie hatten immer gesehen. Was die andere fühlte, was der andere dachte. Sie hatten nichts gesehen. Wie es weitergehen sollte. Was nötig war. Oder unmöglich. Sie waren ausgewichen. Einander. Der Mutter. Seit jenem furchtbaren Tag. Von dem an alles anders gewesen war und doch geblieben. Der Vater ausgezogen und nicht wiedergesehen. Die Mutter nach Mallorca abgehauen. Sternchen und Schnuppe, verwaist, aber immer beieinander. Einander so fern, so nah. „Ich komme am Dienstag. Um 18.30 Uhr am Terminal 1.“, hatte die am Telefon gesagt. „Wir müssen reden.“ Nach all den Jahren.

Sie wuschen das Geschirr ab. Das hatten sie nicht klären müssen, dass die Spülmaschine heute leer blieb. Sie schwiegen, arbeiteten Hand in Hand, ganz buchstäblich. „Ich muss jetzt gehen“, sagte Sternchen und stand unschlüssig herum, das Abtrockentuch noch in der Hand. Schnuppe räusperte sich. Er senkte sein Kinn in ihr Haar herab, nur einen winzigen Moment. „Geh“, flüsterte er. Sternchen ließ das Tuch fallen und rannte zur Tür. Wie auf der Flucht. Heftig trat sie in die Pedale, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Schnuppe schluchzte sich in den Schlaf.

Donnerstag, 18. April 2013

ALLES LÜGE (aus: STERNCHEN UND SCHNUPPE. Familienroman der Zukunft)


„Achtung. Er ist hinter uns. Dreh dich nicht um.“
Schnuppe schreckte aus seinen Tagträumen auf. Er raffte es nicht gleich.
„Wer?“
„Alex. Der Typ. Von dem ich dir erzählt habe.“
„Der Erklärbär? Der Austens Romane nicht gelesen hat?“
Es war sonderbar, dachte Schnuppe, was sich ihm eingeprägt hatte aus den weitschweifigen Erzählungen Sternchens über diesen Alex. Dass der Jane Austens Romane nicht gelesen hatte, war für Schnuppe entscheidend gewesen. Es beruhigte ihn ungemein. Ein Mann, der nicht sagen konnte: ´In vain have I struggled. It will not do. My feelings will not be repressed. You must allow me to tell you how ardently I admire and love you.´, würde bei Sternchen niemals landen können. Das hätte er, der liebende Bruder, dem gleich sagen können. Da konnte der soviel guten Wein oder gediegenen Witz auffahren, wie er wollte. Sternchen hatte ihre Standards und die zu unterbieten, hätte der nur wagen können, wäre er Atomphysiker gewesen. War er aber nicht, sondern ging Tag ein, Tag aus in ein austauschbares Bürogebäude in Niederrad, um Kreditkarten zu verkaufen. Oder so was ähnliches, Schnuppe musste zugeben, dass er Sternchen an dieser Stelle nicht genau genug zugehört hatte. Irgendwas mit Marketing machte der, einen, wie Sternchen ihn nachäffte „Nine-to-five-Job“, ein Ausdruck, den Schnuppe noch nie gehört hatte und der ihm den, von allem anderen, von dem er sowieso nicht und niemals hätte absehen können, noch mal besonders und ganz speziell unsympathisch machte. 

Schnuppe hatte, bevor Sternchen ihn mit „Achtung“ unterbrach, vor seinem inneren Auge die Farben der Scheinwerfer ausprobiert, in deren Lichtkegel er die Tänzer zu hüllen gedachte. Er hatte sich vorgenommen, den Kritikern eins in die Fresse zu geben, indem er die „Minna“, die als nächstes auf dem Spielplan stand („Wir müssen immer auch zweidrei Stücke aus dem Repertoire machen.“) und die er ohnehin am meisten von Lessings Dramen liebte, als Nummernrevue aufzuführen. "In your face!“, dachte er und vor seinen Augen flimmerte es pink und türkis und gelb.

Sternchen sagt: „Vielleicht sollten wir aufsteigen und ihm einfach davon fahren.“ Schnuppe hob den Kopf und schob die Sonnenbrille über die Stirn, während er mit der anderen Hand sein Fahrrad in der Balance hielt. Sternchen und er hatten sich am ersten warmen Frühlingssonntag im Park getroffen und schoben nun ihre Räder die überfüllten Gehwege entlang, weil toutes Frankfurt es ihnen gleichtat und entweder hier im Grüneburgpark oder am Mainufer die Sonne genoss.

„Das Recht, im Park zu flanieren, kannst du ihm nicht absprechen.“
„Nee“, sagte Sternchen, „aber er ist mir gefolgt. Er lungert schon den ganzen Morgen in dem Café rum, das meiner Wohnung gegenüber aufgemacht hat.“
„Warum hast du nix gesagt? Ich hätte den...“
Schnuppe wollte herumfahren, um sich diesen Einfaltspinsel mal zu greifen, aber Sternchen hielt ihn am Ärmel fest.
„Gestern Nacht hat er mich wieder angenervt.“
„Du telefonierst noch mit dem?“
„Quatsch, der spricht auf den Anrufbeantworter. Oder schickt Mails. Bei Facebook hab´ ich ihn geblockt.“
„Und was sagt er?“
„Dass ich unterbelichtet bin. Was ihm leider gleich aufgefallen sei. Ein hübsches Püppchen, dem die intellektuelle Reife fehle. Was es, das Püppchen, zu vertuschen versucht, durch aufgeblasenes Gerede. Sagt er.“
Schnuppe staunte nicht schlecht.
„Das ist gut. Hast du dem die Intellektuelle vorgespielt? Echt? Du, die Körperkneterin.“

Sternchen zog eine Schnute. Aber nur zum Spaß. Das Thema hatten sie durch. Oder gar nicht erst angefangen damit. Sie hatte nie studieren wollen. An der Uni rumhängen und über Sachen reden, das war nix für sie. Sternchen musste was machen, sich bewegen, andere bewegen. Spüren, wie sie wirkte. Sie hätte in eine Schreinerlehre gehen können. Aber dann war es was anderes geworden. Und genau richtig für sie. Als Tänzer und Regisseur wusste Schnuppe die Körperbeherrschung, die sie erlernt hatte, zu würdigen, denn er erkannte nicht nur die Arbeit, sondern auch die Überwindung, die darin steckte. Als Bruder ahnte er, wie weit Sternchen über sich hinaus gewachsen war, um zu dieser Ruhe zu finden, die sie in ihren Asanas ausstrahlte. Und als Kranker hatte er von ihren therapeutischen Künsten schon mehr als einmal profitiert.

Schnuppe blieb stehen. Gerade wurde zu ihrer Linken eine Bank frei, weil zwei ältere Damen sich erhoben, um Handtaschen schwenkend in Richtung Park-Café zu trippeln. 
Wollen wir uns setzen?“
Sternchen kicherte.
„Damit du ihn dir angucken kannst?“

Schnuppe nickte und ließ sich auf die Bank fallen. Betont beiläufig schaute er sich um. Welcher könnte dieser Alex sein? Er fasste einen jungen Kerl in Shorts und Shirt ins Auge, der auf seinem Smartphone herumspielte. Zu jung, zu lange Haare, zu grelles Stirnband, dachte er. Nicht dass Sternchen da nicht drauf gestanden hätte. Der Altersabstand wäre o.k. gewesen. Auch Sternchen war noch nicht mal dreißig, dachte Schnuppe. Das sollte er nicht vergessen. Aber die ganze Erscheinung passte nicht zu den Erzählungen über diesen Alex, mit denen Sternchen ihm auf die Nerven gegangen war. Außer dass der Typ mit dem Stirnband zweifellos ebenfalls nicht Austen gelesen hatte. Oder? Schnuppe fixierte ihn. Ein Hauch von Bartstoppeln. Bequeme Sandalen. Schon voll auf Sommer umgestellt. Etwas Melancholie um die schmalen Lippen und den Ansatz einer Stirnfalte zwischen den Brauen. Vielleicht doch. Ein Grübler?

Sternchen beobachtete ihren Bruder amüsiert.
„Du fragst dich, wer es ist?“
Schnuppes Blick fiel auf einen Mann, der ihnen den Rücken zuwandte. Dunkler Anzug, glänzende schwarze Schuhe, dichtes blondes Haar, gut geschnitten Er wippte nervös auf und ab.
„Der?“
Schnuppe machte eine Bewegung mit dem Kinn. Sternchen kicherte. Der Typ hob die Hand und winkte einer Brünetten zu, die über die Rasenfläche auf ihn zu kam. Küsschen links, Küsschen rechts. Der also nicht.

Es blieb nur einer übrig und es hätte Schnuppe gleich klar sein müssen, dass der es war, der Einzige, der sich versteckte, hinter einem Gebüsch herumlungerte und einfach albern deplatziert wirkte in seiner für den warmen Tag viel zu schweren, abgewetzten Lederjacke, die nicht cool wirken konnte in Kombination mit den spießigen Halbschuhen, die er dazu trug und dem leichten Bauchansatz, der sich über seinem Gürtel abzeichnete. Am schlimmsten war freilich die Pilotenbrille, die das fliehende, kleine Kinn durch ihre Größe noch betonte.

„Was für ein Kümmerling“, sagte Schnuppe.
Dann rief er sich innerlich zur Ordnung. Er wusste, dass er nicht fair urteilen konnte. Er sah auch gar nicht genug von dem Typen im Gestrüpp, um ihn wirklich einschätzen zu können. Doch als Tänzer fielen ihm die herabfallenden Schultern und die schlechte Haltung auf. Dieser Mann hatte wenig Körper- und Selbstbewusstsein. Das passte aber gar nicht zu dem, was Sternchen erzählt hatte.

„Er teilt mir ständig mit, wie armselig ich bin. Meine Arbeit – Scharlatanerie, um die erbärmliche Erträglichkeitskultur aufrecht zu erhalten, durch die sich die durchrationalisierten Idioten ihre eigene Unerträglichkeit sedieren.“
„Zitierst du?“
Sternchen lachte.
„Heb´  das auf. Die Mails, meine ich. Das kann ich vielleicht noch mal verwenden.“
Sternchen schüttelte den Kopf.
„Er macht mir auch Angst. Diese Besessenheit. Er ist mindestens zehnmal täglich auf meiner Seite. Oft mehr.“
„Deinem Blog?“
Sternchen nickte.
„Ich seh´s an den Servern. Seine Firma hat einen eigenen. Daran erkenn ich den auf meinem Zähler. Das kann nur der sein; die Zugriffe von dort.“
„Willst du ihn anzeigen?“
„Das ist ja nicht verboten. Und die Mails. Das ist auch nicht so krass. Er beleidigt mich, aber nicht mit einschlägigen Schimpfworten. Das Übliche Männer-Getue halt: Verniedlichung und Pathologisierung. Es ist mehr die Häufigkeit und die Dauer, die mich beunruhigen.“
„Soll ich...?“
„Vielleicht. Aber nicht jetzt. Nicht heute. Nicht an so einem schönen Tag.“

Schnuppe legte seinen Arm über die Rücklehne der Bank. Sternchen kuschelte ihren Kopf an seine Schulter.Der Beobachter verzog sich aus dem Gebüsch. Schnuppe sah, wie er um eine Biegung verschwand. Er atmete durch. Er sollte den im Auge behalten. Er war schließlich der große Bruder. Aber er wusste auch, dass er aufpassen musste. Trotzdem konnte er sich nicht zurückhalten und platzte mit der Frage raus, die ihn umtrieb:

„Was fandest du denn an dem? Wieso triffst du so einen Deppen? Und der sieht nicht mal gut aus.“

Sternchen hätte ihm antworten können. Er wusste es doch genauso gut wie sie. Warum sie sich mit Männern traf, immer wieder. Warum sie manchmal sogar mit denen ins Bett ging. (Nicht mit Alex.) Warum sie nie mit einem zusammen blieb. Schnuppe wusste es, so wie sie es wusste. Aber daran rührten sie nicht.
„Ich gefiel ihm. Sehr. Du weißt, wie anziehend ich das finde. Wenn einer mir den Hof macht.“
Schnuppe knuffte sie in die Schulter.
„Was für´n altmodischer Ausdruck.“
Diese Klippe war umschifft. Schnuppe hätte das gar nicht fragen dürfen. Warum zog nie einer seiner Liebhaber bei ihm ein? Warum legte er sich auf One-Night-Stands fest?

Sie konnten nicht ohne einander, Sternchen und Schnuppe. Sie hatten es aber auch nie versucht. Sie waren auch niemals zusammen in eine Wohnung gezogen, seit sie die elterliche verlassen hatten. Aber immer zusammen umgezogen in die nächste Stadt: von Marburg nach Köln, von Köln nach Dublin, von Dublin nach Frankfurt. Aber keine gemeinsame Wohnung. Immer ein Anruf, bevor sie hochkam, weil sie ihn nicht mit einem unter der Dusche antreffen wollte. Immer sein Signalläuten, bevor er aufschloss, weil er sie nicht mit einem auf dem Sofa beim Knutschen überraschen wollte. 

Mit Sternchen, behauptete er, wenn er von seiner Schwester erzählte, kann ich über alles reden.

Nur Schnuppe und Sternchen selbst wussten, wie sehr das gelogen war.

Mittwoch, 13. März 2013

VERHUNZT (aus: STERNCHEN UND SCHNUPPE. Familienroman der Zukunft)


Schnuppe war schlechter Laune. Sternchen konnte es daran hören, wie er den Schlüssel ruckartig in Schloss steckte und mit wesentlich mehr Schmackes herumdrehte, als nötig war. Schnuppe hatte selbstverständlich einen Schlüssel. Ebenso selbstverständlich drang er nie in Sternchens Wohnung ein, ohne sie wenigstens kurz vorzuwarnen (außer wenn Sternchen unterwegs war und er dafür zuständig, ihre strubbeligen Gewächse zu pflegen). Schnuppe sendete ein Klingelzeichen, bevor er sein Rad unten im Hinterhof an den Ständer schloss und wenn Sternchen keine Lust oder Besuch hatte, schickte sie eine Raute zurück; das genügte. Dann schloss Schnuppe nicht ab, sondern setzte sich direkt wieder auf sein Rad und fuhr weiter oder heim. Früher war Schnuppe auch manchmal aufgetaucht, wenn Besuch bei Sternchen gewesen war, hatte freundlich mit dem Schlüssel geklappert und gefragt, was zum Abendessen gewünscht wurde. Aber Schnuppe und Sternchen hatten feststellen müssen, dass diese Auftritte auf Befremden und Abneigung stießen, die auch nur wenig oder gar nicht gemildert werden konnten durch Sternchens Beschwichtigung: „Das ist mein Bruder.“

Schnuppe war also schlechter Laune. Sternchen auch. Das konnte ja heiter werden. Sie nutzte die Chance, ihm zuvor zu kommen: „Ich geb´s auf. Ich hab die Schnauze voll.“ Schnuppe, der grade den Fahrradhelm abnahm, zog eine Schnute. So hatte er sich das nicht vorgestellt. So hatte er anfangen wollen. Er konterte: „Ich auch. Satt habe ich es bis oben hin.“ Schnuppe gab so schnell nicht auf. „Diese ewige Selbsterhöhung, dieses ganze Geseire. Als könnte man ohne diese öde Verblasenheit nicht leben. Als könnten es nicht die meisten. Als gäbe es irgendeinen Hinweis, dass Leute, die RTL2 gucken, unglücklicher sind.“ Schnuppe knallte den Helm auf den Tisch. „Als ging´s darum. Wer glücklicher ist. Mensch, Sternchen. Stell dich nicht dümmer als du bist. Der Verblendungszusammenhang.“ „Blabla. Die ganze Besserwisserschlauermeieroberdümmer-Kiste.“ Schnuppe musste lachen. „Darf ich mir das notieren?“ „Alle sind arm, fühlen sich aber wie die Milliardäre des Geistes.“ „Sternchen, ich hab keine Ahnung, wovon du redest.“ „Die Community. Der verkniffene Hohn. Die egomanischen Missachteten. Die ignoranten Unbeachteten. Die geizigen Un-Promovierten. Die Rechtsuchenden und –habenden. Und am meisten: die ewige Wiederholung des Rufes nach einer Gerechtigkeit, die es nicht geben kann und soll.“

 „Ach“, Schnuppe ließ sich in einen Sessel fallen. „Eine Netz-Krise. Da bin ich erleichtert.“ Sternchen riss den Mund auf. Dann schaute sie Schnuppe in die Augen und musste lachen. „Hast recht. Virtuelle Scheiße. Dreifach gequirlt. Und es gibt auch wirklich Ungerechtigkeit.“ „Ganz genau. Vergiss das nicht, Schwesterherz.“ „Bloß geht es mir nie um das, was eine verdient.“ „Ja, ja, sondern um das, was eine braucht. Das kenne ich schon. Das erzählst du mir dauernd. Und ich bin ja ganz deiner Meinung.“ Sternchen plumpste auf Sofa. „Das ist eigentlich eh nicht das Thema.  Ich bin sauer wegen Alex. Und dann klicke ich mich durch die Seiten der üblichen Verdächtigen und kotze.“ Schnuppe nahm sie genauer unter die Lupe. „Der Bademeister?“ Sternchen starrte ihn an. Dann klickte es. „Ja, der hättst-du-mir-gern-angedichtet,-is-es-aber-nicht - Fitnesstrainer. Der aber liest. Und viel weiß. Vor allem alles besser.“ „So einer.“ „Genau. Er interessiert sich brennend für alles, was mir am Arsch vorgeht.“ Schnuppe machte eine drohende Geste mit dem Zeigefinger. „Ist doch wahr. Ein Erklärbär. Du sagst ihm: ´Das ist nicht so mein Ding.´ und er erklärt dir zwei Stunden, warum das so wichtig ist. Relevanzkunde für Dummies.“ „Warum triffst du dich mit dem?“ „Er ist so herrlich egoistisch. Er interessiert sich null für Menschen. Nur für Sachen. Und Formen.“ Schnuppe zog die Augenbrauen hoch. „Viele Frauen finden selbstbewusste Egozentriker sexy. Ich bin da keine Ausnahme.“ „Aber er kennt doch Jane Austens Romane nicht.“ Sternchen lachte. „Nee. Ich kann eh sagen, was ich will, er landet immer bei Beckett. Oder Fourier.“ „Oh My God. Tom Townsend.“ "Nur 20 Jahre älter." "In dem Alter blättert der Sex-Appeal von so viel Ignoranz aber ab." Sie klatschten sich ab. „Schluss jetzt mit den Insider-Jokes.", mahnte Sternchen. "Und?“, fragte Schnuppe, wieder ernst geworden. „Ich tauche ab. Beobachte, wie sein Mund sich bewegt. Er zieht so schön die Augenbrauen hoch. Geh im Kopf meine Patientenliste durch.“ „Wo ist das Problem?“ „Er will mehr. Das wollen sie alle. Sie brauchen Verehrung. Sie wollen belehren – und die Illusion verstanden zu werden.“ „Na, dann gib´s ihm doch, wenn er so sexy ist.“ „Schnuppe! Ich kann das nicht. Ich bin zu zufrieden. Mit mir selbst. Ich gefall´ mir. Da kann ich mich nicht zum Opfer bringen. Die Muse spielen.“ Schnuppe dachte nach. „Warum auch? Warte auf einen Bademeister. Der trägt dich auf Händen.“ Sternchen schmunzelte. „Ich denk an was anderes.“ Schnuppe zauberte ein Fragezeichen in sein Gesicht. „Ein Koch.“ Schnuppes Miene verdüsterte sich. „Das wär dann das erste Mal, dass ich eifersüchtig wär´.“ Sternchen rieb sich demonstrativ die Hände: „Gut zu wissen.“ Sie veränderte ihren Gesichtsausdruck. „Aber er wird unangenehm. Dieser Alex. Seit ich ihm den Laufpass gegeben habe, macht er Telefonterror.“ Schnuppe streckte die Hand aus. „Komm her.“ „Er beschimpft mich. Und dann fängt er wieder an zu betteln. Er besucht meine Freunde. Reihum. Und labert sie zu. “ Sie setzte sich auf Schnuppes Schoß. „Bei mir war er noch nicht.“ „Das kommt noch. Bestimmt.“ „Da ist er richtig. Ich freu mich auf den. Ehrlich.“ Das war nicht viel. Das war nicht, was Sternchen hatte hören wollen. Das war jetzt aber mal genug.

Sie zupfte ihn am Ohrläppchen. „Und du? Warum hast du schlechte Laune?“ „Weiß nicht.“ Schnuppe hatte die Lust verloren. „Komm schon.“ Sternchen zupfte am andern Ohr. „Mein Buch.“ „Oh.“ „Ein Verriss.“ „Wo?“ „In der SZ.“ „Was steht drin?“ Schnuppe zog die Zeitung unter seinem Pullover hervor. Sie war schon so gefaltet, dass der Artikel über Schnuppes   Inszenierung oben auf lag: „Mehr ist nicht drin“, lautet der süffisante Titel. Sternchen überflog den Text. Der Name der Kritikerin sagte ihr nichts. Der Tenor war: In Schnuppes Version werde die klassische Dreiecksgeschichte nicht erzählt, sondern nur behauptet. Sternchen lachte falsch. „Sehr selbstreflexiv. Genau wie in dieser Besprechung.“ Die Figuren seien Typen, blieben ohne inneres Leben und zuletzt fehle der Darbietung eine klare Botschaft. „Nach zwei Stunden geht  der Zuschauer ratlos nach Hause.“ Sternchen warf die Zeitung auf den Boden. „Was willste mit Leuten, die ins Theater gehen lesen, um Botschaften zu empfangen? Mensch, Schnuppe. Die sollte morsen lernen.“ Schnuppe sackte in sich zusammen. „Vielleicht stimmt´s ja.“ Sternchen schüttelte den Kopf. Sie stand auf. „Ich mach uns jetzt mal Pasta.“

In der Küche lehnte Sternchen sich für einen Moment an den Kühlschrank. Ihr hatte Schnuppes Regiearbeit auch nicht gefallen. Alles so durchkonstruiert. Und gleichzeitig hektisch. Gesang. Gekreisch. Ausziehen. Anziehen. Sternchen mochte es, wenn alles beschaulicher war. Und illusionistischer. Sie lächelte. Was ich sehen will, findet Schnuppe antiquiert. Kostümtheater.  Fremde Welten. Er will den Vorhang zerreißen; ich will ihn aufgehen sehen. Was verstehe ich schon davon. Aber ich hätte da auch nicht am Ende applaudiert, wenn Schnuppe nicht mein Bruder wäre.

Schnuppe hob die Zeitung vom Boden auf, faltete sie sorgsam und steckte sie zurück unter seinen Pullover. Sternchen hatte Recht: Wie ernst konnte er eine Kritikerin nehmen, die eine „Botschaft“ verlangte?  Weniger Manierismen. Die kapierte gar nix. So war das. Der ganze Betrieb kotzte ihn an. Er schloss die Tür zu Sternchens Arbeitszimmer und deckte den Tisch für zwei. 

Sonntag, 24. Februar 2013

JANE SEXES UP (aus: STERNCHEN und SCHNUPPE. Familienroman der Zukunft)


„Wenn es dir zur Last wird, dann lass es sein.“, sagt Schnuppe. Er hat nicht nur recht und nicht immer, aber dieses Mal. Und dennoch. Was Schnuppe nicht begreift, ist die Idee der Pflicht. Dass Sternchen von dieser Idee zehrt. Ein Gericht, das sich niemals aufbraucht und doch immer als möglicher Spruch über ihr schwebt. (Sternchen liebt „Teekesselchen“.) Schnuppe dagegen hat noch nie an Pflichten geglaubt. Man tut was man kann, sagte Mama. Aber mehr nicht. „Was man auch lassen kann...“, ist Papas Credo. Sie leben nicht mehr zusammen: Schnuppe, Sternchen, Mama und Papa. Ein jedes ist seiner Wege gegangen. Die Tür stand immer offen. Sie rüttelten nie an den Gitterstäben. Es war, wie es war und es war gut so. Sternchen wohnt nur eine halbe Stunde mit dem Fahrrad von Schnuppe entfernt. Sie hängen eigentlich dauernd Eine in des Anderen Wohnung herum. So verkraulen sie die potentiellen Liebhaberinnen. Seit Jahren. Der Krieg, den sie nie führten, hat überall Spuren in den zwei mal Zwei-Zimmer-Wohnungen hinterlassen: Zettel an die Regalpfosten geklemmt, gemischtes Geschirr („Dein Blau, mein Grün.“), die gemeinsame Weinbestellung, zwiefache Unterstreichungen in den Büchern, seine Handschrift, ihr Gekrakel. Ihre Zufriedenheit mit dem, was sie aneinander haben, wird ihnen dauernd übel genommen.  „Es kommt nicht darauf an, was man hat, sondern was man ist.“ Schnuppe hängt immer noch in der Fromm-Schleife. Sie lacht: „Mir ist das schnuppe, Schnuppe.“ 

„Ich habe einen Kuchen gebacken.“ Warum sie das nicht überrascht? Sternchen kann nicht backen. Das hat immer der große Bruder gemacht. Dreilagige Torten, Sahneschnittchen, Eclairs, Schwanen-Windbeutel. Sternchen ist ein wenig enttäuscht von dem einfachen Marmorkuchen, der auf dem Küchentisch steht. „Noch warm?“, fragt sie. „Wie du ihn am liebsten hast.“ Schnuppe schneidet an. Mit der nächsten Frage schneidet er ihr mitten rein ins Pflichtenfleisch: „Warum schaltest du das Ding nicht einfach ab?“ Sternchen schaufelt Marmorkuchen ins lose Mundwerk, um es abzudichten. Sonst könnte dem Brüderlein etwas um die Ohren fliegen. Nur kein Kuchen. „Deine Illusion über freie Entscheidungen.“ „Ist ganz brauchbar.“ „Außer wenn man sie braucht.“ „Du machst es für dich. Wenn es dir nichts mehr bringt, lässt du es eben sein.“ „Es hat mir noch nie was gebracht. Ich  musste es machen.“ „Müssen kommt von Mus. In der Birne.“ „Aus Birne.“ „Ich kann dir ja den Stecker rausziehen. Wenn du´s allein nicht schaffst.“ „Das läuft ziemlich lang auf Batterie.“ „Oder den Router abklemmen.“ „Wag es nicht.“ Sternchen droht ihm mit der Kuchengabel. Es wäre aber eine Möglichkeit. Sich mal vom Netz nehmen lassen. Schafft sie das alleine wirklich nicht? Schnuppe schlägt seine Gabel an die ihre. Es klingt hohl. „Du machst es, solange du Mus hast. Oder Muse. Später kommt was anderes.“ „Wenn, dann...“ „So fing mal ´ne Reihe von Gedichten an.“ „Erinnere mich bloß nicht.“

„Was ganz anderes: Ich hab´ da einen Typ kennengelernt.“ „Bademeister?“ Sternchen macht ein Fragezeichengesicht. „Hätte ich dir mal gegönnt. Einen Bademeister-Typen. Oder Fitnesstrainer.“ „Die überlass ich dir.“ Schnuppe pfeift. „Danke sehr. Ich mag vor allem, wenn sie nicht lesen.“ „Du bist ein Drecksack, Schnuppe.“ „Wieso? Der ganze Stress. Das Gequatsche über Literatur. Das hab ich schon mit dir. Das reicht mir.“ Sternchen lacht. „Er liest. Aber ich glaub´ nicht, dass es was wird.“ Jetzt setzt Schnuppe sein Fragezeichen auf. „Er liest so Sachen. Und er kennt Jane Austen nicht.“ Schnuppe lacht. „Also, was: Liest Sachbücher über den tropischen Regenwald, oder was?“ „Nee, der liest schon Literatur. Aber Austen nicht.“ „Ein Mann, der liest, aber nicht Austen liest. Nee,  ehrlich, das geht gar nicht.“ „Außer er ist Bademeister oder Fitnesstrainer oder noch ganz jung und niedlich, wie Tom in ´Metropolitan´.“ „Schnuckelig.“ "Das ist aber jetzt ein Insider-Joke." Sternchen droht Schnuppe mit dem Zeigefinger. Schnuppe zuckt mit den Achseln. "Ist ja sonst keine hier."„Sternchen winkt ab. „Weißt du, ich habe mich noch nie in einen Typen verliebt, der Fitzwilliam Darcy nicht zitieren kann. Und liest, meine ich. Wenn er Atomphysiker ist, isses egal. Klar. Dann schon.“ „Du bist nicht sehr tolerant, mein Sternchen. Und Frauen? Verzeihst du es Frauen?“ „Ich kenne keine.“ „Was meinst du?“ „Frauen, die lesen, aber Austen nicht lesen und lieben.“ „Ach, komm schon.“ „Nee, echt.“ Schnuppe denkt nach. „Ich auch nicht. Wär´ auch irgendwie unattraktiv.“ „Wie bei einem Mann. Genau. Eben.“ Schnuppe denkt schon wieder nach. „Stimmt.“ „Man kann es akzeptieren, ignorieren, keine Frage. Aber es ist nicht sexy.“ „Kein bisschen.“

„Nimmst du noch ein Stück?“ Sternchen lädt sich den Teller mit einem Monsterstück Marmorkuchen voll. Der Schokoladenstrang ist noch ganz heiß und weich, gerade so, wie sie es mag. Sie leckt die Gabel ab. „We all know him to be a proud, unpleasant sort of man; but this would be nothing if you really liked him.” Sie deutet mit der Gabel auf Schnuppe: „Lieber Bruder.“ „“I am excessively diverted, kleine Schwester.“ „Wir erklären hiermit die Lektüre aller Romane von Jane Austen zur Menschenpflicht.“ Sie lassen ihre Gabeln aneinander klingen. „Aber nur für Bademeister, Fitnesstrainer und süße Rothaarige.“ 

Montag, 21. Januar 2013

POST-FROMM (aus: STERNCHEN UND SCHNUPPE. Familienroman der Zukunft)

"Schnuppe sind mir alle, die sich mit Verve gegen die Wirklichkeit für die Wahrheit entscheiden.", sagte sie. "Ach, Sternchen.", antwortete er. Ihm schossen Namen durch den Sinn: Pol Pot, zum Beispiel, oder Mao Zedong und Jahreszahlen: 1845, "potato famine" oder 1999 der sogenannte "Völkermord im Kosovo". Religion, Ideologie, Philosophie - Theorien, denen die Welt nicht genügte, an denen sie gar regelmäßig und schmerzlich versagte, wofür sie dann bestraft gehörte. Da die Welt selbst sich den Sanktionen jedoch notwendig entzog, mussten weltliche Menschen die Strafen der Gläubigen und Wissenden auf sich nehmen: Bauern, Bäckerinnen, Brückenbauer, Krankenpfleger, Ärztinnen, Büroangestellte, Bauern, Händlerinnen, Mütter und Väter, Onkel und Tanten, Großeltern und Kinder. Alle, die etwas zu tun hatten und schon mal damit anfingen, alle, die bloß lasen, um sich zu unterhalten, alle, die eine andere als die Wahrheit glaubten und verkündeten, alle, die beim Jenseits an Wolfis Kneipe dachten - und immer wieder: die meisten. 

"Es gibt", sagte er, "Idealisten und Materialisten". Sie lächelte. Jetzt hält er mir einen Vortrag, dachte sie. Aber er schwieg. Kommt jetzt wieder der Satz, dachte sie: "Es ist, wie es ist, und es ist fürchterlich." Er schwieg. Oder: "Nur Menschen können nachhaltigen Ekel erzeugen." Oder: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." (Um Himmels willen!) Sie nahm noch ein Stück vom Schokoladenkuchen. "Der ist dir gut gelungen, diesmal.", sagte sie. Er lächelte. Und schwieg. "Nicht zu krümelig. Nicht zu trocken." Sie zerlegte ihr Stück mit der Gabel in kleine Bissen. Ich könnte, dachte sie, den halben Kuchen aufessen. Ohne Weiteres. Sie hatte sich aber entschlossen, sich den herrschenden Schönheitsidealen zu unterwerfen und die Fettschicht auf ihren Hüften auf ein MInimum zu beschränken. "Ganz ohne Idealismus?" Sie warf das so hin. Und schob sich schnell ein Schokostückchen in den Mund. Ellipsen. Manchmal muss man auf Ellipsen ausweichen. Aus Selbsterhaltungsgründen. Als Ausweichmanöver. "Gibt´s", sagte er. Sie fing sein Lächeln auf. (Alles wird gut!). "Ich mag ihn ja am liebsten mit Guss.", sagte sie. "Auch wenn ich dann höchstens zwei..." Er nahm den Kuchenteller vom Tisch und trug ihn in die Küche. Sie schaute ihm bedauernd hinterher. Er meinte es gut, das durfte sie nie vergessen. 

Als er zurückkam, schlang sie die Zipfel ihres bunten Schals durch die Schlinge, die sie sich um den Hals gezogen hatte. "Eisig draußen.", sagte sie. "Ich mach mich dann mal auf den Weg. Bevor es zu dunkel wird." "Haste dein Licht immer noch nicht repariert?" Sie zuckte die Achseln. "Echt. Wer so viel wie du mit dem Fahrrad unterwegs ist..." "Machst du jetzt einen auf Mama?" Er grinste. "Es kommt aufs Sein an, meine Liebe, nicht aufs Haben." Sie war irritiert. Dann ging ihr ein Licht auf: "Erich Fromm?" Er lachte. "Erinnerst du dich?" "An Larry?" Sie zog eine Schnute, äffte dessen apodiktische Sprechweise nach: "Fromm? Instant-Philosophie für verschreckte Kleinbürger." Er lachte. "An den habe ich lange nicht mehr gedacht." "Ich hab den gern gelesen. Fromm, meine ich. Mit siebzehn." Sie standen an der Tür. "Bis denn." "Ich ruf dich morgen an."

Sie sprang die Stufen hinunter. Es war kalt. Es regnete heftig. Sie zog die gelbe Regenjacke enger um sich und die Strickmütze tiefer in die Stirn. Sie musste gegen den Wind anstrampeln, als sie über die Brücke fuhr. Die fetten, eisigen Tropfen schlugen ihr ins Gesicht. Man braucht Visionen, dachte sie. Hatte Fromm nicht so was geschrieben? Nicht wörtlich, wahrscheinlich. Wer Visionen hat, gehört in die Anstalt. Daran erinnerte sie sich. Und an den, der das gesagt hatte. Der lebte immer noch, oder? Sie schüttelte die Mütze aus, als sie bei sich im Flur stand. Sie hatte die Heizung im Wohnraum angelassen. (Verschwendung? Glück!) Sie seufzte erleichtert. Jetzt einen Tee. Sie setzte den Wasserkocher auf. Während das Wasser begann zu brodeln, suchte sie die Regalmeter nach dem schmalen Band von Fromm ab, den sie besessen hatte, aber sie fand ihn nicht. Als sie das Wasser über die Teebeutel goss, erinnerte sie sich: Sie hatte den entsorgt, beim vorletzten Umzug.