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Freitag, 28. Oktober 2022

SONST NICHTS. Über Najat El Hachmis Roman "Am Montag werden sie uns lieben"

In der Welt, in der Najat El Hachmis Ich-Erzählerin Naima aufwächst, müssen Mädchen und Frauen selbst um die Freiheit ihrer Träume kämpfen. Denn auch in die Träume schleichen sich die Zwänge ein, auch die Träume sind geprägt von den Forderungen der partriarchalischen, muslimisch-marokkanischen Einwandererkultur in einer Vorstadt von Barcelona und von den Idealbildern „westlicher“ Frauen aus der Werbung. Die Ich-Erzählerin des Romans führt Listen, wie sie sein wird, ab nächsten Montag, wie sie schlank sein wird, fleißig, gut, wie sie alle Pflichten erfüllen wird, diejenigen, die Mutter und Vater ihr auferlegen: eine gute Hausfrau und Mutter werden, kein Gerede verursachen, aber auch diejenigen, die sich selbst auferlegt: gut in der Schule sein, selbstständig werden, westlichen Schönheitsideale entsprechen. Sie will etwas wert sein. Ein Mädchen, eine Frau, hat immer einen Preis in dieser Welt: „Je umworbener eine junge Frau war, desto höher stieg ihr Preis.“ Den Preis legt das Interesse fest, das Männer an Frauen finden. Gleichzeitig ist umgekehrt jedes Interesse von jungen Frauen an Männern zutiefst verpönt. Es ist sind diese „Wert“-Vorstellungen, aus denen sich die Protagonistin befreien will durch Bildung und Arbeit. Sie idealisiert das Frauenbild der Mehrheitsgesellschaft und hofft sich diesem durch Diäten und Sport anzugleichen. Doch sie bleibt, gerade durch ihr verzweifeltes Bemühen, den Erwartungen zu genügen, in den Vorstellungen gefangen, aus denen sie sich befreien will. Die Versuche, den eigenen Wert zu steigern, machen unmöglich, was sie ersehnt: Um ihrer selbst willen geliebt zu werden. El Hachmis Roman ist als ein Brief konzipiert, ein Brief der Ich-Erzählerin an die geliebte Jugend-Freundin, mit der gemeinsam sie versucht hat, den beengenden Verhältnissen zu entkommen. Immer wieder wird das „Du“, die vermisste Freundin, angerufen, um die gemeinsame Geschichte zu beglaubigen, nachzuvollziehen, wie geschehen konnte, was ihnen geschehen ist, obwohl sie mutig waren,fleißig, strebsam, ideenreich. Die Freundin, als ganz junges Mädchen von den Eltern an einen gewalttätigen Cousin verheiratet, will nach der Scheidung eine echte Romanze erleben und verliebt sich in einen jungen Mann, der so ganz anders zu sein scheint, als die anderen Männer; der behauptet, ihre Eigenständigkeit zu achten. Sie macht eine Friseurlehre, träumt davon sich selbstständig zu machen mit einem Brautmodengeschäft oder später mit einem Süßigkeitenladen; sie hat erste kleine Erfolge, die ihr der Neid und das Gerede in der Siedlung zerstören, wird schnell schwanger. Auch die Ich-Erzählerin erlebt parallel ihre Liebesgeschichte mit einem jungen Mann, der verspricht, ihr Studium zu unterstützen. Die Sehnsucht danach, geliebt zu werden, treibt beide junge Frauen in frühe Ehen und frühe Schwangerschaften. Von den Männern werden sie bitter enttäuscht: „Das alte Lebensmodell unserer Eltern war zu bequem für sie, darauf würden sie nicht verzichten.´ Wir sind für sie der Hauptgewinn.´, sagtest du. ´Wir machen nicht nur alles, was unsere Mütter gemacht haben, wir schaffen außerdem noch das Geld ran, wir entbinden sie von jeder Verantwortung.“ Es wird offensichtlich, wie die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in der muslimischen Exilgemeinde und der sie umgebenden „modernen“ spanischen Welt vor allem zu Lasten der Frauen geht. Die muslimisch geprägte Community hält an der patriarchalischen sozialen Kontrolle der Frauen fest, schränkt die Bewegungsfreiheit der Mädchen massiv ein, während die Männer die Freiheiten dieser Welt in vollen Zügen genießen. Die „fortschrittlichsten“ unter ihnen nutzen die modernen Vorstellungen aus, um sich die Privilegien beider Welten zu sichern: sie verlangen die umfassenden Dienste der traditionellen Hausfrau und setzen zugleich auf die finanzielle Unabhängigkeit der berufstätigen Frau, der sie keinen Unterhalt mehr schulden. Hier zeigt der Roman jene Fehlentwicklungen durch einen missbrauchten Feminismus auf, wie sie z.B. auch durch das modernisierte Scheidungsrecht in Deutschland entstanden sind: Ohne eine gleichzeitige gerechte Verteilung der Care-Arbeit zwischen den Geschlechtern ist die gerühmte „Eigenständigkeit“ durch Vollerwerbsarbeit nur eine Schimäre, die zur Verarmung und Überlastung von Frauen führt. El Hachmi erspart den Leserinnen und ihren Protagonistinnen nicht die Erkenntnis, wie sie selbst am Aufbau dieser Falle durch ihr gleichzeitiges Begehren nach Liebe und Gleichstellung mitgewirkt haben. Doch sind die Härten, denen El Hachmis weibliche Protagonistinnen ausgesetzt sind, wesentlich einschränkender, diskriminierender und verletzender als jene, mit denen auch „weiße“, säkulare Frauen konfrontiert sind. Die Autorin zeigt in aller Schärfe, wie die religiös begründeten traditionellen „Wertvorstellungen“ sich gegen die, vor allem auch sexuelle, Selbstbestimmung der Frauen richten. Dabei gibt es durchaus Differenzierungen. In den Familien der Freundinnen der Ich-Erzählerin herrschen etwas liberalere Sitten als unter der Faust ihres sich besonders fromm wähnenden Vaters, der freitags in der Moschee die Bestätigung erhält, dass seine gewalttätige Unterwerfung von Frau und Tochter nur zu deren Besten ist, ja es geradezu seine Pflicht sei, diese auf dem tugendhaften Weg zu halten. Die Mutter wird regelmäßig verprügelt vom Vater. Die Tochter kann dieser schwachen Mutter, die ihr nur heimlich hilft, lange nicht verzeihen. In die Phase ihrer Ablösung aus dem Elternhaus fällt der zunehmende Kopftuchzwang in der marokkanischen Einwanderer-Gemeinschaft. Die Kontrolle der Frauen, ihre besitzergreifende Markierung gegenüber der als feindlich wahrgenommenen Umwelt, wird immer wichtiger in einer Zeit des zunehmenden Kontrollverlustes, wie ihn die schlecht ausgebildeten Väter und Ehemänner erleben. Die Ich-Erzählerin gewinnt literarische Preise und die Aufmerksamkeit einer „linken“, sich fortschrittlich und antirassistisch gebenden Öffentlichkeit. Doch sie erkennt auch schnell, was diese „Blase“ hören will: Exotische „Wüsten“-Geschichten und eine romantisierende Perspektive auf die kulturellen und religiösen Zwänge. Andere sind bereit, das zu liefern: „Es dauerte nicht lange, bis sie merkten, dass ich dafür nicht taugte, dass ich nichts Interessantes zu erzählen hatte. Und weil ja eine Mora wie die andere ist, luden sie stattdessen die Tochter der Parabòlica ein, und die gab ihnen, was sie wollten: ihr Staunen über die westliche Zivilisation als sie zum ersten Mal einen Schalter umgelegt habe und das Licht angegangen sei. Auch wiederholte sie beflissen, was die Scharlatane im Fernsehen sagten: dass die Frau im Islam besser geschützt sei und außerdem höher geachtet werde, denn der Ehemann sei verpflichtet, gut für sie zu sorgen - all diesen Quatsch, den du ja zu Genüge kennst. Und die Leute glaubten ihr, denn es war das, was sie hören wollten.“ En passant erledigt El Hachmis auch typische Mittelstandmythen westlich geprägter erschöpfter Teilzeitmütter, die sich nickend afrikanische Sprichwörter zuwerfen und vormoderne Gesellschaftsformen idealisieren: „Die Mütter aus der Schulklasse diskutierten über Erziehungsfragen und bewunderten afrikanische Gesellschaften, in denen sich für jedes Kind der ganze Stamm zuständig fühle. Ich war versucht ihnen zu sagen: Ihr wollt einen Stamm? Ich schenke euch meinen, in all seiner Liebenswürdigkeit - sollen sie euch wegsperren, euch unterwerfen. Eurem Nachwuchs dürft ihr euch widmen, selbstverständlich, aber sonst dürft ihr nichts. Sie werden ihr Möglichstes tun, euch eure Würde zu nehmen, so lange, bis ihr euch gar nicht mehr daran erinnert, dass ihr mal welche hattet. —-Natürlich sagte ich nicht, was hätte ich ihnen auch sagen sollen. Mir fehlte die Kraft.“ Nach und nach erschließt sich der Leserin, wie bedeutsam es ist, dass dieser Roman in der ungewöhnlichen „Du“-Form, als Brief an die Freundin, verfasst ist. Denn die Befreiungsgeschichte der beiden Freundinnen gelingt nur scheinbar. Sie trennen sich von ihren Ehemännern und ziehen zusammen in die Innenstadt Barcelonas. Die Freundin arbeitet in einem angesagten Friseursalon, die Ich-Erzählerin neben ihrem Studium bei einer sozialen Organisation, die Migrant_innen hilft. Während die Ich-Erzählerin ihr Kind bei sich behält und ständig zwischen Job, Studium und Sorge für das Kind überfordert ist, lässt die Freundin ihr Kind bei ihrer Mutter und entfremdet sich diesem immer mehr. Darunter leidet sie sehr, ohne darüber sprechen zu können. Sie bestraft sich selbst mit sexuellen Exzessen, während die Ich-Erzählerin versucht eine stabile Beziehung zu einem Dozenten aufzubauen. In einer Nacht kommt es schließlich auch zu sexueller Erfüllung zwischen den beiden Frauen, die sich seit Jahren ein Ehebett in der gemeinsamen Wohnung teilen. Doch es gelingt ihnen nicht, über diese Erfahrung zu sprechen. Die Freundinnen erkennen nicht oder erkennen zu spät, dass sie einander die Sehnsucht nach Liebe und Gleichberechtigung erfüllen können, so sehr sind auch ihre Träume von Zwängen geprägt, dass sie nicht in der anderen Frau erkennen können, was sie begehren: „Die tiefere Wahrheit unserer Geschichte war schlichter, als wir es uns vorstellten. Sie hatte nichts mit Kulturschock zu tun, mit Integration, mit Zwischen-zwei-Welten-Sein, mit all dem worüber wir uns den Kopf zerbrachen. Das Einzige, was wir wollten, war, geliebt zu werden. Einfach so, wie wie waren. Ohne uns zurecht zu stutzen oder anpassen und unterordnen zu müssen. Weder verhüllt noch ausgehungert, weder von tausend Nadeln durchstochen noch mit tausend Cremes zugekleistert, noch in enge Kleider gezwängt. Wir mit unseren Körpern, die wir selbst sind, mit unseren Köpfen, unseren Gedanken, unseren Gefühlen und unseren Wunden, den vernarbten und den offenen. Sonst nichts." Der Roman von Najat El Hachmi wurde zur Frankfurter Buchmesse in der deutschen Übersetzung vorgestellt. Ich kann ihn sehr empfehlen. Najat El Hachmi: Am Montag werden sie uns lieben, übersetzt von Michael Ebmeyer Orlanda Verlag Berlin, 2022 Euro 22

Samstag, 26. Februar 2022

Natascha Wodin: "Sie kam aus Mariupol" - Lasst Mariupol nicht im Stich! #IStandWithUkraine

 Samstag, 26. Februar 2022, 16:26 Uhr 





Die im Südosten der Ukraine liegende Hafenstadt Mariupol am Assowschen Meer wird in diesen Stunden von russischen Truppen eingekreist. 


2017 erhielt Natascha Wodin für „Sie kam aus Mariupol“ den Preis der Leipziger Buchmesse. Eine Gattungsbezeichnung fehlt. Wodin schildert in diesem Buch, das kein Roman ist, aber auch keine (Auto-)Biographie, wie sie die Herkunft ihrer Mutter und deren Leidensweg von Mariupol an die Regnitz, in der sie sich mit nur 36 Jahren ertränkte, recherchiert, um zu verstehen, wer diese Frau war, die sie als klein, zart, hungrig und unendlich traurig und hoffnungslos in Erinnerung hat. 


„Ukrainer, die den größten Teil der Ostarbeiter stellten, gelten als die minderwertigsten Slawen, noch niedriger als sie stehen in der Rassenhierarchie nur noch die Sinti und Roma und Juden. Sie werden auf den Straßen ergriffen, in Kinos, in Cafés, an Straßenbahnhaltestellen, auf Postämtern, überall, wo ihrer habhaft werden kann, sie werden bei Razzien aus ihren Wohnungen geholt, aus Kellern und Verschlägen, in denen sie sich verstecken. Man treibt sie zum Bahnhof und bringt sie in Viehwaggons auf den Transport nach Deutschland.“


Natascha Wodin war 10 Jahre alt, als ihre Mutter sich umbrachte. Das Kind hatte diese Tat längst erwartet, die Mutter sie viele Male angekündigt, oft auch so, als wolle sie ihre Kinder, Natascha und die jüngere Schwester, mitnehmen in den Tod. Die Ich-Erzählerin in „Sie kam aus Mariupol“ will als alte Frau begreifen, was die Mutter geprägt hat. Das Buch ist in drei Teile gegliedert. 


Im ersten Teil erzählt Wodin, wie sie über Internet-Recherchen und mit Hilfe eines russischen Hobby-Genealogen immer mehr über die große Familie ihrer aus verarmtem russischem Adel stammenden Mutter erfährt. In Mariupol hatte ihr Großvater seine zweite Frau geheiratet, die Tochter eines italienischstämmigen Seefahrers und Großhändlers. Politisch hatte sich der Großvater entgegen seiner eigenen Herkunft gegen das Zarenreich eingesetzt und war für viele Jahre nach Sibirien verbannt worden. Mit der zweiten Familie lebte er im großbürgerlichen Haus der Schwiegereltern in Mariupol. Die Mutter der Erzählerin, Jewgenia, wird 1920 in die Revolutionswirren hineingeboren, von Anfang an ist ihr Leben durch Armut und Hunger geprägt, aber auf sonderbare Weise auch noch durch die adelige und großbürgerliche Herkunft der Eltern, was sie - nach Auffassung der Erzählerin - lebensuntüchtig macht, da sie keine praktischen Fähigkeiten vermittelt bekommt. 


Im zweiten Teil des Buches steht die Geschichte der älteren Schwester der Mutter, Lidia, im Zentrum, auf deren lang verschollenes Tagebuch die Erzählerin stößt. Lidia schließt sich, als Bürgerliche geächtet, in ihrer Studienzeit in Odessa einer Widerstandsgruppe gegen die Kommunisten an, wird gefoltert und verschwindet für Jahrzehnte in einem Arbeitslager. Auch die Geschichten der anderen Familienmitglieder, die die Erzählerin nach und nach freilegt, verdeutlichen die traumatischen Verheerungen, denen die Menschen in der Ukraine und im gesamten Sowjetreich durch Revolution, Bürgerkrieg, Weltkrieg, Hungerkatastrophe in der Ukraine (Holodomor) und stalinistische Verfolgungen ausgesetzt waren. 


„Was für eine Familie war das? Der Vater meiner Mutter ein bolschwestischer Revolutionär mit einer langen Verbannungsgeschichte, ihr Bruder ein dekoriertes Parteimitglied, ihre Schwester und sie selbst Renegatinnen, die eine verbannt in ein sowjetisches Arbeitslager, die andere Zwangsarbeiterin beim deutschen Kriegsfeind, eine potentielle Kollaborateurin.“


Wegen des großen Altersabstandes zwischen Lidia und der Mutter der Erzählerin und deren Deportation ins Arbeitslager, kann die Erzählerin nur wenig über ihre eigene Mutter aus dem Tagebuch erfahren. Im dritten Teil versucht sie, die Flucht und/oder Deportation der Mutter und ihres eigenen Vater aus Mariupol nach Westen zu rekonstruieren. Vater und Mutter der Ich-Erzählerin wurden in Zwangsarbeitslagern bei Leipzig von den Nazis ausgebeutet. In einem solchen Lager wurde die Erzählerin gezeugt und geboren. Nicht ganz sicher kann sie sich sein, ob die Eltern nach Deutschland wollten, weil sie Angst vor stalinistischer Verfolgung hatten oder ob sie zwangsverpflichtet wurden. Sie weiß nur, dass der Hass auf Stalin die Eltern verbunden hat. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges gibt es für die Eltern der Erzählerin keinen Weg zurück ins Sowjetreich, wo sie mit Verfolgung und Stigmatisierung rechnen müssen. Im Deutschland der Nachkriegszeit werden die Zwangsarbeiter zu Displaced Persons, zusammengepfercht in Lagern und Ghettos. In einem solchen wächst die Ich-Erzählerin nördlich von Nürnberg auf. Das Kind erfährt die Ausgrenzung in der Schule, die bittere Armut der Familie und begreift nie ganz, was sie so vollständig von der Außenwelt, diesem Deutschland, trennt. 


„Wenn ich mich an etwas genau erinnere, dann an den Hass meiner Eltern gegen die Sowjetmacht, gegen Stalin, dieser Hass war vielleicht ihre stärkste Gemeinsamkeit.“


„Sie kam aus Mariupol“ ist ein lesenswertes und lehrreiches Buch. Privilegierte wie ich, die ganz unverdient ein ganzes Leben lang die Friedensdividende eingestrichen haben, können hier verstehen lernen, wie in unseren östlichen Nachbarländern sich an die Verheerungen des Weltkriegs nahtlos der stalinistische Terror anschloss. Man kann sich vorstellen, wie, wer dem Terror der Schergen Stalins ausgesetzt war, zum radikalen und unversöhnlichen Antikommunisten werden konnte, auch anfällig für Nationalismus und Faschismus. Und wie umgekehrt mit den Opfern unter dem Faschismus noch die fürchterlichsten Verbrechen der Stalinisten gerechtfertigt wurden. Keine Familie ohne vielfältige Traumata, tödliche Feindschaft, Verrat, Angst. 


Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen wird die ungeheure Leistung dieser Generation von Ukrainerinnen und Ukrainern erst begreiflich, die vor 8 Jahren auf dem Maidan sich das Recht auf Selbstbestimmung erstritten hat. Eine junge Demokratie, strauchelnd, auch ringend mit dem Versuch der Korrumpierung durch Oligarchen. Und doch: Hoffnungsvoll. Der einzige Staat in Europa mit einem frei gewählten jüdischen Präsidenten. 


„Sie kam aus Mariupol“ - einer Stadt, die im 20. Jahrhundert schon so viel Leid und Vernichtung erfahren hat und die in diesem Moment, in dem ich das schreibe, vielleicht von russischen Truppen eingenommen wird.


Lasst Mariupol nicht im Stich! Ich appelliere an die Bundesregierung, die Bitten der frei gewählten Regierung der Ukraine in diesen Stunden zu erhören. 


#IStandWithUkraine


Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol, 2017

Mittwoch, 17. November 2021

Canan Topçu: „Nicht mein Antirassismus. Warum wir einander zuhören sollten, statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten“


 

Von sich und ihrer Biographie ausgehend setzt sich Canan Topçu in „Nicht mein Antirassismus. Warum wir einander zuhören sollten, statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten“ mit ihrem intuitiven Unbehagen am antirassistischen Diskurs der Gegenwart auseinander. Topçu macht sich gleich in der Einleitung kenntlich: „eine akkulturierte Frau türkischer Herkunft, die ihr Zuhause in Hanau gefunden hat.“ Sie spricht nicht für „Migrantinnen“, „Türkinnen“ oder „Musliminnen.“ Topçu spricht für sich selbst. Sie stellt ihren Lebenslauf dem gegenüber, was - in ihrer Wahrnehmung - zu vereinfachend als kollektive migrantische Erfahrung dargestellt wird.

"Ich war wissensdurstig. Ich wollte verstehen, was mir unverständlich erschien. Geschichte überforderte mich, überfordert mich immer noch. Geschichten aber nicht. Ich möchte immer noch verstehen. Die anderen und auch mich."

Topçu beginnt in der Einleitung mit vielen Fragen, die auch ich mir stelle: Über die Trag- und Leistungsfähigkeit aus dem Amerikanischen übernommener Begriffe und Theorien wie "People of Color" und "Critical Race Theory", darüber wie effektiv es für gesellschaftliche Veränderungsprozesse ist, wenn der Rassismusvorwurf - wie sie meint - inflationär gebraucht wird, dazu, dass es auch in migrantischen Communities Nationalismus und Rassismus gibt und wie damit umzugehen sei, dazu, ob die sogenannte "Identitätspolitik" nicht das Gegenteil dessen erreicht, was sie erreichen will, indem sie bestimmte Unterschiede dramatisiert und andere ausblendet... 


Topçu gibt in ihrem Buch auf diese Fragen keine endgültigen Antworten. Was manche als die Schwäche dieses Buches auslegen könnten, betrachte ich als seine Stärke: Die Autorin versucht nicht, von ihrem eigenen Standpunkt zu abstrahieren oder gar eine alternative "Rassismustheorie" vorzulegen, sondern bleibt bei sich selbst und ihren eigenen Erfahrungen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. 


Somit wird aus diesem Essay mehr und mehr eine berührende Autobiographie, die, so der Titel des ersten Kapitels, erzählt „Wie ich geworden bin, wer ich bin.“ Topçu wuchs in einer kleinen Hafenstadt am Marmarameer auf. Sie berichtet über erste Erinnerungen an den Garten, an die Hühner, an das erste Schwimmen. Die Erinnerung weckt in der 55jährigen Autorin, die nun in Hanau lebt, Sehnsucht nach der verlorenen Heimat.


Und während ich das lese, entdecke ich, dass diese Erfahrung gar nicht so weit weg ist von der meinen, wie man annehmen könnte, da ich doch nie emigriert bin. Doch die Welt meiner Kindheit, in der es Holzöfen gab, tagelang eingemacht wurde, das Schlachtfest von der Großfamilie gefeiert wurde, ist genauso untergegangen, wie jene Welt, die Canan Topçu beschreibt. Auch ich bin nicht in dem Dorf geblieben, in dem ich aufgewachsen bin, und wenn ich es heute besuche (was praktisch kaum mehr vorkommt, da auch meine Eltern längst nicht mehr dort leben), kann ich die Welt meiner Kindheit nicht wiederfinden. Es gibt sie nicht mehr. 


Zweifellos ist die Entfernung, die Topçu zurücklegen musste, um anzukommen in Hanau, in ihrem gegenwärtigen Leben, nicht nur räumlich viel größer als jene, die ich bewältigt habe. Dennoch gibt es Parallelen, wie ich sie auch in späteren Kapiteln feststellen konnte, Parallelen, die damit zu tun haben, dass wir beide derselben Generation angehören, dass wir aus Elternhäusern stammen, in denen zwar Bildung geschätzt und unterstützt wurde, uns aber unsere Eltern nur bedingt bei der Vorbereitung auf ein Studium unterstützen konnten. Uns beiden war ein geisteswissenschaftliches Studium nicht „in die Wiege“ gelegt. Die Welt der Universität, das „Studentenleben“ war für uns beide fremd und faszinierend. Es ging mir da ganz ähnlich wie ihr: „Als ich mich entschied, Geschichte und Literaturwissenschaft zu studieren, hatte ich null Ahnung davon, was am Ende aus mir werden sollte. Rückblickend empfinde ich es mal als sehr naiv, mal als sehr mutig von mir, mich so gar nicht mit Karriereplanung befasst zu haben.“


Während ich über dieses Parallelen unserer Biographien nachdenke und schreibe, beschleicht mich ein schlechtes Gewissen. Darf ich das überhaupt? Ich habe es doch zweifellos so viel leichter gehabt als „Biodeutsche“ - keine Probleme mit der Sprache, keine Diskriminierung in der Schule, kein Rassismus. Und dann denke ich - und hoffe es -, dass die Entdeckung solcher Gemeinsamkeiten jenseits der „Identitäten“ ganz im Sinne von Canan Topçu ist. Denn sie will ja, dass wir uns selbst als Individuen verstehen und auch andere als solche wahrnehmen - eben im Gegensatz zur Selbst- und Fremdwahrnehmung als Repräsentant_inn_en bestimmter Gruppen. 


"Damals ist sie die Tochter griechischer Gastarbeiter und ich die Kümmeltürkin. Das will ich aber nicht bleiben."


Topçu lebt in Hanau, der Stadt, die Schauplatz eines der fürchterlichsten rassistischen Verbrechen in unserem Land wurde und sie ringt schreibend, so lese ich das, auch darum, sich diese Stadt als Zuhause nicht wegnehmen zu lassen, weder von "biodeutschen" Rassisten noch von "neudeutschen Antirassisten", die z.B. proklamieren, dass "Eure Heimat, unser Alptraum" ist.


Canan Topçus Erfahrungen zeigen, wie das gelingen kann. Dass diesem Gelingen viele, auch strukturelle, Hindernisse entgegenstehen, bestreitet sie nicht und zeigt es auch auf. Jedoch entscheidet sie sich, ihr Augenmerk auf die Bedingungen des Gelingens zu legen. Das wirkt sicherlich verstörend und wohl auch verharmlosend auf jene, die gegen den zweifellos in unserer Gesellschaft vorhandenen strukturellen Rassismus kämpfen. Denn gegen dessen Wirksamkeit können die anekdotisch erzählten positiven Erlebnisse mit „alten weißen Männern“, von denen Topçu berichtet, wenig ausrichten. 


Indem Topçu ihre Lebensgeschichte als Gegengeschichte zu dem von amerikanischen Theorien geprägten Antirassismus erzählt, verteidigt sie auch den Anspruch, sich selbst als Subjekt dieser Geschichte wahrzunehmen. Hier scheint mir ein wesentlicher Grund für den intuitiven Widerstand gegen die neuen Deutungshoheiten zu liegen. Denn die Betonung des Strukturellen kann eben auch als Enteignung des Einzelnen von seiner Geschichte wahrgenommen werden. Auch hier erkenne ich Parallelen zu meiner eigenen Reaktion auf diese Theorien. Sie verlangen nichts weniger, als dass jene, die gerade erst die Chance für sich wahrzunehmen begonnen hatten, den Subjektstatus zu erlangen (die Frauen, die Migrant_innen, die Homosexuellen, die Nicht-Akademiker_innen…) diesen, indem sie ihn als dem Konzept „weißer Mann“ inhärenten entlarven, insgesamt kompromittieren und abwickeln. Die Anerkennung und der Respekt, den diese Form des Antirassismus einfordert, gilt dann eben dem Gruppen-(Opfer)-Status, nicht den Leistungen und Erfolgen der Einzelnen. Für viele aus „unserer“ (Topçus und meiner) Generation sind diese aber identitätsstiftend und ihre Infragestellung verletzt unser Selbstbild. Es widerspricht unserer (Selbst-)Wahrnehmung und - nach meiner Überzeugung  - auch der Evidenz, dass das liberale, auf Individualität bezogene Menschenbild sein Emanzipationspotential nur für „Weiße“ oder „Männer“ oder „Heterosexuelle“ entfalten könne.


"Es ist doch ein Unterschied, ob jemand aufgrund meines Namens und Aussehens mich mit einem anderen Land verbindet oder ob ein dunkelhäutiger Mensch in der Straßenbahn bespuckt und getreten wird."


Canan Topçus Buch regt zum Nachdenken darüber an, wie die verschiedenen Generationen, theoretisch-akademischen und pragmatisch-kommunalen Gruppen und Gruppierungen, die verschiedenen Menschen, die aufrichtig Rassismus bekämpfen wollen, wieder miteinander ins Gespräch kommen können.Während der Lektüre habe ich mir auch die Frage gestellt, wodurch sich Vorurteil und Rassismus unterscheiden und ob die Schärfung eines Bewusstseins für den Unterschied zwischen beiden dazu beitragen könnte, manche Brücken zwischen den Lagern zu schlagen. Das N-Wort z.B. ist für mich eindeutig rassistisch, weil durch es eine bestimmte Gruppe als minderwertig klassifiziert wird. Daher finde ich es absolut richtig, es nicht mehr zu verwenden. Die Frage: „Woher kommst du?“ dagegen, halte ich für weiterhin legitim, auch wenn ich verstehe, dass sie manchmal verletzen kann. Denn ihr wohnt nicht zwingend eine Abwertung inne. Vorurteile kann man durch gemeinsame Erfahrungen, durch Austausch und Gespräch überwinden, wie Topçu es vorschlägt. Rassismus dagegen muss man meiner Meinung nach bekämpfen, auch durch Verbote, Tabus und Ächtung. 


Canan Topçu: „Nicht mein Antirassismus. Warum wir einander zuhören sollten, statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten“ , Quadriga Verlag 2021 € 16,90

Sonntag, 22. September 2019

"DAMIT IHR WISST, WIE´S WAR." Gabriele Tergits großartiger Familienroman "Effingers"



"Was ich mir wünsche ist, dass jeder deutsche Jude sagt: ja, so waren wir, so haben wir gelebt zwischen 1878 und 1939, und dass sie es ihren Kindern in die Hände legen mit den Worten: damit ihr wißt, wie's war."
Gabriele Tergit in einem Brief 

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Der Antisemitismus war immer schon da - in Gabriele Tergits Familienroman „Effingers“ und in Kragsheim, jener fiktiven Provinzstadt in Süddeutschland, wohin der 17jährige Paul Effinger 1878 an seine Eltern schreibt. Dort erinnert sich Pauls wortkarger Vater, der Uhrmacher, an die mittelalterlichen Pogrome gegen seine Vorfahren. Pauls ältester Bruder ist nach Großbritannien ausgewandert, weil er den Deutschen nicht traut. Der Techniker Paul und sein optimistischer Bruder Karl dagegen suchen ihr unternehmerisches und privates Glück im aufstrebenden Berlin der Gründerzeit. 

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Waldemar Goldschmidt: „Ich gehöre zu einer verachteten Rasse und bin ein Bürger zweiter Klasse in Deutschland. Aber ich habe einen Vorteil, der sich eines Tages zeigen wird: Ich bin durch meine bloße Existenz als Jude ein Zeuge für die Kraft des Geistes und der Gewaltlosigkeit.“
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Gabriele Tergit erzählt in „Effingers“ die Geschichte dreier deutscher jüdischer Familien: den aus Süddeutschland stammenden, konservativen Effingers und den liberalen Berliner Bankiersfamilien Oppner und Goldschmidt. Tergit erzählt von Unternehmertum und geschäftlichen Rückschlägen, von Familiengründungen und gescheiterten Ehen, von Weltkrieg und Zusammenbruch des Kaiserreichs, von weiblicher Emanzipation und künstlerischem Aufbruch, vom Aufstieg des Nationalsozialismus, von Vertreibung und Ermordung der jüdischen Familien. Gabriele Tergit hat diesen bedeutenden Roman noch auf der Flucht vor den Nationalsozialisten im Exil begonnen; 1951 ist er erstmals erschienen. 


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Der Sonntagmittag: „ ´Ein böses Zeichen, wenn auch für gute Sachen Reklame gemacht wird.´ ,Das ist der Zug der Zeit.´, sagte Karl. ´Was ist der Zug der Zeit?´, fragte Waldemar. ´Ein Zug blutjunger Männer, die immerzu Hurra schreien oder ein Zug bärtiger Männer mit Retorte und Rechenschieber, die uns ein besseres Leben lehren, mit elektrischem Licht und Kanalisation, ohne Krankheiten?“
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Das deutschsprachige Publikum war für diese groß angelegte Familiengeschichte über jüdische Deutsche in den 50er Jahren offenbar nicht bereit. In „Effingers“ werden die Angehörigen dieser fiktiven jüdischen Familien, von wenigen Überlebenden abgesehen, zu Opfern der nationalsozialistischen Mörder. Doch obwohl der Antisemitismus immer schon im Hintergrund spürbar ist, definiert weder der jüdische Glaube, noch die historische Zugehörigkeit zum Judentum die Protagonisten und Protagonistinnen des Romans. Gabriele Tergit schreibt den Roman aus der Perspektive einer allwissenden Erzählerin. Doch sie nutzt diese nicht aus, um ihre Figuren aus der Rücksicht zu determinieren.  

Wie alle große Literatur stellt Tergits Roman Individuen in den Mittelpunkt, die je Einzelnen in ihrer Not, ihrer Liebe, mit ihren Hoffnungen und Träumen, ihren Niederlagen und Sternstunden, ihrer Verzweiflung und ihrem Eigensinn. Während der grundsätzlich pessimistische, aber technikaffine Paul verbissen und zäh um sein Automobilunternehmen kämpft, die vielen Rückschläge mit verdoppeltem Arbeitseinsatz wettzumachen sucht, scheint sein Bruder und Kompagnon Karl stets auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen, heiratet bei den reichen Oppners ein und genießt das Berliner Leben, die üppigen Mahlzeiten und zahlreichen Freizeitvergnügungen in vollen Zügen. 

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Frauenversammlung: „Denn selbst die gebildeten Frauen sind nur gebildet auf dem Gebiet dessen, was man als schöngeistig bezeichnet. Aber ihr habt endlich genug vom Vortrag über Rembrandt nach dem Nachmittagstee, der euch gerade noch genug Zeit lässt, um euch zur Abendgesellschaft umzuziehen. Hier beginnt die Pflicht gegen das eigene Ich, gegen die eigene Entwicklung zum Menschen.“
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Die Männer sind beunruhigt am Anfang des 20. Jahrhunderts, dass das tradierte patriarchale Geschlechterverhältnis ins Wanken gerät: „Die Gefahr“, so lässt Tergit einen Dr. Merkel schreiben, "in der Du dich befindest, ist ungeheuer. Du wirst von Stufe zu Stufe sinken. Ich aber segne diesen Krieg. Dieser ganzen Girlkultur der verdorbenen Großstadt wird ein Ende bereitet sein. Aus einem Stahlbad werden wir gereinigt hervorgehen.“  Auch die jüdischen Familien Effinger, Goldschmidt und Oppner verstehen sich als deutsche Nationalisten und stehen in dieser ersten Katastrophe des 20. Jahrhunderts fest auf der Seite ihres „Vaterlands“. Ihr Bruder in England, der seine zwei Söhne in diesem Krieg verlieren wird, bricht jedoch für immer mit den deutschen Verwandten. 

Die jüngere Generation der Effingers schließlich wird mit einer neuen Form des Antisemitismus konfrontiert werden, der sich nicht mehr auf christliche Ressentiments, sondern auf Rassenideologie stützt (und der dennoch ebenso nahtlos daran anschließen kann wie der gegenwärtige, teils als „Israelkritik“ verbrämte, teils muslimisch-religiös, teils anti-kapitalistisch/kolonialistisch begründete). Während die jungen Menschen nach dem 1. Weltkrieg noch darum kämpfen, sich in verwandelten gesellschaftlichen Verhältnissen und Moralvorstellungen zurecht zu finden, die nicht zuletzt das Geschlechterverhältnis betreffen, breitet sich diese Ideologie auch in ihrem unmittelbaren Umfeld mehr und mehr aus. 


***
Gemütlicher Abend: „`Wir müssen uns darüber klar sein, wir lieben noch immer ein Deutschland, dass es nicht  mehr gibt. Wir glauben noch immer an den deutschen Humanismus, und wir lieben Kragsheim und Neckargründen. Wir werden den jetzigen Deutschen immer fremder.`“
***


Gabriele Tergits Roman endet mit einem letzten bitteren Brief Pauls, der bereut, dass er nicht auf seine Frau gehört und Deutschland rechtzeitig verlassen hat. Alle Anstrengung dieses immer von Sorgen geplagten Unternehmerlebens umsonst: „Ich habe an das Gute im Menschen geglaubt. Das war der tiefste Irrtum meines verfehlten Lebens. Das haben wir nun beide mit dem Tode zu büßen.“ 

Dem folgt ein Epilog über den Frühling 1948, wenn „glückliche, neue Kinder spielen“ auf den Straßen Berlins. Die Spuren des jüdischen Lebens sind ausgelöscht. Beinahe. 

Doch sie, die Romanautorin Gabriele Tergit, wird das nicht stehen lassen. Mit „Effingers“ macht sie die Spuren wieder sichtbar. Zeit, dass dieser großartige Roman eine Leserschaft findet. In Deutschland.

Gabriele Tergit: Effingers. Mit einem Nachwort von Nicole Henneberg, Schönling&Co., 2019

Sonntag, 5. November 2017

GOOD BYE DARKNESS MY OLD FRIEND. Eine romantische Männerfreundschaft

Grant McLennan starb am 6. Mai 2006 in Brisbane an Herzversagen. Robert Forster setzt ihm und ihrer Freundschaft, die so romantisch war, wie die Beziehung zwischen zwei heterosexuellen Männern nur sein kann, in der Auto/Biographie "Grant and I" ein Denkmal. 



As he lives my live

Robert Forster gibt in "Grant and I" den Fans der Go-Betweens, zu denen ich seit 30 Jahren gehöre, eine jener Lebensbeschreibungen, die der Verbindung zwischen Werken und Schöpfern nachspüren, den Schaffensprozessen nachvollziehbar machen, die hinter jedem Kunstwerk stecken: Wie das Erlebte eingeht in die Komposition, aber sich auch durch diese verändert, transzendiert wird und - wenn es gelingt - ein Werk entsteht, in dem es nicht mehr nur um die Verarbeitung der eigenen Erfahrungen geht, sondern etwas erkennbar wird, in dem viele sich wiederfinden können. 

2002 planten Forster und McLennan ein neues Album. Wie immer sollten 5 Songs von Forster, 5 von McLennan beigesteuert werden. Wie immer hatte Robert Forster "mehr Worte" und Grant McLennan "mehr Melodien". Forster schnappte sich eine Akkordfolge, so schreibt er, und begann den Text von "Too Much Of One Thing" zu schreiben. Es wurde, so schien es zunächst, ein Porträt des Freundes, dessen tiefer Melancholie er sich immer stärker bewusst wurde: "You might think you see purpose/when what you´re seeing is a band/A thin line like from a spider/upon which I dance." Aber dann wird die Botschaft, die diese Zeilen für den Freund sein könnten, in Eigenrede verwandelt:"I have known a hundred women, and a part of me loves to fail." Forster erkennt: "Nun wusste ich nicht mehr, von wem der Song handelte, und genau deswegen funktioniert er." "Too Much Of One Thing" wurde zur "Ballade der Go-Betweens". 






What I need is persistence

Das Album "Bright Orange. Bright Yellow" entstand in der zweiten Phase der Go Betweens , in den 00er Jahren, als Forster und McLennan wieder miteinander unter dem alten Band-Namen arbeiteten, jetzt ohne Lindi Morrison und Amanda Brown. Das Ende der Band hatten McLennan und Forster 1989 miteinander beschlossen, ohne die beiden Frauen in die Entscheidung einzubeziehen: "Natürlich würden Lindy und Amanda sich nach all den Jahren, in denen sie ihre Arbeit und emotionale Energie in die Band gesteckt hatten, betrogen fühlen und wütend auf uns sein, um mit der gleichen Härte zurückzuschlagen. Amanda, geschockt und aufgebracht, wollte Grant verlassen."

Die Go-Betweens waren nie eine Band, die aus zwei Paaren bestand. Forster und Morrison, die geniale Schlagzeugerin, die beinahe ein Jahrzehnt lang ein Paar gewesen waren, hatten sich schon getrennt, als Amanda Brown und Grant McLennan ein Paar wurden. So war es dann Grant McLennan, der den Preis für die gemeinsame Entscheidung der beiden Männer, dass es genug sei, zahlte. Seine Beziehung zu Amanda Brown zerbrach daran. Denn die beiden Freunde hatten, so lässt es sich zwischen den Zeilen aus Forsters Auto/Biographie lesen, mit einem nicht gerechnet: mit der Freundschaft der beiden Frauen zueinander, deren Beziehung an Intensität und Loyalität offenbar der zwischen den Männern in nichts nachstand. Und so ist auch die Geschichte der Go-Betweens, die sich von vielen anderen Indie-Bands gerade dadurch unterschied, dass immer Frauen mitgespielt hatten, geprägt und beschädigt worden durch die Unfähigkeit von zwei Männern, die Bedeutung der Beziehung von Frauen zueinander richtig einzuschätzen. Forster schreibt: "Es war immer ein Teil des Bildes, das wir von der Band hatten, dass das dritte Mitglied eine Frau sein musste....Wir wollten nicht ausschließlich Männer sein - das war zu starr und vorhersehbar." Aber sie verstanden die Frauen eben nur in ihrer Beziehung zu ihnen, den Singer/Songwriter-Männern. 

Grant McLennan und Robert Forster lernten sich als junge Studenten in Brisbane kennen, zwei Männer aus der unteren Mittelschicht mit einem unstillbaren Verlangen nach mehr, nach Imagination, Inszenierung, Kunst. Sie erkannten einander beinahe sofort. Ähnlichkeiten und Differenzen, ein gemeinsamer Musikgeschmack, die Fähigkeit viel von einander zu lernen über Literatur, Film, Politik. Während Forster noch zu Hause bei seinen Eltern lebte, war Grant schon als Junge von einer abgelegenen Farm aufs Internat nach Brisbane geschickt worden. Ihre Herkunft und ihr Drang sie zu überwinden und ihr gleichzeitig treu zu bleiben, prägte später auch ihre Songs, Grants "Cattle and Cane", Roberts "Born from a Family" zum Beispiel:




I recall a schoolboy 


And changed the system

Wie in vielen Männerfreundschaften ging es auch in dieser weniger darum, sich gegenseitig das Herz auszuschütten, sondern darum, gemeinsam etwas zu machen. Musik, die Band: "The Go-Betweens". Forster warb Lindi Morrison, in die er sich verliebt hatte, von einer anderen Band ab. Forster und McLennan ergänzten sich, aber sie erlebten sich auch als Konkurrenten. Lindi Morrison hatte ihren eigenen Kopf und kam von Anfang offenbar nicht gut mit Grant aus. Die Band zog zunächst nach Melbourne, dann nach London. Neue musikalische und persönliche Allianzen entstanden. Ein Hit, der finanzielle Sicherheit gebracht hätte, stellte sich nicht ein: "Unser Weg würde einem anderen Vorbild folgen, ´the wrong road´, wie Grant einmal singen würde - Fortschritt im Zickzackkurs, das Erleben fremder Städte aus der Perspektive der Armut, von einem Nervenkostüm auf den Prüfstand."




Grant McLennan, Lindi Morisson, Robert Forster
Quelle: https://www.theguardian.com/music/2017/jun/16/
the-go-betweens-right-here-review-love-still-goes-on-for-this-brisbane-band
Photograph: Jeremy Bannister via Sydney film festival

Das öffentliche Image, das McLennan und Forster von sich kultivierten, unterschied sich massiv von den Rollen, die sie füreinander und in ihrem Umfeld spielten. Forster schreibt: "Ich war der flamboyante gepuderte Showman, er zugeknöpft und aufrichtig. Diese Darstellung war schon damals falsch; durch die ...Verzerrungen der Medien und die klaren Umrisse, die der Rockmythos verlangte, wurde unsere Gegensätzlichkeit übertrieben und allzu sehr herausgestellt." Tatsächlich war es Robert Forster, der über die Jahre stabile Bindungen einging und immer wusste, wo er zu Hause war, während McLennan keinen Halt fand. 




Deep down I´m lonely and I miss my friend

Nach dem vorläufigen Ende der Go-Betweens entwickelten sich Forsters und McLennans Leben auseinander, ohne dass der Kontakt jemals abriss. Forster fand bei Regensburg die Frau seines Lebens, Karin Bäumler, mit der er einige Jahre in Bayern lebte, bevor er nach Brisbane zurückkehrte. Grant fiel es schwer, über die Trennung von Amanda Brown hinwegzukommen. Seine Solo-Alben, die in jenen Jahren entstanden, erzählen auch von diesem Schmerz. "Ein Rückfall in unsere wahren Persönlichkeiten, könnte man sagen: Für mich war es das Leben in einem ruhigen Heim mit einer Frau, die ich liebte. Für Grant war es, allein zu sein, und das Bedürfnis nach einem Zufluchtsort..."

Als Forster und McLennan die gemeinsame Arbeit wieder aufnahmen, führten sie vollkommen verschiedene Leben: Forster war Familienvater, McLennan lebte noch immer in wechselnden Wohngemeinschaften und hatte mehr oder minder kurze Beziehungen. In der Auto/Biographie deutet Forster an, wie stark das Leben McLennans in jener Phase vom Alkohol geprägt war. Der tiefen Traurigkeit, die ihn beherrschte, konnte er offenbar nur so Herr werden. Sie schrieben gemeinsam "Finding you": "Es gibt nicht viele Forster/McLennan-Songs wie diesen - echte, altmodische Co-Kompositionen. Und ich weiß zu schätzen, dass wir eine so gute und bedeutsame geschrieben haben wie ´Finding You´."



Or would you sing along?

Als Grant im Mai 2006 völlig überraschend starb, suchte Robert nach Gründen: "Der Verlust seines Vaters. Internat mit elf. Ein ältester Sohn ohne Geschwister, die ihn beschützten. Er war ein Junge vom Land, der nur in der Stadt leben konnte. Er war ein Junge aus der Stadt, der wusste, das ein Teil seines wahren Ichs aufs Land gehörte. Er war ein altkluger, nach Anerkennung suchender Schuljunge, der verspottet wurde, weil er ein Poster von David Bowie an der Wand hatte; der wusste, dass er nicht nur anders war als seine Mitschüler, sondern auch als ein Großteil seiner Familie. Vielleicht fehlte ihm ein bisschen Liebe. Er flüchtete sich in akademische Erfolge - die zu bedeutenden Leidenschaften aufblühten. Der mit Enthusiasmus entflammte Junge brauchte eine Schutzhaut, die die Form einer nie näher hinterfragten Arroganz annahm und diejenigen, denen er begegnete, anzog und abstieß."

Es kann natürlich keine "Gründe" geben. Grant McLennan starb mit 48 Jahren viel zu früh. Er war, schreibt Robert Forster, sein bester Freund, sein Co-Autor, sein Konkurrent, "ein Glaubender. Er glaubte an all die guten, schönen und erhebenden Dinge des Lebens. Gedichtzeilen, die Schatten eines Films, die majestätische Größe eines tollen Popsongs. Er war hochromantisch."



How I miss your quiet quiet quiet heart



Sonntag, 5. Februar 2017

Die Schönheit von Gottes Arsch (oder: "Die Leichtigkeit" - eine Graphic Novel von Catherine Meurisse)



Das Cover der autobiographischen Graphic Novel von Catherine Meurisse ist noch recht düster. Die Protagonistin geht mit gesenktem Kopf im dunklen Anorak einen Strand entlang. Ein Tag an der See, das dunklere Grau der Wellen diffus abgesetzt vom helleren des Sandes, ein unklarer Horizont, der sich ganz zart ein wenig aufhellt. Es klart auf, aber nur langsam. Die einsame Figur, mit wenigen Pinselstrichen, aber starker Kontur ins Aquarell gesetzt, schreitet dem Hellen entgegen, noch gebeugt zwar.

Catherine Meurisse kam am 7. Januar 2015 zu spät in die Redaktion, weil sie wegen Liebeskummers verschlafen hatte. So überlebte sie. Zehn Jahre lang hatte sie für das Satire-Magazin „Charlie Hebdo“ gearbeitet. Nach dem Massaker an ihren Freunden und Freundinnen, Kolleginnen und Kollegen, so schreibt und zeichnet sie es in „Die Leichtigkeit“, verstummte ihr Körper. Ihr Empfindungsvermögen und ihr Gedächtnis wehrten sich gegen das Ungeheuerliche. Einzig die Augen der Zeichnerin blieben lebendig, nahmen mit neuer Schärfe wahr: die Krümmung des Horizonts, die Gewalt der Farben, die Weite, die Leere.

Meurisse stellt ihre Protagonistin in Aquarelle, in aufwendige, an kunsthistorischen Vorbildern orientierte Zeichnungen, genauso wie in scheinbar hastig hingeworfene Skizzen. Dem ganzen Band ist der Formwille anzumerken, das Wissen der Künstlerin darum, wie sehr Form und Inhalt miteinander verschränkt sein müssen, um aus dem Erlebten Kunst zu formen und es damit begreifbar und wieder - als Erinnerung - belebbar zu machen. Meurisse schert sich dabei nicht um eine krude Unterscheidung zwischen E- und U-Kunst, zwischen Malerei, Zeichnung und Comic Strip, von einer Seite auf die andere können Technik, Stil und ikonographischer Bezugsrahmen wechseln.

Der Weg heraus aus der Schockstarre ist schwer und weit. Die Fähigkeit zu zeichnen, scheint verloren gegangen hinter den Absperrgittern, mit denen die verwüstete Redaktion gesichert wird, nachdem es zu spät ist. Unsentimentale Erinnerungen steigen auf an die ermordeten Kolleginnen und Kollegen, an den schwarzen, unanständigen, mutigen Humor von Chefredakteur  Charb und den anderen. Die Getroffenen weigern sich, sich die Namen der Mörder zu merken: "die Brüder Kichi". Keine Ehre, wem keine gebührt. „Charliett ist nicht tot. Im Frühling lass ich mir die Titten machen.“ Verzweifelte Versuche, nicht aufzugeben, wofür „Charlie“ stand: Keine Kameraderie mit der Macht, dem „guten Geschmack“, der wohlfeilen, abgewogenen „Meinung“. Währenddessen wird draußen „JeSuisCharlie“ zum Modehit. Selbst der Tod abonniert jetzt das Magazin, das doch immer fast vor der Pleite stand. Die Protagonistin ist derweil eingeklemmt zwischen den Personenschützern, die sie nun rund um die Uhr bewachen.

Es geht nicht. Nach so einem Schock ist „Weitermachen“, einfach so, keine Option. Der Widerspruch zu einer Solidarität, die nichts versteht, ergibt sich von selbst und lähmt.  „Nach dem Tsunami der Gewalt folgt der Tsunami der Unterstützung.“ Jede Nacht quält die Protagonistin derselbe Albtraum: ein Sturz ins Meer. Meurisse zeichnet und ironisiert das mit den Mitteln des Comics: „Platsch“Denn es geht hier nicht um Mitgefühl. Es geht um eine angemessene Sprache. Um Kunst. Die Mutter der Protagonistin bringt es auf den Punkt: „Der Terrorismus ist der Erzfeind der Sprache.“ Während die Zeichnerin daran scheitert, sich wiederzufinden: weitere Massaker im Bataclan und den Cafés von Paris. Es hört nicht auf. Der Therapeut verwandelt sich in einen Frosch, der weiß: „Inzwischen bezeichnet man die Ohnmacht, die einen jeden angesichts einer Flut von Schönheit ergreifen kann, als ´Stendhal-Syndrom.´“ Das, erkennt sie, braucht sie: Schönheit, die eine in Ohmacht fallen lässt.

Die Protagonistin fährt zur Rekonvaleszenz nach Rom in die Villa Medici. Besucht die Vatikanischen Sammlungen, schaut sich die Carravaggios an, die überall rumhängen. Die fragmentierten Körper der antiken Statuen erinnern sie an die Körper der Opfer: In Schönheit erstarrt. Die Ungläubige besucht gerne die unzähligen barocken Kirchen der Heiligen Stadt. Blickt sie nach oben in das Gewölbe des Petersdoms, so erschaut sie nicht, wie die Architekten es planten, Gott (im Himmel?), sondern „das Ende des Tunnels“. Aber auch - weil sie bei Charlie gearbeitet hat - einen riesenhaften Darmverschluss. Gott. Hoffnung. Darmende. Nichts ist ihrem Blick heilig, auch das Schöne nicht. Das tut der Schönheit keinen Abbruch. Denn: Die schöne Welt der Bilder ist eine Welt der Gewaltdarstellungen, auch. Die Kunst zeigt, was ist. Und mehr: Dass, was ist, unter den Augen, durch den menschlichen Willen, durch menschliche Gestaltung schön werden kann. Oder zerstört. Die Option, die die Mörder wählten. Dennoch: Es ist eine Lust, an die Schönheit zu glauben. Dafür kann sich eine entscheiden. Und, zum Beispiel, den schönen Arsch Gottes an der Decke der Sixtinischen Kapelle entdecken.

(Denn: Meurisse, die Malerin und Zeichnerin,  ist - stolze und glückliche - Erbin einer Kultur, in der sich über Jahrhunderte das Recht  und die Fähigkeit erstritten, ermalt und erschrieben wurde - auf Umwegen, gegen Feigenblätter-Widerstände und Common Sense-Appelle, im Disput - alles mit den Mitteln der Kunst in Frage stellen zu dürfen. Auch Heiliges. Erhebendes und Erhabenes. Kann auf seine Lächerlichkeit geprüft werden. Das kann weh tun. Das soll und darf es auch. Und es steht denen zu, die sich selbst nicht schonen. Aber denen uneingeschränkt. Sie schöpfen. Und: Schöpfer_innen können sich irren, zu weit gehen, Unschönes schaffen. Aber: Von den eitlen Gottesanbetern, die ihre Bilderverbote herbeischießen wollen, wird nichts bleiben. Vergesst sie!)

Meurisse´ Protagonistin fällt am Ende nicht - wie angeblich beinahe Stendhal - in Ohnmacht angesichts der brutalen, überbordenden, vielfältigen Schönheit der römischen Kunstwerke. Die Schönheit der Kunst, durch welche die Verluste nicht geschmälert, der Schmerz nicht geleugnet, das Grauen nicht verborgen, sondern gezeigt werden, ermächtigt sie vielmehr, wieder selbst das Schöne zu sehen, ohne sich schuldig zu fühlen.

So endet der Band mit dem ruhigen Bild der Protagonistin, die auf die Arme gestützt am Meer sitzt, und in die Ferne schaut: „Ich habe fest vor, wach zu bleiben, schon auf das kleinste Anzeichen von Schönheit zu achten. Jene Schönheit, die mich rettet, indem sie mir die Leichtigkeit zurückgibt.“



Sonntag, 5. Juni 2016

FALLING FOR LOVE. CONTRAPUNTUALLY. Gegen korrekte Gefühle und für weibliche Freiheit. Die Romane Mary Wesleys


 „You can´t insure an emotion, it´s a pleasure like eating or drinking.“

Quelle: https://victoriacorby.wordpress.com/tag/mary-wesley/

Worüber sie schrieb: Die Freiheit der Frauen im Krieg. Dass Liebe und Monogamie nicht miteinander identisch sind. Aber Liebe stets wehtut. Schwerer, einen Mann zu ertragen, den eine nicht mehr riechen kann, als einen, der sie schlägt. Mary Wesleys Schreiben kennt keine Korrektheiten des Gefühls. Ihre Protagonistinnen sind treu, obwohl oder gerade weil sie nicht nur einem Mann angehören. Sie gehen stur ihren Weg, einen der weder moderne Selbstverwirklichung sucht, noch Selbstverleugnung notwendig macht. Versprechen, die diese Frauen geben, halten sie. Aber sie geben nicht allzu viele. Sie stammen aus zerrütteten Verhältnissen und sogenannten guten Familien. Verwundete Kinderseelen, die zu Frauen werden, die putzen, kochen, huren, um Geld zu verdienen. Denen die Unterscheidung zwischen Gabe und Tauschhandel zentral bleibt, die das bürgerliche Bewusstsein stets verwischt, indem es die Tauschbeziehungen zu moralischen Schuldverhältnissen auflädt. Die tun, was verlangt wird, aber keine Gefühle heucheln. Die viel schweigen und wenig preisgeben. Geheimnisvolle Schattenexistenzen im Dienstleistungsgewerbe oder im Schein-Scheinwerferlicht des bürgerlichen Lebens.

Mary Wesley veröffentlichte ihren ersten Roman „Jumping the Queue“ mit 71 Jahren. Sie stammte aus der englischen Oberklasse und wurde als Mary Mynors Farmar 1912 geboren. In ihrer Kindheit wurde sie von 16 verschiedenen Gouvernanten betreut. Als sie ihre Mutter einmal fragte, warum die Betreuerinnen so häufig wechselten, antwortete diese: „Weil sie dich alle nicht leiden können.“ Sie hatte Kinder von drei verschiedenen Vätern, einem Baron, einem tschechischen Kriegshelden und mit ihrer großen Liebe, dem versoffenen Schriftsteller Eric Siepmann, den sie kurz nach dem 2. Weltkrieg heiratete. Siepmann starb 1970 und ließ seine Frau völlig mittellos zurück. Erst nach seinem Tod begann Wesley ernsthaft zu schreiben. In den 80er und  90er Jahren veröffentlichte sie kurz hintereinander sieben Romane. (Patrick Marnham hat eine sehr lesenwerte, noch von Wesley selbst autorisierte Biographie geschrieben: Wild Mary. A Life of Mary Wesley, VintageBooks, London 2006)

Man hat Mary Wesleys Romane als „Jane Austen with sex“ bezeichnet, was sie lächerlich fand. Ihre scharfen Beobachtungen erinnern tatsächlich an Jane Austen. Wenig haben jedoch ihre verschachtelten, vielschichtigen Plots, die große Zeiträume abdecken und mehrere simultane Handlungsstränge entwickeln, mit Austens stringenter, zielstrebiger Handlungsführung zu tun. Auch erweist sich Wesley als sehr zurückhaltend, wenn es um die Nutzung der Mittel des auktorialen Erzählens geht. Zwar wechselt sie die personalen Perspektiven, aber sie rückt ihren Figuren nicht auf die Pelle. Sie spiegelt vielmehr deren Zurückscheuen vor Nähe und Selbstrechtfertigung in der Erzählhaltung wieder. Es gibt kaum Sätze nach dem Muster von „Sie dachte...“, „Er hoffte,...“. Wesley lässt die Figuren entweder unmittelbar aussprechen, was sie denken, oder überlässt es den Leserinnen, ihre eigenen Schlüsse aus deren Handlungen zu ziehen. Die Schärfe der Dialoge erinnert dabei bisweilen auch in ihrer fast schon sarkastischen Komik an Ivy Compton-Burnetts Romane. Während sich bei Austen stets der Plot wiederholt (ein paar Familien auf dem Land, Heiratskandidatinnen und –kandidaten, das Finden des „richtigen“ Paars), durchziehen Wesleys Romane, die ganz unterschiedliche Geschichten erzählen, sich wiederholende Motive: zwei Männer und eine Frau, dysfunktionale Familien, unklare Vaterschaft, große Altersunterschiede zwischen Paaren, Inzest, Abtauchen in beinahe unsichtbare, aber selbstständige Existenzformen wie Haushaltshilfen, Putzfrauen, Köchinnen. Wesleys Figuren verhalten sich dabei häufig widersprüchlich, ohne unglaubwürdig zu werden. Es ist möglich einen zu lieben und dennoch einem anderen zu verfallen. Eine kann an etwas glauben und dennoch zur selben Zeit etwas anderes für richtig halten. Mary Wesley hat dieses Denken und Handeln in einem ihrer Roman „contrapuntually“ genannt. Auch und gerade ein Leben, in dem eine sich um Treue (zu sich selbst und ihren Versprechungen) müht, verläuft nicht geradlinig. Wesleys Romane erzählen von der Rücksichtslosigkeit der Jugend, der Trauer und den Verlusten des Älterwerdens, den Veränderungen, die an Menschen und Orten zu beobachten sind, gerade jenen, die wir am meisten geliebt haben.

Durch das vergangene Jahr haben mich die Romane Mary Wesleys begleitet. Ich bin dieser Autorin verfallen, wie nur wenige Male zuvor einer: Jane Austen, Virginia Woolfe, Barbara Pym, Alice Munro. Es ist vielleicht kein Zufall, dass alle diese Autorinnen weiblich sind und in englischer Sprache schreiben. Als der unwiderruflich letzte ihrer Romane von mir „ausgelesen“ war, fiel ich in ein tiefes Loch, fast wie nach dem Ende einer heftigen und verzehrenden Liebesleidenschaft. Erst jetzt, ein halbes Jahr später, habe ich eine Distanz gefunden, die mich über diese Romane schreiben lässt.

Als Appetizer ein paar „Klappentexte“ zu ihren Romanen (die der Vielfalt der Erzählebenen und der Ausgestaltung der verschiedenen Figuren sowie den erzählerischen Verschränkungen zwischen den Romanen keineswegs gerecht werden). Die Links führen jeweils zur E-Book-Ausgabe des Romans:


„´That´s were you´re wrong´, said Polly. We all lived intensly. We did things we never would have done otherwise. It was a very happy time.´“

Wesleys erfolgreichster Roman erzählt von den fünf Nichten und Neffen Richard und Helena Cuthbersons, die sich im Sommer 1939, kurz vor dem Beginn des zweiten Weltkriegs, ein letztes Mal bei ihrem Onkel und ihrer Tante in Cornwall treffen. Erst im Jahre 1980 kommen sie zu einer Beerdigung wieder im Landhaus zusammen. Der Ausbruch des Krieges und das Chaos, das er verursacht, beschleunigen das Erwachsenwerden der jungen Menschen. Oliver ist hoffnungslos in seine Cousine Calypso verliebt. Polly liebt die Zwillingssöhne des lokalen Pastors, der ein deutsch-jüdisches Migrantenpaar aufgenommen hat, dessen Sohn in einem Konzentrationslager verschwunden ist. Sophy, die jüngste, schwärmt für Oliver, der sie kaum beachtet. Die Befreiung aus konventionellen Zwängen geht über Missbrauch, Begehren und Leichen. Die Tante wird sich den deutschen Musiker als Liebhaber nehmen, Polly schwanger werden und nicht wissen, von welchem der Zwillinge, Oliver wird desillusioniert aus dem Spanischen Bürgerkrieg zurückkehren und Calypso wird sich in den gewalttätigen, reichen Ehemann verlieben, den sie nur um des Geldes willen genommen hat. Am Ende des Romans stehen Calypso und Sophy in der Küche und öffnen eine Flasche Wein. Calypso, die Schöne, „looked quite old but a lot more human since her stroke than the girl on the camomile lawn.“



„´Why do woman always do expect this one-at-a-time business? It makes no sense.´“

In die „Bändigung der Pfauen“ steht Hebe im Mittelpunkt, die als Waise bei ihren Großeltern aufgewachsen ist. Auf Hebes Schwangerschaft reagieren die Großeltern, Onkeln und Tanten mit Empörung und der Organisation einer Abtreibung. Hebe verlässt jedoch vorher ihr Zuhause. Zwölf Jahre später lebt sie allein mit ihrem Sohn Silas im Westen Englands. Um ihrem Sohn den Besuch einer teuren Privatschule zu ermöglichen, arbeitet Hebe als Köchin in privaten Haushalten und schläft, um sich zusätzliche Einnahmen zu verschaffen, mit den Söhnen oder Schwiegersöhnen ihrer Kundinnen.  Hebes Privat- und Arbeitsleben sind strikt voneinander getrennt; die Arbeitgeber kennen ihre Adresse nicht, sie vereinbart Löhne und Arbeitszeiten stets nur über eine Agentur mit ihnen. Dieses wohlgeordnete Leben gerät in Gefahr, als sich einer von Hebes Kunden in sie verliebt, ein anderer sich als Vater eines Schulfreundes ihres Sohnes herausstellt und gleichzeitig der leibliche Vater des Sohnes beginnt nach Hebe zu suchen. Die Bändigung der „Pfauen“, jener Männer, die Hebes erotische Dienste gekauft haben, aber glauben, sich mit diesem Deal auch die Realisierung ihrer gefühligen, romantischen Ausbruchsträume aus dem bürgerlichen Leben erworben zu haben, wird für Hebe im Verlauf des Romans immer schwieriger und für die Leserin immer komischer.


„`I was under the delusion that what I wanted was a lover, a pleasure man. I thought I might try Victor or Fergus or both. (...) Stuck under that lorry I realised that it wasn´t just pleasure I wanted, I want the lot. Right?“

In diesem Roman geht es, wie der Titel schon sagt, um die Unentschiedenheit der Poppy Carew. Er beginnt mit dem Tod ihres Vaters, der sich lachend von ihr und dem Leben verabschiedet, als er hört, dass ihr Freund, den er nie leiden konnte, sie verlassen hat. Letzter Wunsch des Vaters war es, dass sie eine  „lustige“  (fun) Bestattung für ihn organisieren solle. Sie findet ein seltsames Bestattungsunternehmen mit Pferden und altem Fuhrwerk, dass zwei junge Männer gerade gegründet haben. Es stellt sich heraus, dass ihr Vater ein Vermögen hinterlässt (beim Pferderennen und durch Erbschaften von reichen Liebhaberinnen erworben) und sie ihn kaum gekannt hat. Ihr Ex-Freund versucht sie zurückzugewinnen, um an das Geld zu kommen. Die beiden Bestatter verlieben sich in sie und ein junger, von der Liebe enttäuschter Schriftsteller, der seine Tante Calypso zur Beerdigung begleitet hat, kann Poppy nicht vergessen. Poppy lässt sich von ihrem Ex-Freund entführen, begleitet ihn auf eine Geschäftsreise in ein diktatorisch regiertes Land in Nordafrika, wo sie Zeugin einer Hinrichtung wird. Die meiste  Zeit verbringt sie jedoch im Hotelzimmer, während ihr Ex-Freund mit seinem Geschäftpartner Bordelle besucht. Schließlich kommt es zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung und Poppy flieht. Der Roman endet mit einem grässlichen Lastwagen-Unfall und einer Entscheidung.



„So you are married boring old Ned and are stuck with him and protect him and mother him and defend him from blackmail.“

Rose liebt den unvermögenden Mylo Cooper, aber heiratet auf Wunsch ihrer Eltern den Landbesitzer Ned Peel. Rose liebt den Mann nicht, aber den Landsitz „The Slepe“, der ihm gehört. 48 Jahre dauert Rose Ehe mit Ned und ihr Verhältnis mit Mylo. Niemand in Rose Umgebung, nicht einmal das bösartige, inzestuöse Geschwisterpaar Emily und Nicolas Thornby, ahnt in all den Jahren, dass die „anständige“ Mrs. Peel stets einen Liebhaber hatte. Ihr Sohn und ihre Schwiegertochter übernehmen nach Neds Tod „The Slepe“ und Rose verlässt den Landsitz mit ganz wenigen Besitztümern. In einem Hotelzimmer erinnert sie sich an die vergangenen Jahre und das Versprechen, das sie Ned in der Hochzeitsnacht gegeben hat: ihn niemals zu verlassen. Mit 67 ist Rose nun frei, aber sie hat keine Ahnung, was sie mit dieser Freiheit anfangen soll.



„There was nothing to build on except imagination.“

Der zwanzigjährige Claude Bannister schmeißt sein Studium hin und beschließt Schriftsteller zu werden. Nach einem Konzert wird er der 45jährigen Laura Thornby vorgestellt. Laura nimmt seine kindlichen Träume ernst, organisiert ihm eine Bleibe, liest seine Entwürfe, lässt sich von ihm anbeten und verführt ihn. Dabei bleibt sie stets reserviert, nimmt seine Liebesschwüre scheinbar ungerührt entgegen. Doch Laura, die bisher immer nur kurze Affären hatte, beginnt Claude zu lieben. Die Lektüre seiner Romanentwürfe zeigt ihr jedoch, dass seine weiblichen Hauptfiguren immer weniger ihrem Bild gleichen, dass sie die „zweite Geige“ wird, und er sich in seiner Imagination längst von ihr zugunsten einer jüngeren Frau verabschiedet hat. Ihr jedoch gelingt es nicht mehr, „to reduce Claude to similar, mangeable size, find a secure cubby-hole for him.“



„In old age Flora would smile, remembering the child who believed that love was for one person, for ever, for Happy Ever After.“

Mitte der zwanziger Jahre verbringen Mr. und Mrs. Trevelyan mit ihrer zehnjährigen Tochter Flora ihren Urlaub an der bretonischen Küste. Die beiden verbergen weder vor dem Kind noch vor den anderen Urlaubern, dass sie die Tochter am liebsten los werden möchten. Sie planen eine Rückkehr nach Indien ohne das Kind, das sie in irgendeiner bezahlbaren Schule unterzubringen versuchen. Das kleine Mädchen verliebt sich in seiner Verlassenheit gleich in drei Jungen, die ebenfalls an der bretonischen Küste Urlaub machen und die sie in den folgenden Jahren immer einmal wiedersehen wird. Die nächsten sieben Jahre verbringt sie in einem Internat, mit siebzehn soll sie ihre Eltern in Indien besuchen, taucht aber unter und wird Hausmädchen in London. Sie führt ein zurückgezogenes, aber eigenständiges Leben als Hausangestellte und hat über die Jahre mit den drei Jungen aus der Bretagne bei verschiedenen Gelegenheiten Sex.



„You can love after only one meeting.“

Das ist einer der düstereren Romane von Mary Wesley. Während des Weltkrieges hat Henry Tillotson eine unaustehliche Frau geheiratet, die er heimbringt nach Cotteshaw in Westengland. Später stellt sich heraus, dass sein Vater ihn in einem Brief gebeten hatte, diese Frau, die in Ägypten festsaß, sicher nach England zu bringen. Sie macht Henry das Leben zur Hölle,  verlässt fast nie ihr Schlafzimmer, außer um ihn vor seinen Freunden zu blamieren. Henry verliert jedoch niemals die Geduld. Zwei Paare besuchen in den folgenden Jahrzehnten immer wieder Cotteshaw. Henry hat Affären mit beiden Frauen. Das Thema der Ehe, die um der Sicherheit willen geschlossen wird, durchzieht diesen Roman. Die beiden Paare heiraten aus einer Mischung aus Anziehungskraft, Machtansprüchen und Versorgungswünschen. Beide Frauen werden gleichzeitig (wahrscheinlich von Henry) schwanger.



„It´s irrational, it was an obsession. I hated Giles, hated him, hated him; and Christy I loved. But he had Gile´s hair, Gile´s eyes, Gile´s mouth, Gile´s expression, his gestures! He was Giles in miniature. The likeness has grown in my mind until it is monstrous and I cannot see my little boy any more.“

Julia Piper hat Mann und Sohn bei einem Autounfall verloren. Später stellt sich heraus, dass der Ehemann Liebhaber ihrer Mutter war. Julia hat er vergewaltigt und die Schwangere dann in die Ehe gezwungen. Die Mutter gibt Julia die Schuld am Verlust ihres Liebhabers und ihres Enkels. Julia arbeitet als Putzfrau in London. Die Wohnungen putzt sie, wenn ihre Auftrageberinnen nicht anwesend sind, so dass sie fast keine sozialen Kontakte hat. Einer ihrer Kunden, Sylvester Wykees, hat Julia auf einer Zugreise zufällig gesehen, ohne zu ahnen, dass sie seine Wohnung putzt. Er ist fasziniert von ihr und versucht mehr über die junge Frau herauszufinden. Dabei lernt er einen Stalker kennen, der Julia mit nächtlichen Anrufen drangsaliert und bedroht.


„´Yes, yes, but she knows and he knows it was to repair the old ego when her husband strayed -´´And the husband?´´Oh, I expect he knew, they were all friends.“

Die 17jährige Juno Marlowe ist verliebt in die Brüder Jonty und Francis, bei deren Familie sie und ihre Mutter nach dem Tod des Vaters Unterschlupf gefunden haben. Beide werden zu Beginn des 2. Weltkrieges als Soldaten eingezogen. Zum Abschied haben sie gemeinsam Sex mit Juno, die sie danach einfach in London auf der Straße stehen lassen. Während eines Luftangriffs findet sie Unterschlupf im Haus von Evelyn Copplestone. Dieser stirbt an Herzversagen,  als sie während des Angriffs bei ihm ist. Auf sich gestellt reist sie in den Westen Englands zu Evelyns Vater. Dort arbeitet sie als Erntehelferin und entdeckt schließlich, dass sie schwanger ist. Trotz des großen Altersunterschieds verlieben sich Julia und Evelyns Vater. Viele Jahre später trifft sie mit ihrer Familie in einem Restaurant Francis wieder, der sie einst als „part of the furniture“ bezeichnet hatte

*** 


Nach 1997 veröffentlichte Mary Wesley keinen weiteren Roman mehr. Als sie gefragt wurde, warum sie mit dem Schreiben aufgehört habe, antwortete sie: „If you haven´t got anything to say, don´t say it.“ Zwischen 1984 und 1997 hatte sie mehr zu sagen, als die meisten in einem langen Leben. Oder andersrum: Sie hatte sich die glücklichen und schmerzhaften Erfahrungen eines langen, wilden Lebens aufgespart, um in diesen wenigen Jahren Romane zu schreiben, die die Fülle ganzer Leben nicht ausbreiten, sondern aufscheinen lassen: Frauenleben jenseits von Klischees und Männerphantasien, bürgerlicher Sexualmoral oder ausgestellter Selbstermächtigungsbehauptungen. Jeder ihrer Romane ist auf diese Weise ein Plädoyer für weibliche Freiheit. 

Mary Wesley starb am 30. Dezember 2002.